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Gipfel der Militanz

| Nicolai Hagedorn

Nach den Protesten gegen den G20-Gipfel gilt es über vieles zu reden.

Einerseits muss geklärt werden, was genau passiert ist, inwiefern staatliche und polizeiliche Stellen während und nach dem Protestwochenende die Öffentlichkeit falsch informiert haben, inwiefern Polizeiführer Gesetze und Richtersprüche außer Kraft gesetzt und einen polizeilichen Ausnahmezustand herbeigeführt haben.

Es gilt, die Realität so zu beschreiben, dass die ideologischen Motive der bürgerlichen Darstellung sichtbar werden, die die Vertreter der militanten Staatsmacht zu heldenhaften Verteidigern des gesellschaftlichen Friedens stilisiert und ein paar schwarz gekleidete Demonstrant*innen mit Grillanzündern und Silvesterböllern zu einer militärisch organisierten Revolutionsarmee.

Andererseits, aber mit ersterem Diskurs, ist innerhalb der radikalen Linken eine Debatte darüber entbrannt, wie man die eigenen polizeiwidrigen Aktionen bewerten soll, wie diese bei künftigen ähnlichen Anlässen einzusetzen sind und wie der große Mobilisierungserfolg zu bewerten ist.

Eine Bestandsaufnahme

Um das Drama um den G20-Gipfel und die politischen Konsequenzen, die daraus erwachsen sind, verstehen zu können, lohnt ein Rückblick.

Am 23. September 2001 zieht die „Partei Rechtsstaatlicher Offensive“ (PRO) mit 19,4 Prozent in die Hamburger Bürgerschaft ein. Ole von Beust wird Oberbürgermeister und macht den Chef der PRO, Ronald Barnabas Schill, zum Innensenator und Chef der Hamburger Polizei. Schill hatte in den späten 90er Jahren als „Richter Gnadenlos“ für Aufsehen gesorgt, indem er drastische Strafen für Bagatelldelikte verhängte.

Er befürwortete die Wiedereinführung der Todesstrafe und als in der Roten Flora anlässlich einer „Drogenrazzia“ ein Aktivist die Herausgabe eines von der Polizei konfiszierten Passes forderte, verurteilte Schill ihn zu 15 Monaten Gefängnis ohne Bewährung. CDU und FDP waren begeistert und boten Schill hohe Listenplätze für die Bürgerschaftswahlen an. Doch der Mann, der unterdessen von der rechtsradikalen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ als „neuer Haider“ gefeiert wurde, gründete lieber eine eigene Partei und wurde schließlich 2001 Innensenator. Seine Amtszeit endete zwar bereits zwei Jahre später wieder, nachdem er den damaligen Oberbürgermeister von Beust mit dessen Homosexualität erpressen wollte.

An der Hamburger Polizei, die dem Innensenator Schill unterstand, gingen diese 24 Monate jedoch nicht spurlos vorbei.

Der Rassist Schill, der später in einem Video damit prahlte, dass in seiner Zeit als Richter „die Neger immer etwas mehr bekommen“ hätten, betrieb eine Personalpolitik, die rechte Gesinnungsbrüder in Leitungsfunktionen brachte, u.a. den Polizeioberrat Hartmut Dudde.

Die rechten Hardliner innerhalb der Hamburger Polizei bliesen von da an zum Angriff auf die linke Szene. So musste der Hamburger Senat 2015 in einer Antwort auf eine Anfrage der Abgeordneten Christiane Schneider (Die Linke) zugeben, dass Dudde in drei Fällen an rechtswidrigem polizeilichem Vorgehen gegen linke Demos in leitender Funktion beteiligt war. 2007 war eine Demo am Millerntor gestürmt und zerschlagen, 2008 eine Veranstaltung gegen Abschiebungen eigenmächtig um 15 Uhr beendet worden. Bei einer Spontandemo hatte die Polizei Transparente konfisziert und ein Polizeispalier gebildet – alle diese Einsätze Duddes wurden von Gerichten jeweils als rechtswidrig eingestuft.

