Oskar Lubin hat in der Graswurzelrevolution Nr. 418 deutlich und mit Schärfe auf meinen GWR 417-Artikel "Zurück zur Natur des Menschen" reagiert. Das war zu erwarten. Ich möchte deshalb vorausschicken, dass ich mir kaum etwas Anregenderes vorstellen kann, als mit einem so hervorragenden und informierten Genossen wie Lubin öffentlich ein Sträußlein auszufechten.
Wer fürchten sollte, wir würden brüllend und (im übertragenen Sinne) mit den Fäusten aufeinander losgehen – frei nach dem Satz des Kabarettisten Wolfgang Neuss: „Wir können hier richtig deutsch diskutieren, wir haben Verbandszeug im Hause“ – der darf sich beruhigt zurücklehnen. Sollte es im Folgenden doch einmal hart zur Sache gehen, so wird es eben genau dies tun: zur Sache gehen. Niemals zur Person.
Trauriger ist, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob eine neuerliche Wortmeldung meinerseits überhaupt Sinn macht. Im schlimmsten Fall wird sie Lubin, dessen Position ja sehr eindeutig ist, zwingen, seine Ansichten noch einmal in anderen Worten zu wiederholen. Das wäre für ihn, mich, und alle, die unserer Diskussion folgen, langweilig. Daran, publizistisch das letzte Wort zu haben, ist mir nichts gelegen. Hinzu kommt, dass meine Position nicht einmal im Ansatz so eindeutig ist wie die von Lubin. Nichts ist fertig, fix oder in Stein gemeißelt. Ich hege und nähre lediglich Zweifel, sowohl an der postanarchistischen Orthodoxie als auch an der traditionsseligen Theorieverweigerung einiger meiner Genossinnen und Genossen, und bin zugleich der Ansicht, dass es für das anarchistische Denken an der Zeit ist, sich neu zu orientieren, um endlich die Relevanz im Mit- und Gegeneinander der verschiedenen Ansätze zur Veränderung zu erlangen, die ich ihm wünschen würde. Jede Veränderung beginnt mit Zweifeln am Bestehenden. Deshalb wird das Leitmotiv meiner Antwort hoffentlich kein lautes: „Ich meine, dass…“ sein, sondern ein schüchternes: „Ich frage mich, ob…“.
Eine anarchistische „Anthropologie von unten“?
Die Frage, die meinem Artikel „Zurück zur Natur des Menschen“ zugrunde lag, war, ob es sinnvoll sein könnte, eine anarchistische „Anthropologie von unten“ zu entwickeln. Eine philosophische Anthropologie wohlgemerkt, denn soziale Anthropologien anarchistischer Couleur gibt es mittlerweile genug und übergenug. Ihr politischer Nutzen allerdings – dies sei mit allem Respekt vor Autoren wie David Graeber oder Ghassan Hage gesagt – erscheint mir als eher gering. Das Wissen darum, dass es in der Menschheitsgeschichte immer wieder herrschaftsfreie Gesellschaften gab, ist gewiss lehrreich und erhellend, nutzt einem aber nicht viel, wenn es um die Frage geht, wie eine solche Gesellschaft im postindustriellen Westeuropa des 21. Jahrhunderts zu organisieren wäre. Unter einer „Anthropologie von unten“ versteht man im Allgemeinen den Versuch, eine Antwort auf die alte philosophische Frage: „Was ist der Mensch?“ zu geben, die auf übergeordnete Kategorien (wie etwa Gott) verzichtet und stattdessen von den natürlichen Gegebenheiten ausgeht – soweit ihr dies denn möglich ist. Bis jetzt wird dieses Feld vor allem von den entgegengesetzten Disziplinen der Soziobiologie und Kybernetik beackert – einflussreichen und ernst zu nehmenden Disziplinen des menschlichen Denkens, natürlich, aber in ihren politischen Konsequenzen oft eher gruselig. Sinn einer anarchistischen „Anthropologie von unten“ wäre es, zu verdeutlichen, dass der Schutz der Umwelt und damit die Rettung des Lebens auf diesem Planeten nicht ohne radikale Veränderungen der politischen und sozialen Ordnung zu haben sein werden; also quasi eine Verbindung von radikalökologischen Positionen mit dem sozialrevolutionären Gedankengut des Anarchismus herzustellen. Auf diese Idee kam ich nach einem etwas verstörenden Gespräch mit einem Freund, einem promovierten Philosophen und hochkritischen Geist, der, als ich versuchte, ihm (in meinem furchteinflößend laienhaften Verständnis) die Gefährlichkeit bestimmter Entwicklungen des Klimas zu erläutern, in tiefstem Desinteresse die Schultern zuckte, murmelte: „Ich bin halt kein Öko…“ und mich stehen ließ. Es geht hier gar nicht darum, dass ich meinem armen Freund womöglich einfach nur auf den Wecker gefallen bin. Seine Ehre ist nicht angetastet. Wer aber heute noch glaubt, Natur- und Umweltbewusstsein sei nichts weiter als ein politisches Orientierungsangebot unter vielen auf dem bunten Bazar der politischen Identitäten, der wird noch staunen, wie sehr sich das ungeliebte Thema ihm künftig aufnötigen wird. Noch bedenklicher finde ich, dass in derartigen Verweigerungen ein neokolonialistischer Hochmut steckt; die Weigerung nämlich, anzuerkennen, was die wesentlich vom reichen Norden und Westen verursachte Klimakatastrophe in anderen Regionen der Welt anrichtet. Chandran Nair, Gründer und Direktor des Global Institute for Tomorrow (Gift) in Hongkong, hat erst vor kurzem in einer kritischen Auseinandersetzung mit Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ auf diese Scheeläugigkeit des Westens und Nordens hingewiesen – in Formulierungen, die (in aller Demut) fast von mir hätten stammen können: „Die schärfste Form der Ungleichheit wird […] oft übersehen: die zwischen den Menschen auf der untersten Stufe der ökonomischen Leiter und denen, die es gar nicht auf die Leiter schaffen. Ich meine damit jene hunderte Millionen Menschen in aller Welt, die nicht einmal über die elementarsten Ressourcen verfügen: Wohnraum, ausreichendes und unbedenkliches Essen, sauberes Wasser, eine Toilette. […] Ihnen ist nicht geholfen, wenn das ökonomische Kapital weiter anwächst, sondern nur, wenn das Naturkapital geschützt und gerechter verteilt wird“. Ohne Reflexion über eine wie auch immer geartete Natur des Menschen aber, in diesem Fall etwa seiner elementarsten Bedürfnisse, wird es in keiner Anthropologie der Welt abgehen. Das zu Recht populäre und hoffnungsstiftende Konzept des „Buen vivir“ [‚Gut leben‘], das auf indigene Kulturen zurückgeht und in Ecuador inzwischen sogar verfassungswertig ist, ist ja auch nichts anderes als ein Nachdenken darüber, welche natürlichen Bedürfnisse des menschlichen Lebens erfüllt werden können, ohne den Fortbestand des Lebens auf diesem Planeten zu gefährden. Ich würde gerne auch die Stimme des Anarchismus in diesem Kanon zu hören bekommen.
Oskar Lubins Kritik und meine Positionen
Lubin nun bezweifelt, dass die Berufung auf die Natur des Menschen nötig sei, um eine solche öko-anarchistische Politik voranzubringen. Für diesen Zweifel habe ich Verständnis. Ich bin mir selbst nicht sicher, ob es nicht andere, bessere Wege gibt, ein Umdenken (nicht nur) in den Reihen der Anarchistinnen und Anarchisten zu bewirken – so es nicht längst schon stattgefunden hat (was ich, gestützt auf leidige Erfahrung, allerdings bezweifle). Lubins Feststellung allerdings, dass sich aus natürlichen Gegebenheiten der menschlichen Existenz nicht automatisch politische Konsequenzen oder Forderungen ergäben, ist – Verzeih‘ mir, Oskar! – der schwächste Teil seiner Kritik: Ich habe ja nirgends behauptet, dass sich irgendetwas aus irgendetwas natürlicher- oder zwangsweise ergeben würde. Jede Bedeutung ist eine Zuweisung, beziehungsweise das Resultat eines konfliktiven Aushandlungsprozesses; eines „kulturellen Kampfes“, wenn man so will. Das ist im Postanarchismus nicht viel anders als in der alten Naturphilosophie. Was ich allerdings sehr wohl behauptet habe und weiterhin behaupten werde, ist, dass sich aus den natürlichen Gegebenheiten der menschlichen Existenz politische Forderungen ableiten lassen, und dass es sinnvoll sein könnte – merke: könnte – dies im anarchistischen Kontext auch zu tun. Zwei Gründe führen mich zu dieser schnöden Starrköpfigkeit. Der eine ist eher pragmatisch, der andere perspektivisch.
