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Ziviler Ungehorsam gegen Abschiebeterror

Die gelungene Gewaltfreie Aktion Nürnberger Schüler*innen

| Text/Interview: Bernd Drücke

Pro Asyl schätzt, dass die "Festung Europa" seit 1996 bereits über 60.000 Menschenleben gefordert hat. Allein 2016 sind über 5.400 Menschen durch die Abschottungspolitik der EU umgekommen. Die Menschenrechtsorganisation geht davon aus, dass alle 90 Minuten ein Mensch im Mittelmeer auf der Flucht nach Europa ums Leben kommt.

Auch die Menschen, die die EU erreichen, sind nicht unbedingt in Sicherheit. Zwar behauptet z.B. das Grundgesetz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, in der Realität wird die Menschenwürde allerdings mit jedem rassistischen Angriff auf Geflüchtete und mit jeder Abschiebung angetastet.

Die Bundesregierung hat keine Hemmungen, Menschen sogar in das durch täglichen Terror und Krieg zerrüttete Afghanistan abzuschieben.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will den Rassist*innen der AfD Wähler*innen abjagen, indem er als Hardliner Länder wie Afghanistan als „sicher“ einstuft und so Bundestagswahlkampf auf dem Rücken geflüchteter Menschen führt. Dabei ist ihm nicht erst seit dem Terroranschlag im Mai 2017 neben der im „sicheren“ Diplomatenviertel Kabuls liegenden Deutschen Botschaft bekannt, wie katastrophal die Lage in Afghanistan ist.

Abschiebung ist Mord. Ein Beispiel

Farhad Rasuli wurde 1988 in Afghanistan geboren. Weil sein Vater General der afghanischen Armee war und sich gegen die Islamisten ausgesprochen hatte, musste Rasuli vor den Taliban flüchten. Am 14. Februar 2017 wurde der 29-Jährige von seinen deutschen Freund*innen getrennt und nach Afghanistan abgeschoben. Am 10. Mai wurden er und sein Cousin von den Taliban ermordet.

„Das passiert, wenn sich Polizeibeamte unmenschlichen Befehlen nicht widersetzen, sondern sich rechtfertigen, sie hätten nur Befehle ausgeführt. Menschen sterben dank deutscher Asylpolitik und in Fällen wie diesem ist es egal, ob derjenige nun gut integriert war und ob er aus dem Unterricht geholt wird oder aus seiner Wohnung“, so die Internetplattform „Afghanistan is not safe“. Wer Menschen nach Afghanistan abschiebt, nimmt ihren Tod bewusst in Kauf.

Abschiebung ist Folter. Ein Beispiel

Das Skype-Interview der WDR-Lokalzeit Duisburg mit der 14-jährigen Bivsi (https://goo.gl/VvG9TV) ist bewegend und treibt die Tränen in die Augen. Bivsi ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Doch sie wurde Ende Mai 2017 mitten aus dem Unterricht an einem Duisburger Gymnasium herausgerissen und zusammen mit ihren Eltern nach Nepal abgeschoben, in ein Land dessen Sprache sie nicht spricht. Der Abschiebeapparat agierte gnadenlos und menschenverachtend.

Erfolgreicher Widerstand gegen Asefs Abschiebung

Vielen Menschen hat der Gewaltfreie Widerstand Mut gemacht, den 300 Schüler*innen an einer Nürnberger Berufsschule gegen die Polizei leisteten, als diese versuchte ihren Mitschüler und Freund Asef N. nach Afghanistan abzuschieben (siehe: http://br.de/s/2sDySag).

Der Sozialarbeiter und Buchautor Leonhard F. Seidl erfuhr von der drohenden Abschiebung und beteiligte sich spontan an der Sitzblockade. Grund genug, ihn für die GWR zu interviewen:

GWR: Leonhard, Du wurdest durch Polizeigewalt verletzt. Was ist passiert?

Leonhard F. Seidl: Mir war es wichtig, mich solidarisch zu zeigen und an der Sitzblockade zu beteiligen, da ich als Pate zweier Schulen für „Schule ohne Rassismus“ und bei meinen Lesungen mit Jugendlichen zu tun habe und diese unmenschliche Politik ablehne. Es war offensichtlich, dass die Mehrheit zum ersten Mal eine Straße blockiert hat, viele standen herum, rauchten. Wir saßen lange da, ohne dass etwas geschah.