Im Frühjahr 2015 erhielt die Öffentlichkeit weitere Einblicke in das Innenleben der Hamburger Polizei. Der damalige Leiter der Bereitschaftspolizei, Stefan Schneider, hatte Ende Februar um Versetzung gebeten.

Das Hamburger Abendblatt berichtete: „Gewerkschaftsfunktionäre und Polizeibeamte erzählen jedoch hinter vorgehaltener Hand von einem jahrelangen, tiefgreifenden Streit über die Strategie und Aufstellung der Bereitschaftspolizei, gar über einen ‚Zermürbungskrieg‘ im Innenleben der Einsatzdirektion.“

Schneider war demnach 2012 von dem damaligen Polizeipräsidenten Wolfgang Kopitzsch (SPD) berufen worden und gehörte nicht zu der Schill-Truppe. „Schneider gilt als vorsichtiger Anführer, als Vertreter von zurückhaltendem Vorgehen der Polizeibeamten bei Demonstrationen.“ (abendblatt.de)

Den Schill-Jungs gefiel das nicht. Laut „Abendblatt“ lancierte ein Polizeibeamter „einen Pressebericht über finanzielle Probleme Schneiders“ und Joachim Lenders, ein einflussreicher Schill-Getreuer und Polizeigewerkschafter wetterte, die Umbesetzung in der Polizeiführung bedeute einen „Rückschritt in die Richtung vor 2001“, also vor Schill.

Lenders erlangte im Nachgang der G20-Proteste skurrile Berühmtheit, als Talkshow-Beau Wolfgang Bosbach die Sendung „Menschen bei Maischberger“ deshalb frühzeitig verließ, weil er den armen Lenders nicht ausreichend vor verbalen Angriffen durch die Publizistin Jutta Ditfurth geschützt sah.

Den Unterschied zwischen den Kontrahenten Schneider und Dudde erklärte ein Insider gegenüber dem Hamburger Abendblatt so: Während bei Einsätzen unter der Leitung Schneiders „die Wasserwerfer noch einen Kilometer weit weg parken, um nicht zu provozieren, ist unter Dudde schon das halbe Schanzenviertel hochdruckgereinigt.“

Die Karriere des gemäßigten Schneider wurde ausgebremst und der ebenfalls gemäßigte Polizeipräsident Kopitzsch 2014 von dem damaligen Innensenator Michael Neumann (SPD) in den Ruhestand versetzt.

Nun hatten die rechten Hardliner freie Hand und ein knappes Jahr später trat Schneider schließlich zurück. Die taz kommentierte: „Das Fass zum Überlaufen sollen die Ereignisse während des NPD-Aufmarsches vor der Bürgerschaftswahl gebracht haben, heißt es aus Polizeikreisen. Während Schneider die NPD-Kundgebung und die Gegenproteste am 7. Februar ohne Zwischenfälle über die Bühne gebracht hatte, wie bereits eine Woche zuvor die Never-Mind-the-Papers-Demonstration von Flüchtlingen und Unterstützern, ordnete die Gesamteinsatzleitung nach dem Ende der Demo an, dem NPD-Lautsprecherwagen den Weg durch die noch laufende und angemeldete Antifa-Kundgebung zu bahnen.

Obwohl eine andere Strecke frei war, was dann auch zu Auseinandersetzungen geführt hatte.“ Angeordnet hatte die Nazi-Eskorte Hartmut Dudde. Er wurde zum Gesamteinsatzleiter für den G20-Gipfel ernannt.

Als ob er es nicht erwarten konnte, wurden bereits am Dienstag, den 4. Juli, die bis dahin völlig friedlichen Demonstrant*innen mit Pfefferspray empfangen, Camps trotz der Entscheidungen von Gerichten geräumt, Sitzblockaden und eine Corner-Aktion mit Wasserwerfen angegriffen.

Den eigentlichen Showdown sah Dudde aber offenbar am Donnerstag gekommen, als die autonome „Welcome to Hell“-Demo anstand.

