Vor ungefähr drei Jahren wurde in Wien von einer Handvoll Anarchistinnen und Anarchisten die Idee forciert, die deutschsprachige Anarchismusforschung voranzutreiben und das Institut für Anarchismusforschung zu gründen. Seither ist viel passiert. Über die Aktivitäten des Wiener Instituts sprachen mit der Graswurzelrevolution (GWR) drei Mitglieder des Kollektivs.
GWR: Könnt ihr kurz erzählen, was das Institut für Anarchismusforschung in Wien ist und wie es zu seiner Gründung kam?
Andi: Um eine recht komplexe Geschichte einfach und kurz zu halten. Einige von uns waren zuvor in der anarchistischen Bibliothek aktiv und dort gab es 2014/2015 die Idee, das großspurige Taferl an der Hausmauer des ersten Eingangs, mit der Inschrift „Anarchistische Bibliothek – Institut für Anarchismusforschung“, das Besucher_innen helfen sollte die Bibliothek zu finden, mit Leben zu befüllen. Also wirklich zur Geschichte der anarchistischen Bewegung zu forschen, darüber zu schreiben und zu publizieren. Durchaus im Sinne der Selbstermächtigung und des Erlernens eines komplexen Produktionsprozesses, inkl. Drucken. So kam die erste Broschüre über den Anarchisten und Antimilitaristen Alfred Saueracker/Alfred Parker zustande. Bald darauf kam die Nächste. Weitere Leute zeigten sich interessiert und so wuchs die Gruppe. Inzwischen sind wir unabhängig von der Bibliothek und treffen uns regelmäßig, diskutieren über unsere jeweiligen Arbeiten zu anarchistischen Theorien und Geschichten und schmieden unsere Pläne.
Im Moment sind wir eine bunte Gruppe von Leuten, die sich als Anarchist_innen verstehen, als undogmatische Linke, als Feministinnen oder einfach Interesse an einer Gegengeschichte haben.
GWR: Welche Aktivitäten und Projekte gehen und gingen vom Institut für Anarchismusforschung bislang aus?
Eva: Wir haben bis jetzt vier Broschüren herausgebracht und darüber hinaus halten wir regelmäßig unsere Diskussionsrunden ab. Auch hatten wir eine Vernissage im Museumsquartier in Wien. In der Literaturpassage, einem der so genannten Mikromuseen des quartier21, haben wir eine Vitrine gestaltet: Dort waren die bislang erschienenen Broschüren sowie ein Plakat zu unseren Aktivitäten und Kooperationen, u.a. mit den Hafenarbeiter_innen in Koper/Slowenien zu sehen. Eröffnet haben wir diese Vitrine mit einer Veranstaltung, bei der es Lesungen, Diskussionen und sehr gute Stimmung gab. Ziel dieser Ausstellung war es auch, Menschen zu erreichen, die sich nicht unmittelbar in unserem politischen Umfeld bewegen. Durch die Literaturpassage ist es uns gelungen, einige der Passant_innen, die von der Mariahilferstraße aus das Areal des Museumsquartiers betreten, neugierig zu machen auf Alfred Saueracker, Leo Rothziegel und den Buchdruckerstreik von 1913 – was sich darin gezeigt hat, dass es in der Buchhandlung im Museumsquartier viel Nachfrage nach den Broschüren gegeben hat.
GWR: Gibt es thematische Schwerpunkte? Es scheint, dass die Erforschung häufig unbekannter Aspekte der historischen österreichischen anarchistischen Szene ein Hauptanliegen ist. Stimmt dieser Eindruck?
Andi: Auf der Homepage schreiben wir, dass es unsere Aufgabe als „Anarchist_innen“ ist, sich mit „unserer“ Geschichte auseinanderzusetzen. Nicht nur, um sie dem Vergessen zu entreißen, sondern auch, um unseren Blick auf die Gegenwart zu schärfen. Das beschreibt den grundsätzlichen Ansatz recht gut. In der großen Geschichtsschreibung wird ja die anarchistische Bewegung meist nur in Fußnoten abgehandelt oder als Kuriosität hingestellt.
