40 Jahre nach den dramatischen Ereignissen des "Deutschen Herbstes" 1977 erscheint voraussichtlich zur Frankfurter Buchmesse im Oktober Thomas Nufers Buch "heim.weh - Ulrike Meinhofs letztes Interview" (ISBN 978-3-89771-651-3, 8 Euro). Als Vorabdruck veröffentlichen wir hier das von GWR-Redakteur Bernd Drücke geschriebene Vorwort. (GWR-Red.)
Wie konnte es passieren, dass eine herausragende Journalistin der 1960er Jahre plötzlich Teil einer bewaffneten Stadtguerillagruppe wurde? An welchen Verhältnissen ist die christlich geprägte Humanistin und spätere Kommunistin Ulrike Marie Meinhof verzweifelt?
Diese Fragen sind heute, vierzig Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ und 41 Jahre nach Ulrike Meinhofs Tod, nicht wirklich beantwortet. Das liegt auch an den Massenmedien und einer oft oberflächlichen und zu wenig staatskritischen Publizistik in Deutschland. So ist das auflagenstärkste Buch zur Geschichte Ulrike Meinhofs und der Roten Armee Fraktion (RAF) nicht Jutta Dithfurts lesenswerte Ulrike-Meinhof-Biografie (Ullstein 2009), sondern immer noch ausgerechnet der 1985 erschienene „Baader-Meinhof-Komplex“ von Stefan Aust.
In diesem reißerischen Bestseller des damaligen „Spiegel“- und heutigen „Welt“-Herausgebers geht es primär um die Unterhosen von Andreas Baader, aber nicht um die Frage, warum Menschen wie Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und andere zu Terrorist*innen wurden.
Auch die 2008 erfolgte „Baader Meinhof Komplex“-Verfilmung war reißerisch und überaus erfolgreich, aber nicht aufklärerisch. Es handelt sich um konsum- und verwertungsorientierte Veröffentlichungen, die Marktinteressen verfolgen.
Politisierung, also Aufklärung über Macht- und Herrschaftsverhältnisse, ist in diesem Zusammenhang nicht erwünscht. Das trifft auch zu, wenn wir rückblickend die Berichterstattung der Massenmedien über die als „Baader-Meinhof-Bande“ gejagte Stadtguerillagruppe analysieren.
Die RAF-Mitglieder wurden von Medien und Politik als „Anarchistische Gewalttäter“ stigmatisiert, wobei „anarchistisch“ mit „chaotisch“ und „terroristisch“ gleichgesetzt wurde. So diente das eigentlich wunderbare Wort „Anarchist“ während der Terroristenhysterie der 1970er Jahre als Schmähbegriff. Dabei ging es nicht zuletzt auch darum, die so Geschmähten zu entmenschlichen und als Monster darzustellen.
Die Mitglieder der RAF verstanden sich keineswegs als „Anarchistinnen“ und „Anarchisten“. Sie distanzierten sich vom Anarchismus, der für sie eine „kleinbürgerliche, pseudorevolutionäre Ideologie“ war. Mit Anarchismus, also der libertär-sozialistischen Idee einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft, hatten die „Leninisten mit Knarre“ (agit 883 über die RAF) nichts am Hut.
Warum wählte Ulrike Meinhof den Weg in den bewaffneten Kampf?
Diese Frage stellte sich auch der Münsteraner Theatermacher Thomas Nufer. Nachdem er „Die Würde des Menschen ist antastbar“ mit „Konkret“-Aufsätzen und -Polemiken Ulrike Meinhofs aus den 1960er Jahren gelesen hatte, vertiefte der Künstler seine Recherchen. Dabei stieß der Autor unter anderem auf das ebenfalls vom Wagenbach Verlag veröffentlichte Drehbuch „Bambule. Fürsorge – Sorge für wen?“. Mit dem Film „Bambule“ kritisiert Ulrike Meinhof die autoritären, brutalen Methoden der Heimerziehung und lässt ehemalige Heiminsassinnen sich selbst spielen.
Die linke Journalistin Meinhof war eine der ersten Intellektuellen, die sich mit den Heiminsassinnen solidarisierte und aus dieser Position von unten die menschenunwürdigen Zustände in den Fürsorgeheimen ins öffentliche Bewusstsein rief.
Der Film ist als Teil der „Heimkampagne“ zu verstehen, mit der Ulrike Meinhof und andere radikale Linke ab Ende der 1960er Jahre die Fürsorge-Zöglinge zur antiautoritären Heimrevolte aufriefen. Die „Heimkampagne“ und der „Bambule“-Film können als Anfang vom Ende der autoritären Heimerziehung in der Bundesrepublik verstanden werden.
heim.weh
Als ich im Juni 2015 eine der ersten Aufführungen von Thomas Nufers „heim.weh“ im Café „Die Weltbühne“ in Münster sah, hat mich das Stück sofort begeistert. Nufer und den beiden Schauspielerinnen Corinna Bilke als Ulrike Meinhof und Janine Quandt als Irene Treber war es gelungen, mit diesem dokumentarischen Drama die unterschiedlichen Welten spürbar werden zu lassen, in denen die in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene Starautorin und die unterprivilegierte, proletarische Heimgeschädigte lebten.