Nachdem der von den Veranstaltern angekündigte „größte schwarze Block aller Zeiten“ sich deutlich kleiner, friedlicher und disziplinierter als erwartet präsentierte, wurde er kurzerhand trotzdem von der Polizei angegriffen, wie Axel Schröder vom Deutschlandfunk berichtete: „Die Demonstrationsleitung habe mit dem Schwarzen Block darüber verhandelt, dass die Teilnehmer sich wieder ‚entmummen‘. Das sei auch geschehen. Allerdings hätten ihm Kollegen von Deutschlandfunk Kultur berichtet, dass es hinten im Zug zu dem Zeitpunkt noch Vermummte gab. Offenbar ging der Polizei dort das Entmummen nicht schnell genug, und die Beamten seien – so Schröder – dann mit Pfefferspray in die Menge hineingegangen, ohne dass von Seiten der Demonstranten vorher irgendwas passiert sei.“

Dudde beschrieb das Geschehen hingegen so: Nachdem er in der Demo Vermummte gesichtet habe, habe er sich mit „Unternehmensjuristen“ über das weitere Vorgehen beraten, denn für ihn sei klar gewesen: „So wird dieser Aufzug mit den Vermummten nicht durch Wohngebiete geführt, weil das zu unkalkulierbaren Risiken führt und eigentlich auch klar ist, was dann gemacht werden soll.“

Die Begründung dafür, die ohne jede Auflage genehmigte und bis dahin friedliche Demo zu stoppen, bestand also darin, dass Dudde aufgrund einer Vermutung entschieden hat, dass die inzwischen gar nicht mehr Vermummten – ja was eigentlich vorhatten?

Das bleibt sein Geheimnis. Jedenfalls habe man dann „den Versammlungsleiter darauf hingewiesen, dass er in seinem Aufzug Vermummte hat“ und diese aufgefordert, die Vermummung abzulegen. „Dies führte über 30 Minuten zu überhaupt gar keinem Erfolg. Es gab da keine Bereitschaft das zu verändern.“

Jutta Ditfurth hingegen bestätigte die Darstellung des Deutschlandfunk-Reporters in Übereinstimmung mit allen anderen Augenzeugen und anwesenden Journalist*innen in der Sendung „Menschen bei Maischberger“ so: „Zu meiner Überraschung hat der so genannte Schwarze Block auf all die Hektik an den Seiten, auf die Bedrohung von vorn (gemeint sind aufziehende Polizeikräfte und mehrere Wasserwerfer und Räumpanzer auf der Vorderseite der Demo, N.H.) irrsinnig diszipliniert reagiert. (…) Und dann, und damit habe ich nie gerechnet, haben sich schätzungsweise 90 Prozent entmummt.“ Der ebenfalls in der Sendung anwesende Jan van Aken (MdB, Die Linke), der als parlamentarischer Beobachter vor Ort gewesen war, stimmte der Darstellung Ditfurths zu.

Am Freitagabend dann, so Dudde, habe die Polizei bemerkt, „dass auf dem ersten Haus, wenn man ins Schulterblatt reinfährt auf dem Dach und auf dem dortigen Gerüst Personen waren, die mit Zwillen bewaffnet waren und mit diesen auch auf uns schossen. Ferner hatten wir schon die Ahnung, weil Benzin und Molotow Cocktails im Einsatzverlauf schon eine große Rolle spielten, dass in diesem Bereich auf den Dächern auch Wurf- und Brandmaterial gelagert wird, dass wenn wir in das Viertel reingehen, es zu Problemen kommt. (…) Wir haben uns nach einer kurzen Beratung dazu entschieden, dass wir dieses Haus durch SEK-Kräfte betreten lassen. (…) Dann sind wir in dieses Haus eingedrungen, haben oben den gesamten Dachbereich gesichert und konnten in dem Moment in das Schanzenviertel vorgehen (…)“

Auffällig:

Dudde lässt bei seiner großen Pressekonferenz keine Gelegenheit aus, dick aufzutragen, wohl um die offenen Widersprüche seiner Darstellung zur Realität zu übertünchen: „Zwillenbeschuss kenne ich noch aus Brokdorf oder vergleichbaren Jahren und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es so einen kleinen Konsens gibt, dass man mit lebensbedrohlichen Mitteln nicht auf Polizisten einwirkt.

