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Ein Attentat als Nicht-Erinnerungsort

| Martin Baxmeyer

Patrick Eser, Stefan Peters (Hg.), El atentado contra Carrero Blanco como lugar de (no-)memoria. Narraciones históricas y representaciones culturales, Frankfurt/M., Madrid (Vervuert, Iberoamericana) 2016 (La Casa de la Riqueza. Estudios de la Cultura de España, 34).

Nach einer berühmten Formulierung des Historikers Javier Tusell ist Regierungspräsident Admiral Luis Carrero Blanc „die graue Eminenz der Franco-Diktatur“, die Spanien seit dem Sieg im Bürgerkrieg 1939 beherrschte.

Am 20. Dezember 1973 kehrte Carrero Blanco wie jeden Morgen von der Messe in der Kirche San Francisco de Borja in Madrid zurück. Als sein Wagen gegen 9:30 Uhr in die Calle Cuello im Stadtteil Salamanca einbog, explodierte unter dem Straßenpflaster eine Bombe.

Der tonnenschwere gepanzerte Ford Dodge 3700GT wurde 30 Meter in die Luft geschleudert, flog über ein vierstöckiges Haus und stürzte im Innenhof eines Klosters wieder herunter.

Bei dem Anschlag starben Carrero Blanco, sein Chauffeur José Luís Pérez Mogena und sein Leibwächter, Polizeiinspektor José Antonio Bueno Fernández.

Die Explosion riss ein gigantisches Loch in die Straße, schleuderte geparkte Autos gegen Hauswände, zerstörte unzählige Fenster, verletzte aber wie durch ein Wunder keine weiteren Menschen. Zu dem Anschlag bekannte sich das Kommando Txikia der baskischen Terrororganisation ETA, benannt nach Eustaquio Mendizábal, alias Txikia, einem Kommandeur der Gruppe, der kurz vor dem Attentat bei einer Schießerei mit der Polizei getötet worden war. Der Anschlag in der Calle Cuello war das erste Attentat der ETA außerhalb des Baskenlandes, und ihr mit Abstand spektakulärstes. Der Mord an dem als Folterer berüchtigten Chef der Politischen Polizei von Guipúzcoa (einer der drei Regionen des Baskenlandes) Melitón Manzanas im Jahr 1968 war tatsächlich erst der erste mörderische Anschlag der ETA überhaupt gewesen.

Die Rolle Carrero Blancos

Mit Carrero Blanco verlor Franco eine wichtige persönliche Stütze und einen Garant für den Fortbestand seines Regimes: 1969 war Juan Carlos de Borbón y Borbón, der nachmalige König des demokratischen Spaniens, zum Nachfolger Francos ernannt worden, und der alternde Diktator hatte beabsichtigt, ihm den erzkatholischen, autoritären und ihm treu ergebenen Carrero Blanco zur Seite zu stellen – als ‚Wachhund‘ sozusagen. Nicht umsonst trug der Admiral, der zum reaktionärsten Teil des Franco-Regimes, dem sogenannten ‚Bunker‘ zählte, in Oppositionskreisen den Spitznamen el Ogro, der Oger. Einer bis heute forterzählten Legende nach sollen in den Tagen nach dem Attentat in den Lebensmittelgeschäften Spaniens die Vorräte an Cava, dem ‚Champagner der armen Leute‘ ausgegangen sein. Der Sänger Joaquín Sabina ist heute nur einer von vielen, die bekennen, tatsächlich im kleinen Kreis auf den Tod Carrero Blancos angestoßen zu haben. Man sah ihn als Schlag gegen die Diktatur, und – vielleicht – als Anfang von deren Ende.

Patrick Eser und Stefan Peters von der Uni Kassel, Hispanist der eine, Sozialwissenschaftler der andere, haben nun einen Sammelband vorgelegt, der sich dem Attentat von 1973 unter historischen, politischen, vor allem aber erinnerungstheoretischen und kulturellen Gesichtspunkten zuwendet. Es gehört Mut dazu, ausgerechnet im Jahr 2016, mitten hinein in eine zwar nachvollziehbare, aber medial über jedes Maß hinaus gesteigerte Terroristenhysterie, eine derart differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einer politisch motivierten Gewalttat herauszubringen. Zumal Eser und Peters sich nicht scheuen, provozierende Fragen zu stellen: „Welche Verantwortung würde man ETA als Akteur einer erfolgreichen Transition zubilligen müssen? War es womöglich die politische Gewalt, die einen derart erfolgreichen und (vorgeblich) friedlichen Übergang [von der Diktatur zur parlamentarischen Demokratie in Spanien] ermöglichte? […] Lässt sich [also] die politische Gewalt rechtfertigen? […] Kann man und soll man unterscheiden zwischen einer ETA während der Diktatur und einer ETA während der Demokratie, zwischen einer vorgeblich ‚guten‘ und ‚bösen‘ ETA?“ (S. 30).

