Am 8. Juli 2017 nahmen ca. 80.000 Menschen an der bunten, friedlichen Protestdemonstration gegen den Gipfel der hochherrschaftlichen Schamlosigkeit in Hamburg teil. Ein Demobericht. (GWR-Red.)
Vor allen Dingen demonstrieren jüngere Menschen ihre Lebenslust vor der politischen Elite des globalen Kapitalismus. Die Polizei wirkt martialisch, eine Bürgerkriegsarmee, gerüstet und aggressiv gegen den lebensbejahenden Protest auf dem satten Bauch des schlafenden Michels.
Vorbei an mächtig wirkenden Bürohäusern in spiegelnder, undurchsichtiger Glasummantelung und den schmucken Kathedralen des Kapitalverkehrs, besitzanzeigende Symbole ästhetisierter Gewalt über den Freiheitsanspruch solidarischer Existenz und menschlicher Würde, strömt lebendige Vielfalt im zeitlosen Widerstreben gegen die Deiche der Macht.
Der anschwellende Zug des Protestes ist unüberschaubar, trotz der abschreckenden einseitigen Berichterstattung über Gewaltausbrüche, die vor der Teilnahme an diesen Protesten ihre Absicht nicht gänzlich verfehlt. Ich machte mir Gedanken, mich in meinem höheren Alter nicht der Gefahr auszusetzen, Opfer polizeilicher Gewalt oder in Schutz- und Vorbeugehaft genommen zu werden. Die Repräsentant*innen ihrer Demokratur hatten ja vorsorglich schon für Gefängnisse und Schnellverfahren gesorgt, ein Vorgeschmack auf das, was da kommen mag, wenn der Strom des ungehorsamen Protestes nicht abreißen will.
Auf einem Transparent (siehe Seite 1), das Kletteraktivisten unter einer Brücke aufgespannt halten, heißt es:
„G20: Wir sind nicht alle. Es fehlen die Ertrunkenen“
Grenzenlose Solidarität statt G20 – darin sind sich alle Menschen wohl einig, die in diesem Protestzug den Moment erleben, Ohnmacht und Grenzen zu überwinden. Die Polizei scheint an diesem Tag, im Gegensatz zu ihren Ausschreitungen davor, zurückhaltender zu sein. Hier und da sehe ich in die Gesichter junger Polizist*innen, die in stahlblauer Rüstung, weiß behelmt im Dienst der Obrigkeit am Straßenrand aufgestellt waren, ich dachte, was mag die Gedanken und Gefühle dieser jungen, uniformierten Menschen erstarren lassen oder bewegen, die eher den Anschein von Robotern als von mitfühlenden Menschen erwecken, Maschinen, argwöhnisch die Flut fokussierend, aus der das lebensbejahende Nein in rhythmischen Schwingungen gegen ihre Starre anbrandet. Jemand aus der Demonstration ruft: „Vermummungsverbot“, Gelächter der Demonstrierenden. Die erscheinen überlegen, weil sie nicht von der kalten Starre befallen sind. Lebensfreude bewegt die bunten Wogen des unüberblickbaren Zuges, während sich in der blauen Starre der hochgerüsteten Anspannung die Verkrampfung einer dem Tod verpflichteten Ordnung abbildet. Laut den Berichten der UNO-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR sind mindestens 3.771 Menschen 2015 und mindestens 3740 Menschen 2016 im Mittelmeer ertrunken.
In diesem Jahr sind es von Jahresbeginn bis zum 23. April mindestens 1.089 Flüchtlinge, die die Europäische Union mit ihren Abschottungsmaßnahmen hat ertrinken lassen. Mord aus Eigennutz. Die Verantwortlichen für die Abschottung landen sicher nicht vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Zu den Verantwortlichen der aggressiven Polizeieinsätze- hier seien stellvertretend für die letzten Machtinstanzen die Innenminister von Hamburg (Grote, SPD) und der Bundesregierung (De Maizière, CDU) genannt – fällt mir die Bemerkung Hannah Arendts über die „Banalität des Bösen“ zum Eichmannprozess in Israel Anfang der Sechziger ein. Es geht um „Staatsdiener“, welche ihre Pflichterfüllung gegenüber der Staatsräson losgelöst von jeglichem Unrecht und von jeglicher Gewalt, die sie Menschen antun, als oberste Instanz der Gewissenhaftigkeit ansehen.