Der ist zumindest jetzt im Verlauf des G20-Gipfels deutlich durchbrochen worden.“

Als Beweise für diese drastische Darstellung präsentierte er den anwesenden Journalist*innen eine murmelgroße „Stahlkugel, die wir aus dem Wasserwerfer herausgepult haben (…) Wir hatten am Tag vorher bereits zwei verletzte Kollegen (…) die nach Einschätzung unseres ärztlichen Dienstes eindeutig durch ein Metallgeschoss entstanden ist. (…). Also das hat eine Dimension angenommen, die wir bis dahin nicht kannten.“

Außer der Vermutung eines Arztes gibt es bis heute keinen Beleg für den „Zwillenbeschuss“.

Weiter sprach Dudde von „476 verletzten Kollegen“ (später wurde diese Zahl erhöht), zwei Hubschrauberpiloten seien mit Laserpointern geblendet worden: „Da haben wir einen Haftbefehl wegen versuchten Totschlags erwirken können, weil wir den Täter haben – ein Novum in Deutschland, zeigt aber, dass das die Gerichte inzwischen auch so sehen, weil es zu einer lebensbedrohlichen Flugsituation des Hubschraubers kommen kann.“

Es habe 186 Festnahmen gegeben, 225 Gewahrsamnahmen – und: „Das Schöne war, wir haben ja die Großgesa (Gesa = Gefangenensammelstelle, N.H.) in Neuland eingerichtet, wir haben 37 Haftbefehle erwirkt, hatten 82 Zuführungen, die nicht mit Haftbefehlen beschieden wurden und konnten 82 längerfristige Gewahrsamnahmen vollstrecken. Das hat es in Hamburg noch nie gegeben, zeigt aber, dass es ein Erfolgsmodell ist, wenn Juristerei, Anwälte und Polizei nah beieinander sind und die Delinquenten sofort ihrem Richter zugeführt werden können. Das schärft den Blick.“

Dudde fand sein Riesengefängnis, seine Verhaftungen, seine Gewahrsamnahmen also „schön“ und der Polizeiführer weiß auch, was der Justiz „den Blick schärft“ – eine Formulierung, die vielleicht das Beängstigende eines an Beängstigendem nicht armen Wochenendes war. Schill dürfte jedenfalls rundum zufrieden gewesen sein.

Sicher auch über die Zustände in der Gesa. Übereinstimmend berichteten die dort internierten, Journalist*innen und Anwälte, teilweise auch beteiligte Richter von der Situation, der Verweigerung von Anwaltsgesprächen und sexualisierten oder sexistischen Herabwürdigungen insbesondere von Demonstrantinnen durch Polizisten.

Ein Video, das den Freitagabend am Schulterblatt zeige, kommentiert Dudde so: „Achten Sie mal auf ihn hier. So, bißchen kokeln… Sein Molotow Cocktail zündet, und jetzt wird er ganz gepflegt auf den Wasserwerfer geworfen, zündet nicht, das hat nur etwas mit Glück oder Zufall zu tun. Wenn er damit unten Polizeikräfte trifft, gehen die in Flammen auf. Ein lebensbedrohlicher Angriff auf die Kollegen, die da unten eingesetzt sind. Deshalb auch die Wasserabgabe jetzt aufs Dach.“

Man sieht jetzt auf dem Video, wie der Wasserwerfer auf das Dach zielt. Dass nun genau diese Aktion ein lebensbedrohliches Risiko für die Menschen auf dem Dach mit sich bringt, weiß auch Dudde und er kommentiert die Szene so: „Das ist nicht unser Hauptprogramm, weil das auch Gefahren birgt, aber man muss sich irgendwann beginnen zu wehren.“ Die Legende von den friedliebenden Polizeieinheiten, die von mörderischen Demonstranten angegriffen werden, und sich „irgendwann beginnen zu wehren“ ist, ist absurd und kontrafaktisch, doch sie konnte sich als Tatsache, als wahre Beschreibung in der öffentlichen Wahrnehmung durchsetzen. Dass für jeden sichtbar in Hamburg eine offensive, 20.000 Mann starke, dauervermummte, mit Schusswaffen und Schlagstöcken bewaffnete, mit Räumpanzern und Wasserwerfern hochgerüstete, Menschen verprügelnde und mit Reizgas und Pfefferspray wild um sich ballernde (laut Spiegel Online gab es 67 Reizgaseinsätze) Polizei zur Tat schritt, stört dabei nicht weiter.