Der Band ist in vier große thematische Blöcke unterteilt, die aufeinander aufbauen: Zunächst wird das Attentat in seinen historischen und politischen Kontext gestellt, wobei gleichzeitig seine historiographische Darstellung kritisch gewürdigt wird. Es folgt eine intensive und erhellende Auseinandersetzung mit diversen kulturellen Repräsentationsformen politischer Gewalt in Spanien, wobei insbesondere Antonio Duplá Ansuateguis wohldokumentierte Fundamentalkritik an der „Kultur der Gewalt“ im Baskenland hervorzuheben ist. Dieser Ansatz wird fortgeführt mit der Analyse kultureller Darstellungen des Attentats selbst, von Liedern über Filme bis zur bildenden Kunst, die mit konfligierenden Erinnerungsdiskursen in Beziehung gesetzt werden. Den Abschluss bildet ein autobiographischer Epilog von Joseba Zulaika, der fast schon eine literarische Erzählung über die erlebte Wirklichkeit von Terror und Gewalt ist, die den Band nochmals um eine anregende Perspektive bereichert und ihn zugleich angemessen beschließt. Unter den Beiträgerinnen und Beiträgern finden sich international anerkannte Experten zum Thema wie Ludger Mees oder Santiago de Pablo neben vielversprechenden Talenten wie Virginia López de Maturana, deutsche Fachleute wie Ulrich Winter neben baskischen Zeitzeugen. So entsteht ein Kaleidoskop unterschiedlicher Wissenszusammenhänge und Ansätze, die sich ausnahmslos auf hohem Niveau ergänzen und bereichern.

Das soziale Gedächtnis

Mit Blick auf das soziale Gedächtnis in Spanien vertreten Eser und Peters in ihrem Band eine anregende These, die die kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorie um eine an den französischen Historiker Pierre Nora angelehnte, neue Kategorie bereichert: der des „Nicht-Erinnerungsortes“. Der beunruhigende Gedanke, dass ein schrecklicher politischer Mord womöglich gesamtgesellschaftlich positive Folgen gehabt haben könnte, sowie die Tatsache, dass er von einer Organisation begangen wurde, die bereits wenige Jahre nach dem Attentat in Spanien in etwa so beliebt war wie eine Horde sabbernder Untoter, hätten, so Eser und Peters, dazu geführt, dass die Erinnerung an das Attentat schlichtweg verweigert worden sei. Es sei, um einen Begriff Walther L. Berneckers und Sören Brinkmanns aufzunehmen, zu einer „Sperrzone des Erinnerns“ geworden: zu etwas, das quasi nie stattgefunden habe. Interessanterweise differenzieren die folgenden Beiträge zum Teil die Eingangsthese von Eser und Peters, ohne sie zu wiederlegen. Es ist eine unbedingte Stärke des Bandes, dass die Herausgeber der Versuchung wiederstanden haben, diese Widersprüche in ihrem Sinne zu ‚glätten‘. So wird deutlich, dass keineswegs überall und für alle gesellschaftlichen Gruppen Spaniens mit Blick auf das Attentat von einem „Nicht-Erinnerungsort“ gesprochen werden kann. Gerade im Baskenland hielt sich die Erinnerung über Jahre (vor allem) in der cultura popular, der Volkskultur der Region, und entfaltete dort durchaus identitätsbildende Kraft. Etwa in dem populären Lied „Yup LaLa“, in dessen Verlauf große Gruppen von Menschen ihre Jacken und sonstige Kleidungsstücke in die Luft warfen, um Carrero Blancos ‚Flug gen Himmel‘ zu imitieren. Es ist unwahrscheinlich, dass es den Teilnehmenden solcher Veranstaltungen darum ging, einen Mord zu verherrlichen. Weit eher konnten sie wohl der Versuchung nicht widerstehen, das bestehende Regime zu verspotten. Es ist eine der vielen überzeugenden Thesen Patrick Esers, der sich in einem Beitrag auch mit der kulturellen Spiegelung des Attentats beschäftigt, dass jeder gewaltsame Schlag gegen den Repräsentanten eines politischen Systems immer auch ein Schlag gegen dessen kulturelle Ordnung sei. Der volksläufige Spott, der nach dem 20. Dezember 1973 auch in anderen Regionen Spaniens nachzuweisen ist, liefert ein anschauliches Beispiel dafür. Er unterlief das vom Regime dekretierte Schweigen über den Tod Carrero Blancos und ist selbst heute, im konservativ regierten Spanien, als vorgebliche ‚Verherrlichung des Terrorismus‘ noch immer strafrelevant.