Wir wollen da genauer hinschauen, denn uns interessiert für was Anarchist_innen, Sozialrevolutionäre, Syndikalist_innen usw. genau gekämpft haben? Wer waren diese Personen? Was haben sie gedacht, worüber haben sie gestritten und wie sind diese oder jene Streiks oder Revolten genau verlaufen? Und es gibt ja den Spruch: „Grabe wo du stehst.“ Dem sehen wir uns zwar nicht dogmatisch verpflichtet, aber für den Anfang ist es nicht das Schlechteste.
In Österreich gab und gibt es nur wenig zu dieser Geschichte. Einige Autor_innen haben sich zwar darum bemüht und der Monte Verita Verlag oder die Pierre Ramus Gesellschaft haben in den letzten Jahrzehnten einiges veröffentlicht, aber es gibt noch genug zu entdecken und zu erzählen.
GWR: Was ist euer Verständnis von Anarchismusforschung? Welche Rolle kann sie idealerweise in der anarchistischen Bewegung – und darüber hinaus – spielen?
Peter: Wir haben sicherlich kein einheitliches Verständnis von Anarchismusforschung. Was uns aber eint, ist, dass wir die Relativität dieses Unterfangens erkennen und auch anerkennen. Wir sehen uns daher auch nicht einer sogenannten „objektiven Wahrheit“ verpflichtet, weil für uns diese nicht existiert. Die Sieger bestimmen immer über den Inhalt der Geschichte. Wir gehören aber bis jetzt zu den Verlierern. Unsere Spuren sind verwischt, verleugnet, vernichtet. Hier wollen wir möglichst viele Puzzlesteine unserer verlorengegangenen Geschichte wiederfinden, aus denen wir aber bestenfalls Geschichten über unsere jeweilige Bewegung zusammensetzen können. Das ist spannend und auch sehr befriedigend. Ob diese Arbeit in der anarchistischen oder libertären Bewegung eine Rolle spielen kann, ist schwer einzuschätzen.
Aber wenn, dann bestenfalls eine sehr geringe – wie viel haben wir denn schon aus der Geschichte gelernt? Wir lernen doch aus dem Vorwärtsgehen, also aus unserem Leben und damit aus den eigenen Erfahrungen und schließlich auch aus den Erfahrungen der Generationen, die uns voran gegangen sind. Aber diese Erfahrungen spielen in unserem Bewusstsein doch nur eine unterstützende Rolle, obwohl wir uns ungewollt und unbewusst an ihren Ergebnissen immer wieder abarbeiten müssen. Wir wollen doch oft nur das lernen, was zu unserem jeweiligen Erfahrungsschatz passt. Deshalb sind wir vorsichtig und wollen diese Erfahrungen aus der Geschichte einfach nur zur Verfügung stellen, vor denen wir aber gleichzeitig warnen, da sie ja durch unsere schöngefärbte Brille wiedergegeben werden.
GWR: Was sind eure Pläne für die Zukunft?
Peter: Wir stecken mitten in der Produktion zweier neuer Broschüren. Eine wird ein Reprint eines Textes von Olga Misar aus dem Jahre 1919 – „Neuen Liebesidealen entgegen“ – sein mit einer ausführlichen Einleitung. Und die zweite wird Geschichten über die anarchosyndikalistischen Schuhmacherinnen und Schuhmacher von Wien erzählen. Und für nächstes Jahr, das Jahr 2018, planen wir einen großen Schwerpunkt auf die österreichische Revolution von 1918/19 zu legen. Da wollen wir ein kleines, vielleicht auch ein bisschen situationistisches Spektakel veranstalten.
Interview: Sebastian Kalicha
Weitere Infos, Texte, Rezensionen und PDF-Versionen der Publikationen des Instituts sind zu finden unter: https://anarchismusforschung.org