Dennoch: Bereits kurz nach der Präsentation der Wärmebildkameraclips gab es in den sozialen Netzwerken erste Zweifel an Duddes Darstellung, wonach da ein Molotow-Cocktail zu sehen sei. So schrieb ein Facebook-User bereits Stunden nach der Pressekonferenz: „Ich hab beruflich mit Brandschutz zu tun und schaue tatsächlich öfter mal Videos mit Wärmebildkameras (…). Aber ich finde die Behauptung von Hartmut Dudde, dass es sich um einen Molotowcocktail handelt nach mehrmaliger Betrachtung des Videos, ehrlich gesagt unseriös. Zumal die Möglichkeit bestanden hat die Kräfte/ Zeugen am Boden zu fragen, ob Brandbeschleuniger von dem eben nicht explodierten Molli feststellbar ist.“

Zwei Tage später wurde zur Gewissheit, was auch ohne große Expertise leicht erkennbar war: Der „lebensbedrohliche Angriff“ war ein gewöhnlicher Silvesterknaller. Ein Reporter der „Hamburger Morgenpost“ hatte das „Molotow Cocktail“-Video einem Experten gezeigt: „Georg Dittié, Fachingenieur für Wärmebildtechnik und anerkannter juristischer Sachverständiger, kommt zu einem anderen Ergebnis. Seiner Einschätzung nach handelt es sich um einen Böller. ‚Die Infrarot-Emission auf dem Bild ist nur geringfügig höher als die der Personen‘, so Dittié. ‚Ein brennender Stofflappen wie bei einem Molotow-Cocktail müsste eine viel höhere Infrarot-Emission abgeben. Die Kamera würde in die Sättigung gehen, das Bild wäre überstrahlt.‘ Das sei hier nicht der Fall. Zudem würde man sehen, wie ein Feuerzeug mehrfach aufflackert, das spätere Wurfgeschoss sich also nicht sofort entzünde. Dittié: ‚Ein benzingetränkter Lappen entflammt sofort.'“ (Quelle: www.mopo.de/27962168)

Dudde hat die Öffentlichkeit bewusst belogen.

Der Rest in Kürze:

  • Laut übereinstimmenden Augenzeug*innenberichten von Anwohner*innen hat es keinen Hinterhalt in der Schanze gegeben. Auch mehrere Videoaufnahmen belegen diese Aussagen.
  • Der Laserpointer-Angriff auf die Hubschrauberpiloten wurde von einem Vater begangen, dessen Tochter wegen des Hubschraubereinsatzes nicht einschlafen konnte. Er hatte mit den Demonstrationen nichts zu tun. (Quelle: Hamburger Morgenpost)
  • Die Festgenommenen auf dem Hausdach, die angeblich einen Mordanschlag auf Polizisten begehen wollten, weshalb angeblich eine Anti-Terror-Einheit eingesetzt werden musste, waren unter anderem russische Blogger und ein Schaulustiger, der später im „Spiegel“ von seinem Abenteuer berichten durfte. Gegen keinen der 13 wurde bisher ein Haftbefehl erlassen, alle waren wenige Tage später wieder auf freiem Fuß.
  • Während der Krawalle im Schanzenviertel haben als solche erkennbaren Autonome und Anarchist*innen laut einer gemeinsam verfassten Stellungnahme mehrerer Geschäftsinhaber*innen, die während der Krawalle im Schulterblatt anwesend waren, zum Teil deeskalierend gewirkt. Eine irgendwie lebensbedrohliche Situation habe nicht bestanden. (https://www.g20hamburg.org/de/content/stellungnahme-zu-den-ereignissen-vom-wochenende)
  • Laut Recherchen von „Buzzfeed.com“ waren von den insgesamt 936 verletzt gemeldeten Polizist*innen 17 am folgenden Tag noch dienstuntauglich, neun mussten stationär behandelt werden. Zwei Wochen nach dem Einsatz war kein einziger Polizist mehr in stationärer Behandlung. Bei den 936 Verletzungen handelte es sich in 227 Fällen um Dehydrierung und ähnliches, 256 Polizist*innen wurden bereits vor den Demos und Krawallen verletzt bzw. hatten sich krank gemeldet, 182 verletzten sich selbst durch Einsatz von Tränengas. Insgesamt handelte es sich in 98,7 Prozent der Fälle um „leichte Verletzungen“. Über die Zahl verletzter Demonstrant*innen gibt es keine belastbaren Zahlen.
  • Mehrere Journalist*innen, Schaulustige, Sanis, parlamentarische Beobachter*innen und andere Augenzeug*innen berichteten von brutaler Polizeigewalt. Ein Hamburger Unternehmer erzählte dem ARD-Magazin „Panorama“, wie er als völlig Unbeteiligter von der Polizei verprügelt wurde: „‚Die sind über mich hergefallen wie die Tiere‘, erinnert sich F., ‚ich habe so etwas noch nie erlebt – und auch nicht für möglich gehalten.‘ F. schildert Tritte und Schläge gegen den Kopf, sowie den ganzen Körper. Als einer der Beamten ‚Verpiss Dich‘ gerufen habe, habe er aufstehen wollen, doch sofort sei wieder auf ihn eingetreten worden. ‚Ich bin kein Jurist, aber für mich war das versuchter Totschlag‘, schildert er die Massivität der Gewalteinwirkung aus seiner Sicht. Zumindest habe man seiner Ansicht nach mit einer derartigen Anzahl an Schlägen und Tritten schwere Verletzungen billigend in Kauf genommen. Als die Prügelorgie vorbei ist, wird F. weder verhaftet noch in Gewahrsam genommen.“

Neben der offensichtlichen Verfälschung der Realität, für die Duddes Polizeibericht nur ein besonders krasses Beispiel ist, trägt die öffentliche Diskussion ein weiteres Merkmal ideologisch geprägter Diskurse, nämlich die Notwendigkeit der Exklusion. Dabei wird das während der Polizeiangriffe aus den Lautsprechern der Polizeifahrzeuge dröhnende Mantra „Distanzieren Sie sich von den Straftätern!“ im medialen Raum zu einem anschwellenden Echo.

Wer sich nicht von den Landfriedensbrechern, den Einbrechern, den Böllerwerfern und Automördern distanziert, steht außerhalb der Gemeinschaft der anständigen Bürger*innen, die friedlich sind, die niemanden töten. Am allerwenigsten interessieren dabei die Argumente der Autonomen selbst, wonach, wie Emanuel Kapfinger im „Lower Class Magazine“ schreibt, die Krawalle „gegenüber der beständigen polizeilichen Repression ein Moment der Selbstermächtigung“ seien, Sachbeschädigungen zumal „an Banken und Konzernen (wie bei dem geplünderten REWE) (…) einen symbolischen Angriff auf Privateigentum und Kapital“ darstellten, oder „ein eindrückliches Zeichen dafür [setzten], dass die Grenzen der repressiven Ordnung überschritten werden können und für den militanten Kampf in den Betrieben und Stadtteilen [mobilisierten].“ Statt diese Argumente anzugreifen, würden sie, so Kapfinger, im bürgerlichen Diskurs ignoriert und stattdessen die Akteure zu Aussätzigen erklärt, denen nur mit noch mehr Repression zu begegnen sei.