1. Pragmatische Gründe
Meine pragmatischen Überlegungen sind rasch abgehandelt: Jeder, der schon einmal versucht hat, einer interessierten Seele die Weigerung des Postanarchismus zu erläutern, sich auf die Natur des Menschen zu berufen, weiß, dass er dafür viel Zeit braucht. Man muss kilometerweit ausholen, um auch nur ein minimales Verständnis zu vermitteln. Selbst im Hörsaal ist dergleichen mühsam. Bei Genossinnen und Genossen ohne akademische Bildung ist es sogar oft sinnlos. Dass ich die Position des Postanarchismus zur Natur des Menschen eine „kauzige Marotte“ genannt habe, bezog sich also nicht in erster Linie auf die Position an sich, ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit, sondern auf die Wirkung, die sie sogar bei durchaus wohlmeinenden Zuhörerinnen und Zuhörern erzeugt. Natürlich kann und sollte man sich stets die Mühe machen, auch bockige oder sperrige Meinungen zu vertreten, wenn man sie denn für richtig hält. Fest steht aber, dass sich – Stand jetzt – der Postanarchismus, sogar innerhalb der internationalen anarchistischen Bewegung, in einem akademischen Elfenbeinturm zu isolieren scheint, in dem – und dies kommt erschwerend hinzu – keineswegs alle die gleichen gründlichen Kenntnisse besitzen wie Lubin. Wer einfach nur mit Hitze in eine Diskussion hinein brüllt: „Es gibt keinen prädiskursiven Körper!“, der dürfte den politischen Meinungsbildungsprozess nur wenig vorangebracht haben. Verdinglichte Denkkategorien sind in der Postmoderne auch nicht attraktiver als in anderen Zeiten oder Strömungen. Wie unendlich viel leichter haben es da jene, die (meist aus sehr anderen politischen Zusammenhängen) keinerlei Hemmungen haben, noch mit den aberwitzigsten Rückgriffen auf die Natur des Menschen um sich zu werfen! Sie werden mühelos verstanden, und können die Dringlichkeit ihrer Handlungsaufforderungen gut vermitteln. Eine anarchistische „Anthropologie von unten“ müsste versuchen, den groben Unfug auszusortieren, und gleichzeitig anschlussfähig für breitere gesellschaftliche Schichten zu werden. Und damit wäre ich auch schon bei meinen zweiten, perspektivischen Überlegungen.
2. Perspektivische Gründe
Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass die Relevanz natürlicher Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Existenz in der Gesellschaft, Kultur und Politik der Zukunft zunehmen wird – und das keineswegs in einem Sinne, der Anarchistinnen und Anarchisten Freude machen wird. Das oben zitierte Gebrüll, es gebe keinen „prädiskursiven Körper“, ist ja zumindest stark diskussionsbedürftig. Mir persönlich gefällt in diesem Zusammenhang die Definition eines der Großen der poststrukturalistischen Forschung zur Sexualität: Thomas Laqueur. Ich muss vorwegschicken, dass die poststrukturalistische Theorie (mit Michel Foucault an der Spitze) ihre Entdeckung der Diskurse, also jener Empfindungs-, Denk-, Rede- und Handlungsordnungen, die unser Leben bestimmen, ohne dass uns dies notwendigerweise bewusst wäre, wesentlich am genealogischen Studium der Humanwissenschaften entwickelt hat – einfacher ausgedrückt: an der Geschichte der Medizin mit ihren zum Teil dramatisch wechselnden ‚Wahrheiten‘. Meine polemische Frage, wie man eigentlich an der Natur des Menschen zweifeln könne, wo es eine Medizin gibt, wäre, so betrachtet, eine ziemlich einladende Lücke in der Mauer meiner Argumentation gewesen. Aber dies nur nebenbei.
Thomas Laqueur nun hat in der Gruppe der poststrukturalistischen Großtheoretikerinnen und -Theoretiker einen Sonderstatus. Denn er ist Diskurstheoretiker und Mediziner. Schon sein Vater war ein gefeierter wissenschaftlicher Pathologe. Den menschlichen Körper und seine Funktionen eine bloße „Manifestation“ zu nennen, wäre ihm deshalb nicht über die Lippen gekommen. In seinem lesenswerten Buch „Making Sex“ fasst er seine Position zusammen: Es gibt selbstverständlich einen prädiskursiven, physischen Körper, nämlich jenen, in dem wir Leben oder den der Arzt, Chirurg oder Pathologe vor sich hat. Dieser Körper hat zweifellos seine eigenen, bio-physischen Gesetzmäßigkeiten. Sobald wir aber versuchen, uns über diese Gesetzmäßigkeiten zu verständigen, ihre Funktionen zu erfassen, sie zu bewerten oder gar gesellschaftliche Schlüsse aus ihnen zu ziehen, werden gesellschaftliche Diskurse und Machtstrukturen wirksam. Ich denke, mit einer solchen Definition sollte auch Lubin gut leben können.