Die Polizei hat uns nicht, wie sonst üblich, aufgefordert, die Straße freizumachen. Mehrere Beamte begannen plötzlich zwei vorne sitzenden Blockierern in die Augen zu drücken und ihre Köpfe nach hinten und zur Seite zu drehen, damit sie ihre untergehakten Nebenmänner loslassen. Als dies misslang, ist das bayerische Unterstützungskommando auf uns zugestürmt. Das USK wollte uns mit Schlägen und Knüppelhieben dazu bringen, die Straße zu verlassen. Deshalb mussten wir aufstehen. Ich habe sofort meine Hände gehoben und gerufen: „Wir sind friedlich, was seid ihr?!“

Dann versuchten sie Asef in ein anderes Auto zu bringen. Wir wurden in die Richtung des Polizeiwagens gedrückt. Jetzt trommelten Fäuste und Knüppel auf mich ein. Ein USK-Beamter nahm mich in den Schwitzkasten, riss mich brutal nach unten und drückte mich gemeinsam mit einem zweiten bauchwärts auf den Boden. Sie legten mir Handschellen an, schlossen sie aber nicht, da ein Beamter sagte: „Dem nicht, nimm sie wieder ab.“

Dann bin ich wieder aufgestanden und habe mich vor das Auto gestellt, in dem Asef saß.

Sie schleiften ihn, unter empörten Schreien der Schüler*innen, über den Rasen und zerrten ihn in einen zweiten Einsatzwagen. Wir versuchten uns auch hier davorzusetzen, aber sie prügelten dem Wagen den Weg frei. Als wir einer Schülerin, die mit den Händen über dem Kopf im Rasen lag, aufhelfen wollten, hetzten sie einen Hund auf uns. Ich bin seit meinem 16. Lebensjahr auf Demos und habe einiges gesehen, aber die Brutalität der Polizei an diesem Tag war enorm.

GWR: Wie haben Politik, Medien und Justiz auf die Aktion reagiert?

Leonhard F. Seidl: Innenminister Herrmann (CSU) äußerte keine Kritik an der Brutalität der Polizei, die für seine Politik den Kopf hinhalten musste. Er machte „Linke Chaoten“ für die Eskalation verantwortlich.

Die Berichterstattung der „Nürnberger Nachrichten“ war ausgewogen, sogar anklagend gegen den Polizeieinsatz. Andere verbreiteten Unwahrheiten über Asef, was seine Mitwirkung im Asylprozess betraf. Polizei und Medien kolportierten seine vermeintliche Drohung.

GWR: Nachdem das Amtsgericht Nürnberg am 1. Juni die Ingewahrsamnahme für Asef aufgehoben hatte, erhob die Regierung von Mittelfranken umgehend Beschwerde. Am 2. Juni lehnte das Landgericht Nürnberg-Fürth diese Beschwerde ab. Asef bleibt auf freiem Fuß. Die zuständigen Richter*innen folgten der Begründung ihrer Kollegen, dass keine Haftgründe gegen den Afghanen vorliegen. Wie ist Asefs aktuelle Situation? Wie siehst Du die Chancen, dass er für immer hier bleiben kann?

Leonhard F. Seidl: Am Donnerstag und Freitag war er wieder in der Schule und bei seinen solidarischen Freund*innen. Nach so einem traumatischen Erlebnis ist es für ihn in den Ferien wichtig, zur Ruhe zu kommen und es zu verarbeiten. Ich wünsche ihm, dass er hier ohne Angst leben kann, mit einer Zukunft, wie es alle Menschen verdient haben.

GWR: Würdest Du dich erneut an einer ähnlichen Aktion des Zivilen Ungehorsams beteiligen, um eine Abschiebung zu verhindern?

Leonhard F. Seidl: Ich würde mich jederzeit wieder daran beteiligen. Das Privileg in Deutschland geboren worden zu sein, in einem Land, das zu den größten Waffenexporteuren der Welt zählt, gebietet es. Durch unsere Aktion wurde öffentlich, wie hinterhältig die Regierung handelte, um Geflüchtete „loszuwerden“.

Sie hatten Asef seinen Ablehnungsbescheid nicht zugestellt, was sogar das Gericht stark kritisierte.

GWR: Was ist Dein Fazit? Wie können wir uns gegen die brutale Abschiebepolitik stemmen?

Leonhard F. Seidl: Einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen die verletzten und traumatisierten Schüler*innen, der festgenommene Aktivist und der schwer gebeutelte Asef, der von Minister Herrmann und der Polizei zum Sündenbock gemacht werden sollte, obwohl deren Verhalten ihm gegenüber brutal war. Glücklicherweise hatte unsere Sitzblockade eine bundesweite Strahlkraft. Sie findet hoffentlich zahlreiche Nachahmer*innen. Ziviler Ungehorsam, wie Sitzblockaden, von denen keine Eskalation ausgeht und bei denen die Polizei nicht der Gegner ist, kann eine Aktionsform sein, neben Aufklärung und Unterstützung der Geflüchteten. Möglichst mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung.

#Nürnberg ist überall – Widerstand ist überall.

GWR: Herzlichen Dank!