Eine andere Stärke des Bandes liegt darin, dass gleich mehrere Beiträgerinnen und Beiträger in ihrer Jugend der abertzale, der radikalen baskischen Linken nahestanden, aus der ETA in den sechziger Jahren hervorging. Einer der Autoren, Eduardo Uriarte Romero, der sich in seinem Beitrag mit der Pressedarstellung des Attentats beschäftigt, war sogar selbst einige Jahre aktives Mitglied der Terrororganisation. Es ist kein Zufall, dass ETAs schärfste und kompetenteste Kritikerinnen und Kritiker heute aus den Reihen der Organisation selber stammen. ETA ist (leider) eine der langlebigsten Terrororganisationen Europas, spaltete sich mehrmals, und nicht wenige Ex-Mitglieder wurden in der Folge selbst Opfer von Morden, Anschlägen, Erpressungen und Drohungen. Die Verschränkung von Erfahrungswissen und Reflexionswissen ermöglicht Einblicke in das Innenleben einer Terrororganisation, wie man sie selten erhält, und gibt Antworten auf die bis heute beunruhigende Frage, was junge, intelligente und engagierte Menschen dazu bringen konnte, skrupellos zu morden. ETA entwickelte beispielsweise eine partikulare Moral, eine eigene „Ethik der Gewalt“, wie Duplá Ansuategui sie nennt (S. 108). Zu ihr gehörte die Rechtfertigung der eigenen Gewalt als Reaktion auf die Gewalt anderer, das verpflichtende Opfer der eigenen Genossinnen und Genossen und die völlige Auflösung der individuellen in einer kollektiven Verantwortung. Dies alles geschah innerhalb eines ideologisch fest gefügten Denkgebäudes, das keinen Raum für Zweifel ließ. Während der siebziger Jahre umflorte darüber hinaus den linkspolitischen Terror noch immer ein Hauch romantischen Heldentums, des edlen Selbstopfers für andere und des Kampfes um eine bessere Zukunft: eines künftigen „goldenen Zeitalters“. Kaum jemand scherte sich darum, dass ETA durch ihre Aktionen öffentlich die Todesstrafe verherrlichte; dass ihre Taten immer unmenschlicher wurden; dass Menschenrechte in ihrem politischen Wertekanon gar nicht vorkamen und menschliches Mitgefühl für ihre Aktivistinnen und Aktivisten ein Fremdwort zu sein schien. Die „‚wirkliche Wirklichkeit‘ der politischen Gewalt“ (S. 113) – eine Wirklichkeit, die immer willkürlich, schmutzig, brutal, dilettantisch und abstoßend ist – war für ihre Mitglieder und Unterstützerinnen und Unterstützer weitgehend aufgehoben. In gewisser Weise verschoben sich Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung des linkspolitischen Terrors in einen fiktionalen Raum, und es ist kein Zufall, dass wiederum Duplá Ansuategui sowohl dem dogmatischen Marxismus als auch dem baskischen Nationalismus (den beiden ideologischen Stützpfeilern ETAs während der 70er Jahre) attestiert, „epische Erzählungen“ gewesen zu sein: heroisierende Großentwürfe einer phantastischen, zukünftigen Gegenwelt. In Wahrheit wurde die Gewalt der ETA nach dem Anschlag auf Carrero Blanco rasch immer hemmungsloser und willkürlicher. Noch nicht einmal ein Jahr nach dem Schlag in der Calle Cuello, am 13. September 1974, zündete die Organisation beispielsweise eine Bombe in der Cafetería Rolando in der Nähe der Direktion der Sicherheitspolizei in Madrid. Bei der Explosion starben 13 Menschen, Duzende wurden verletzt. Die meisten Opfer waren Zivilistinnen und Zivilisten. Es war der Auftakt zu einer schier endlosen Serie immer blutigerer Schläge, bis ETA endlich im Jahr 2011 den endgültigen Waffenstillstand verkündete. Und auch an der Behauptung, ETA habe mit dem Attentat auf Carrero Blanco die Diktatur schwächen wollen, sind, so verdeutlichen gleich mehrere Beiträge, Zweifel angebracht. Tatsächlich hatte das Kommando Txikia 1973 mehrere Personen als potentielle Opfer in die engere Wahl genommen. Das Attentat auf Carrero Blanco war schließlich ein ‚Mechanismus der Gewalt‘, der ganz der Logik des Terrors folgte. Der Anschlag war ein Racheakt mit größtmöglicher Öffentlichkeitswirkung, aber gewiss kein kalkulierter politischer Schlag gegen die Diktatur: Die radikalnationalistische ETA kämpfte gegen Spanien, nicht gegen Franco, und setzte ihren ‚Krieg‘ nach dem Ende der Diktatur auch konsequent fort. Wenn also das Attentat tatsächlich die Diktatur destabilisiert und den Weg in die Demokratie geebnet haben sollte, so war dies wohl vor allem eines: Zufall. Zur Rechtfertigung politischer Gewalt eignen sich Zufälle denkbar wenig.

Fazit

Patrick Eser und Stefan Peters nähern sich einem ungewöhnlichen Thema auf innovative, anregende, wohldokumentierte und produktiv beunruhigende Weise. Ihr Band zeugt von intellektueller Courage, wissenschaftlicher Redlichkeit und hoher Sachkompetenz. Sie sollten über eine deutsche Übertragung ihrer Arbeit, zumindest aber einiger der besonders herausragenden Beiträge nachdenken. Denn am Beispiel der Erinnerung bzw. Nicht-Erinnerung an den gewaltsamen Tod Carrero Blancos lassen sich Fragen diskutieren, die keineswegs nur die Fachwelt, sondern heute auch ein breiteres Publikum interessieren sollten.