Dabei ist es nötig, den möglicherweise ja ebenfalls ideologischen Vorstellungen und Denkmustern der Militanten energisch zu widersprechen und das fand und findet auch statt, jedoch eben nur in dem Kreis der üblichen Verdächtigen linksradikaler Provenienz, der allerdings – und damit wären wir bei den guten Nachrichten – wie die Demonstrationen in Hamburg deutlich machten, offenbar viel größer ist als gedacht.

Abseits ideologischer Verbrämung zeigten die Protesttage in Hamburg dreierlei:

1. Es hat viel Solidarität mit linkem Protest gegeben. Die organisierten Gruppen auf der Samstagsdemo waren mit Ausnahme der Linkspartei fast ausschließlich einem außerparlamentarischen, systemkritischen oder antikapitalistischen Spektrum zuzuordnen und auch innerhalb der Linkspartei gibt es einen recht großen radikalen Flügel.

Obwohl das also eine deutlich kapitalismuskritische Veranstaltung war, kamen knapp 80.000 Teilnehmer*innen und selbst an der offen und eindeutig linksradikalen, antikapitalistischen, teils militanten Welcome-To-Hell beteiligten sich über 12.000 Menschen – an einem Donnerstagabend. Davon, dass linksradikale Proteste kein Mobilisierungspotenzial hätten, kann also keine Rede sein und für die Nostalgiker*innen: Demos „der 68er“ hatten selten mehr als 10.000 Teilnehmer*innen, selbst der legendäre „Sternmarsch auf Bonn“ 1968 mobilisierte mit rund 60.000 fast 20.000 Aktive weniger als die Samstagsdemo der Gipfelgegner*innen.

2. Es gibt offenbar ein großes Interesse an radikaler Systemkritik. Der zweitägige Alternativgipfel, der von insgesamt rund 70 NGOs organisiert wurde, und bei dem inhaltlich diskutiert wurde, war teilweise so überfüllt, dass viele Besucher*innen draußen bleiben mussten.

3. Dabei geht es auch bei vielen globalisierungskritischen Gruppen längst nicht mehr nur um Politikberatung a la Börsen- und Erbschaftssteuer oder Grundeinkommen, vielmehr scheinen sich die gemäßigten Kritiker*innen in der letzten Dekade angesichts der unendlichen Krise radikalisiert zu haben. Daraus lassen sich auch für künftige linke Politik Schlüsse ziehen.

Zum einen lehrt die Erfahrung mit antikapitalistischen Workshops, Vorträgen etc., die nicht nur während der Aktionstage in Hamburg auf großes Interesse stoßen, dass es weit über das linksradikale Milieu hinaus ein Bedürfnis gibt, über alternative Lebens- und Wirtschaftsweisen zu sprechen.

Die üblichen und nachvollziehbaren Abwehrreaktionen gegenüber Vorschlägen verkürzter Kapitalismuskritik wie Degrowth, Postwachstumsökonomie oder „Commonismus“ wären zugunsten einer solidarischen Diskussion aufzugeben. Man wird niemandem erklären können, dass die Wertgesetze einem schrumpfenden oder stagnierenden Kapitalismus als existenzielle Schranke gegenüberstehen, wenn man von vornherein jeden Austausch verweigert.

Zuletzt haben sich mehrere Autor*innen darum bemüht, auf einfache konkrete Fragen dazu, wie eine nachkapitalistische Wirtschaftsweise denn aussehen könnte, detaillierte und nachvollziehbare Antworten in einer Sprache zu geben, die verständlich ist und als Diskussionsgrundlage „massentauglich“ sein könnte. Paul Masons vielfach zu recht kritisiertes „Postkapitalismus: Grundrisse einer kommenden Ökonomie“ schaffte es sogar in die internationalen Bestsellerlisten.