Aber genau hier liegt meiner Ansicht nach das Problem: Die Position des Postanarchismus zur Natur des Menschen erinnert mich ein wenig an die der antiken Skeptiker. Deren Überzeugung lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen: „Es gibt nichts. Gäbe es etwas, wäre es nicht erkennbar. Wäre es erkennbar, wäre es nicht darstellbar“. Wo immer Postanarchistinnen und Postanarchisten – grundsätzlich ja durchaus richtig – darauf beharren, die physische Existenz des Menschen nie geleugnet zu haben, bin ich immer versucht, in Klammern (und in ihrem Geiste) ein kleines, rotes: „Ja ja“ dahinter zu setzen, durchaus im dem Sinne von: „Leck mich am A…!“. Denn für postanarchistische Überlegungen spielt diese Physis ja gerade keine Rolle. Hat man aber die Existenz der physischen Wirklichkeit des Tieres Mensch einmal großmütig eingeräumt: Wie wahrscheinlich ist es dann noch, dass diese physische Wirklichkeit keinen Einfluss auf das Leben, die Wahrnehmung und möglicherweise auch die Politik menschlicher Gesellschaften hat – oder haben sollte? Die Tatsache, dass Diskurse unsere physische Selbstwahrnehmung steuern, bedeutet ja nicht automatisch, dass Medizin, Psychologie, Hirn- oder Genforschung nichts als dummes Zeug von sich geben oder gegeben haben. Oskar Lubins Behauptung, dass, wer von der Natur des Menschen handle, stets etwas Statisches, Unveränderliches, dementsprechend auch politisch nicht zu Wandelndes meine, ist wissenschaftlich nicht länger zeitgemäß. In den modernen Naturwissenschaften wird beispielsweise ein Naturgesetz inzwischen definiert als ein Gesetz, das so lange gilt, bis ein besseres gefunden wird. Das menschliche Verständnis natürlicher Prozesse wird selber als Prozess begriffen und ist keineswegs homogen. Wirklich bedrohlich jedoch erscheint mir, dass die gefährlichsten Gegner allen wünschenswerten sozialen Wandels längst freimütigen und intensiven Gebrauch von den humanwissenschaftlichen Erkenntnissen über die Natur des Menschen machen, und dies mit einschüchterndem Erfolg. Rainer Mausfeld, Professor für Psychologie an der Universität Kiel, berichtet zum Beispiel in seinem von Herzen empfohlenem Vortrag: „Warum schweigen die Lämmer?“ von einem interdisziplinären Kongress, der an seiner Universität abgehalten wurde, um Techniken der psychologischen Kriegsführung auszutauschen. Techniken, die, so Mausfeld, bisher überall auf dem Planeten mit bedrohlicher Effizienz funktioniert haben. Was anders sollte dies bedeuten als einen Hinweis auf die Existenz einer Natur des Menschen, die politisch mehr als relevant ist? Es ist hier leider nicht der Raum, noch weitere Beispiele anzuführen. Schon der alte Sigmund Freud behauptete immerhin in einer berühmten Passage über die „Kränkungen“, die dem menschlichen (man ist versucht zu sagen: europäischen) Selbstbewusstsein im Laufe seiner Geschichte zugefügt worden seien, deren schlimmste habe eigentlich die Psychologie zu verantworten. Sie habe mit ihrer Entdeckung des Unbewussten den Menschen bewiesen, „dass sie nicht einmal Herr im eigenen Haus seien“. Die simple Verneinung des Postanarchismus zur Natur des Menschen erscheint mir für die Auseinandersetzung mit derartigen Entwicklungen und Bedrohungen skrupelloser Herrschaftstechniken als wenig nützlich. Eine anarchistische „Anthropologie von unten“ müsste sich kritisch an aktuellsten Entwicklungen der Humanwissenschaften orientieren, wohl wissend, dass diese immer vorläufig sind, diese aber in einen emanzipatorischen Bedeutungszusammenhang stellen. Eine Art „philosophischer Kropotkin im 21. Jahrhundert“ also? Warum eigentlich nicht?