Die „konservative“ Ideologie des Schutzes hierarchischer Ordnung vor aller Lebensäußerung eines „ungebildeten“ Volkes (eines „populistischen“ Volkes), das Gerechtigkeit und Freiheit für seine Bedürfnisse einfordert, die Beweihräucherung eines über alle menschliche Einfachheit erhabenen Fachidiotentums, die Arroganz gegenüber jedem Einspruch, ist der geistige Motor der Herrschenden. Es ist ein Zeitgeist, von dem Goethe seinen Faust sagen lässt, „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“
Der elitäre Führungsanspruch entstand als Antwort auf das Gleichheitspostulat der Französischen Revolution, wuchs im deutschen Kaiserreich zum militaristischen Untertanengeist, brutalisierte sich im faschistischen Führerstaat zur rassistisch motivierten Vernichtung von Menschen und rettete sich unter der politischen Schirmherrschaft Adenauers in die Gegenwart einer verfassungsmäßigen Demokratie, die den bedrohlichen Ausgeburten solchen Geistes Schranken auferlegt, Schranken, um deren Wirksamkeit ein ständiger Kampf stattfinden muss: – Zwischen einer Gewalt androhenden und ausführenden Ordnungsmacht und dem starken Lebensstrom einer Rebellion gegen die tödliche Unfreiheit, ein Kampf um Menschenwürde, die ohne Freiheit nicht denkbar, um die öffentlichen Räume, die vor dem Raub der Privatisierer zu verteidigen sind, um die Zeit, in der wir über uns selbst verfügen und um eine Selbstorganisation, in der unsere Stärken, unsere Fantasien und Bedürfnisse für eine bessere Zukunft blühen können – und nicht zuletzt ein Kampf um Abrüstung, Frieden und ökologische Gerechtigkeit auf einem einzigartigen Planeten in der anonymen Unendlichkeit des Universums.
Jede Gewaltoption im Widerstand, die in der Logik des Auge um Auge, Zahn um Zahn verteidigt wird, bietet erfahrungsgemäß staatlichen Provokateuren die Plattform, Gewaltakte anzustiften, deren abschreckende Bilder einer perfiden Meinungsmache dienen. In Deutschland hat dies noch eine spezielle Bewandtnis: Es wird nicht öffentlich über die fundamentalen Widersprüche in der Gesellschaft diskutiert. Stattdessen versuchen die Mächtigen und ihre Interpreten solche Widersprüche mit dem Zuckerbrot oft fauler Kompromisse und mit einer inhaltsleeren Sprache zu homogenisieren. Wenn dies nicht gelingt, versuchen sie, die Widerständigkeit zu kriminalisieren und die Rebellion von der Gesellschaft durch eine widerwärtige Propaganda abzuspalten.
Die Anliegen der Demonstrierenden wurden von den Interpreten der großen Politik bestenfalls schlaglichtartig wiedergegeben, ihr Fazit beschränkte sich auf den Gegensatz von friedlich und gewalttätig. Wo wurde stattdessen ausführlich über den alternativen Gipfel berichtet, an dem sich zweitausend Menschen aus der ganzen Welt beteiligten, um sich für eine alle Menschen umfassende, lebenswerte Zukunft zu verständigen? Wo ließen die Medien Eindrücke der lebensfrohen Demonstration auf die Zuschauer*innen wirken?