Für die Aktionsformen anlässlich solcher Großevents wäre zu überlegen, wie man es der von Kapfinger so genannten „Sicherheitsideologie“ möglichst schwer machen könnte. Hier haben die Vorfälle in Hamburg Ansatzpunkte geliefert. Zum einen wäre zu überlegen, ob die Bildung von „Schwarzen Blöcken“ der Ideologie- und Legendenbildung nicht zu viel Zucker gibt und angreifenden Polizeieinheiten ein zu leichtes Ziel liefert. Polizeiwidrige Aktionen lassen sich auch ohne martialisches Auftreten, abgebrannte Kleinwagen und eingeschlagene Scheiben organisieren. Dass „angesichts der verlorenen, weil wirkungslosen Formen des alten Protestes wie Streik oder Demonstrationen, der Riot derzeit offenkundig die Form [ist], die noch erschüttert und registriert wird, in der die Eigentumsordnung wenigstens gebrochen ist“, wie Karl-Heinz Dellwo schreibt, mag zutreffen, aber solange die Frage, warum hier wer zu welchem Zweck erschüttert werden soll, nicht sinnvoll beantwortet ist, kosten diese Erschütterungen politisch mehr als sie nutzen.

So bleibt der Riot der Ausgangspunkt, vondem sich die bürgerliche Ideologie am einfachsten und reflexhaft aufrichten kann. Um zu erschüttern, dürften weniger destruktive und besser vermittelbare Aktionen ausreichen. Eine Autobahnbesetzung, das zeigte sich etwa bei den Demos gegen Studiengebühren in Hessen, bringt den konservativen Kleinbürger genauso auf die Palme wie ein fliegender Stein; das Aufbrechen von Supermärkten wurde von spanischen Gewerkschaftsaktivist*innen zu einer vermittelbaren politischen Handlung, indem die Lebensmittel an Bedürftige verteilt wurden. Auf diese Weise könnte eine Gegenerzählung etabliert werden, in der der antikapitalistische Aktivist symbolisch das schafft, wozu der Kapitalismus untauglich ist, nämlich den gesellschaftlichen Reichtum dahin bringen, wo er gebraucht wird, bzw. die gigantische, die Natur zerstörende tägliche Blechlawine aufzuhalten.

Der auf verlorenem Posten Steine werfende Rebell hingegen bleibt eine bestenfalls romantische Figur, in der zwar auch die unbewusste Sehnsucht der Domestizierten nach Ausnahme, nach Mut und Selbstermächtigung flammt, an der sich aber gleichzeitig der staatsaffirmative Affekt der Kleinbürgerwelt aufrichtet. Diese Figur zieht somit deren Hass auf die eigene feige Einrichtung in einem sinnleeren Dahinwesen projizierend genauso auf sich wie den autoritären antikommunistischen, antianarchistischen Reflex, der eine Grundkonstante jedes kapitalistischen Staates ist.

Auch Martin Jürgens Argument, der in „konkret“ Büchner zitierend daran erinnert, dass die rohe Gewalt der „jungen Leute“ sich gegen ein inhärent gewalttätiges System richtet, das wenigen auf Kosten vieler nutzt, ist nicht von der Hand zu weisen, aber es hilft nichts: egal wie sehr angesichts der Verhältnisse Wut und Aggression berechtigt sein mögen: Sie sind in politischen Auseinandersetzungen nur unter ganz bestimmten Bedingungen hilfreich. Diese zu schaffen, ist eine politische Aufgabe der radikalen Linken.

Nicolai Hagedorn

Literatur

Emanuel Kapfinger: Links, gewaltbereit und demokratiefeindlich: http://lowerclassmag.com/2017/08/links-gewaltbereit-demokratiefeindlich-teil-12/ und

Der Kampf um die Sicherheitsideologie: http://lowerclassmag.com/2017/08/der-kampf-gegen-die-sicherheitsideologie-teil-22/

Martin Jürgens: Unrechtszustand, konkret 8/2017

Karl-Heinz Dellwo: Zum Riot im Schanzenviertel. Nicht distanzieren!: http://non.copyriot.com/zum-riot-im-schanzenviertel-nicht-distanzieren/

Zur Hamburger Polizei noch die Einschätzungen zweier Professoren der Polizeiakademie:
www.sueddeutsche.de/kolumne/g-gipfel-eine-harte-linie-gebiert-eskalation-1.3577711
www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/g20-rafael-behr-ueber-polizeigewalt-und-die-hamburger-linie-a-1159067.html