Das verlorene Bewusstsein für natürliche Zyklen
Ich möchte abschließend noch auf Oskar Lubins spöttische Frage eingehen, was das denn für „natürliche Zyklen“ sein sollten, von denen ich mir wünschen würde, dass die Menschen des reichen Nordens und Westens sie wieder bewusster als Teil ihres Lebens wahrnehmen würden. Ich muss dazu etwas ausholen: Man kann, extrem vereinfacht, das Verhältnis des europäischen Denkens zur Natur in drei Phasen einteilen. In der Antike wurde im eigentlichen Wortsinn Naturphilosophie betrieben. Die Natur war die allumfassende, ewige und unveränderliche Ordnung, in die die Menschen sich einzufügen und nach deren Regeln sie zu leben hatten, wollten sie ein „rechtes Leben“ führen. Der begrenzte Kreis der menschlichen Schöpfungskraft, beispielsweise die Stadtkultur der attischen Polis, veränderte in den Augen der griechischen Philosophie die ewige Ordnung der Natur nicht. Auch wenn die Wirklichkeit häufig anders aussah. In der frühen Neuzeit änderte sich mit René Descartes das Bild. Im frühen Rationalismus wurde für „den Menschen“ eine Stellung außerhalb der Natur beansprucht, gleichsam in einer konfliktiven Spannung und auf Augenhöhe mit ihr. Deshalb lautet Descartes berühmter Satz: „Ich denke, also bin ich“, und nicht etwa: „Ich atme, also bin ich“, oder, um die jüngst veröffentlichte Autobiographie von Martin Walser zu zitieren: „Ich huste, also bin ich“. Es waren dann die bürgerliche Aufklärung und (vor allem) der Siegeszug der angewandten Naturwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert, die das Verhältnis endgültig umkehrten. Von nun an wurde für den Menschen ein Platz nicht allein außerhalb, sondern oberhalb der Natur beansprucht. Dieser Anspruch besteht bis heute. Der entfesselte Kapitalismus des beginnenden 21. Jahrhunderts verspricht sogar eine zweite, bessere, bereinigte, menschengemachte Natur, ein funkelndes, magisches (und natürlich teures) „Produkt Natur“, dass alle Wünsche zu erfüllen verheißt, die die natürlichen Grenzen der Vergangenheit noch behindert hatten. Egal, ob in einer virtuellen Scheinwelt am Computer oder in den Behandlungszimmern der pränatalen Diagnostik. Ein natürlicher Zyklus, für den ich mir wieder ein größeres Bewusstsein wünschen würde, wäre beispielsweise der des Werdens, Vergehens und Neuentstehens allen natürlichen Lebens – also der natürlichen Begrenztheit aller Existenz. Denn was, bitteschön, bedeutet der aberwitzige Siegeszug aller möglichen und unmöglichen Anti-Aging-Produkte, oder die Tatsache, dass sich mittlerweile schon Sechzehnjährige vor schönheitschirurgischen Kliniken drängeln, um sich Falten (!) entfernen zu lassen anderes als die Weigerung, die simple Tatsache, zuzugeben, dass wir nun einmal von Natur aus älter werden und sterben? Dass also die Spanne unseres Lebens endlich ist?
Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Wäre es nicht nützlich, wieder einzusehen, dass die natürliche Welt nicht unser privates Wohnzimmer ist? Ein Ort grenzenloser und beliebig verfügbarer Bequemlichkeit? Ich kann die Gelegenheiten schon nicht mehr zählen, an denen mir (vor allem) junge Menschen freudestrahlend eröffneten, sie fänden es großartig, wenn es in Deutschland „das ganze Jahr über Sommer wäre“ – eine ziemlich unverholene Anspielung darauf, dass sie persönlich die Klimakatastrophe nicht im mindestens störe. Solange sie Sonnencrème hätten.
Ich überlasse es der Phantasie meiner Leserinnen und Leser, sich die politischen Konsequenzen eines solchen Wirklichkeitsverlustes auszumalen. Ich jedenfalls könnte noch lange so fortfahren, mit weiteren Beispielen, eines erschreckender als das andere. Die überlebensnotwendige radikale ökologische und soziale Wende erscheint mir unter diesen Umständen als unmöglich.
Fazit
Ob freilich ausgerechnet meine verstiegene Idee einer anarchistischen „Anthropologie von unten“ ein Weg sein könnte, den bitter nötigen Veränderungen unserer Zeit näher zu kommen – wer kann das wissen?
So bleibt mir abschließend nur, Oskar Lubin noch einmal dafür zu danken, dass er mich gezwungen hat, meine diffusen Gedanken ein wenig zu ordnen, und für seine fundierte Kritik an meinem Artikel. Ich bin bereit, zu konzedieren, dass Lubin möglicherweise Recht hat, und ich Unrecht. Aber ein wenig quer zu denken hat auch im Anarchismus noch niemandem geschadet. Sollten sich noch andere an unserem Disput beteiligen wollen, würde mich das natürlich sehr freuen.
Joseph Steinbeiß