Während der Schlusskundgebung zieht die Polizei in geschlossener Front mit Wasserwerfern auf, gepanzerte Kraftprotze mit 10.000 Litern Wasser an Bord, dem auch Tränengas beigemischt werden kann; blaue Monster, die alles wegspülen, was ihnen in die Quere kommt. Per Joystick werden die Wasserkanonen von einem Polizisten der fünfköpfigen Besatzung auf die Menge gerichtet, und bei vollem Rohr soll der Tank in wenigen Minuten leer sein. Die Wucht, mit der solcher Strahl auf die Menge prallt, muss ungeheuerlich wirken. Eine Rednerin der Abschlusskundgebung mahnt die Verantwortlichen der Polizei eindringlich, den gewaltfreien Widerstand der Demonstrierenden nicht wieder in Gewalt enden zu lassen. Die gepanzerten Ungeheuer fahren ein paar Meter zurück – ein Zeichen, erst einmal den Einsatz solcher Gewalt zu unterlassen, sie aber als Drohkulisse aufrecht zu halten. Die Menge applaudiert für den symbolischen Rückwärtsgang, einige skandieren: „Haut ab, haut ab“. Die U-Bahnstation wird plötzlich mit einem Eisengitter verriegelt, so dass wir von dort aus nicht zum Hauptbahnhof fahren können. Die Security-Kräfte hinter dem Gitter konnten keine Auskunft geben, warum der Zugang abgesperrt war, sie verweisen auf eine Anordnung, die sie erhielten. Meine Freundin sagt einem der Polizisten, die in allen Himmelsrichtungen Ketten bilden, dass wir das Gefühl haben, eingekesselt zu sein.
„Wie kommen wir zum Hauptbahnhof?“, und die knappe Antwort des Polizisten mit der Geste des ausgesteckten Arms weist in die entgegengesetzte Richtung vom Bahnhof. Wir unterhalten uns auf dem Weg, und sie meint, dass sie so etwas noch nie erlebt habe. Ich schildere Erfahrungen der Anti-AKW-Bewegung und meine eigenen Erlebnisse in einem der Dörfer um Kalkar.
Die ganze Region im Kreis Kleve war im massiven Umfang von 30.000 Polizisten abgesperrt worden, sogar ein Zug wurde auf seiner Fahrt von schwerbewaffneten Polizisten mit Hubschraubern gestoppt.
Das war im September 1977. Es ging um den Bau des Schnellen Brüters, ein Reaktortyp, der atomwaffenfähiges Plutonium produziert. Damals sträubten sich Politiker vom Schlage eines Franz-Josef-Strauß gegen den Atomwaffensperrvertrag, weil sie sich die Option einer deutschen Atomstreitmacht offen halten wollten. Der Brüter ging allerdings nie ans Netz, verschandelt aber als Freizeitfabrik mit dem beziehungsreichen Namen „Kernwasserwunderland“ die grüne Flusslandschaft des flachen Niederrheins.
Nach der Demo unterhielten wir uns über die SPD- und Juso-Fahnen, die während der Demonstration zu sehen waren.
Was mag Menschen bewegen, sich einer Partei zugehörig zu zeigen, die dem Geist der „Konservativen“ die Drecksarbeit verrichtet hat? Die Mitverantwortung der Hamburger SPD-Führung für den aggressiven Polizeieinsatz hat mich plötzlich an den „Blutmai“ von 1929 erinnert, als der sozialdemokratische Polizeipräsident Berlins, Karl Zörgiebel, die Stadt in einen Belagerungszustand versetzte.
Ein Polizist hatte einen Mann erschossen, weil dieser der Aufforderung nicht sofort nachkam, sein Fenster zu schließen.
Hauptsächlich in den Stadtteilen Wedding und Neukölln hielten sich Arbeiter*innen nicht an das Demonstrationsverbot. Die Polizei ging mit Schlagstöcken und Wasserwerfern gegen die Demonstrierenden vor – und dann setzte sie sogar Maschinengewehre ein. Über zwanzigtausend Menschen waren auf der Straße. Von der Polizei wurden 33 Menschen erschossen und zweihundert schwer verletzt. Die Polizei hatte 47 Verletzte. Über 1.200 Menschen wurden festgenommen, davon 43 verurteilt.
Alfred Döblin, Heinrich Mann und Carl von Ossietzky bildeten einen Ausschuss, um die angeklagten Menschen aus der Arbeiterschaft zu unterstützen.
Ist es vom G20-Protest in Hamburg bis zu diesen Ereignissen in Berlin 1929 noch weit zurück? Die Türkei ist auch nicht weit von uns entfernt. Und dann fällt mir noch aus Brechts Kriegsfibel ein: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
Ja! verdammt nochmal!
Carllandrausch