Thomas Nufer lässt die von ihm als Kunstfigur erfundene Irene klare Worte an ihre Interviewerin richten: „Puppe, der Unterschied liecht doch klar uff der Hand – ick jeh am echtn Leben kaputt und du an irjend ner Scheiß-Theorie.“
Um sich auf das Filmprojekt vorzubereiten, trifft Ulrike Meinhof 1970 das ehemalige Heimkind, welches zu diesem Zeitpunkt als Tänzerin in einer Bar arbeitet. Der traumatisierten Irene fällt es schwer, sich Meinhof gegenüber zu öffnen. Sie leidet unter einer unübersehbaren Form der dissoziativen Identitätsstörung.
Doch durch die Treffen in einem Berliner Café verändert sich Irene. Angesichts des Interesses, das die Reporterin an ihrer Lebensgeschichte hat, erwacht ihr durch die Erniedrigungen im Heim verschüttetes Selbstbewusstsein und sie gibt immer mehr von ihrer traurigen Lebensgeschichte preis. Die geschilderten Grausamkeiten, die Irene Treber im Heimalltag erleiden musste, schockieren die wohlbehütet aufgewachsene Ulrike Meinhof. Die „Konkret“-Kolumnistin gehört zur Hamburger Bildungselite und ist in den 1960er Jahren mit ihren oft treffenden Analysen ein Star der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in der Bundesrepublik. Nun beginnt sie am Wert ihrer publizistischen Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Wirkung zu zweifeln.
Mit „heim.weh“ gelingt es Thomas Nufer, Menschen für das Leiden ehemaliger Heimkinder zu sensibilisieren. Irene Treber und andere, denen die Kindheit und Jugend durch eine postfaschistische „Schwarze Pädagogik“ zerstört wurde, sind Überlebende.
Ulrike Meinhof sah in den Heiminsassinnen auch Protagonistinnen im revolutionären Kampf gegen ein verhasstes, autoritäres System. Im Theaterstück prallen die idealistischen, revolutionären Vorstellungen der Kommunistin und späteren Terroristin auf Irenes bittere Realität und Verletztheit. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Ulrike Meinhof ideologisch verrannt hat. Anders als in ihrer Wunschvorstellung und Analyse, sind die von ihr idealisierten Opfer des Kapitalismus in der Realität nicht einfach umgekehrt Speerspitzen der Revolution.
Thomas Nufer möchte mit seinem Projekt Impulse für die öffentliche Debatte setzen.
„Gleichzeitig dient es der Prävention für Fehlentwicklungen in der heutigen Praxis der Heimerziehung“, so der Autor.
Regina Page beschreibt in ihrem 2006 im Engelsdorfer Verlag erschienen Buch „Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend. Zwangseinweisung in deutsche Erziehungsheime“ ihre Leidensgeschichte als Kind und Jugendliche in der bundesdeutschen Fürsorgeerziehung der 1950er und 1960er Jahre.
In einem bewegenden Vortrag skizziert sie den Alltag in den Heimen: „Wir lebten ohne zu leben.“
„In den Kinderheimen wurde sich an den strammen Zeitplan gehalten, ohne sich um die Bedürfnisse der Kleinkinder zu kümmern. Wer da aus der Reihe tanzte, allzu lebhaft war, wurde unter Umständen im Bettchen angeschnallt, und allzu lebhafte Kinder wurden mit Medikamenten ruhiggestellt. Oft starrten sie tagelang auf weiße Wände, die Folge: Hospitalismus. ( ) In den Heimen galt es, keine besonderen Bedürfnisse zu haben. Sich in den alltäglichen Heimbetrieb einzufügen, war oberstes Gebot. Die Suche nach einem Erwachsenen, der ein bisschen Mutter oder Vater hätte sein können, blieb eine Sehnsucht, die lediglich in Wünschen und Träumen Erfüllung fand.“
Regina Page erzählt, dass die Heimkinder keine liebevolle Zuwendung von Seiten der Erzieherinnen und Erzieher zu erwarten hatten und oft auch untereinander ein einsames, von Misstrauen und Ängsten geprägtes Leben führen mussten. Das ständige Leben im Kollektiv, das dennoch Auf-sich-allein-gestellt-sein und das undurchschaubare Ausgeliefertsein führten zu einem Gefühl der Auszehrung.
„Traurigkeit und Schmerz, aber auch Ärger und Zorn konnten nicht gelebt werden, weder äußerlich noch innerlich. ( ) Ich trage noch immer das Putzkleid aus dieser Zeit. Symbolisch zwar nur, doch schleppe ich die Last von damals mit mir herum, böse Worte, die mich ein Leben lang begleiten: du taugst nichts, du bist für die Gesellschaft nicht tragbar, du landest sowieso wieder in der Gosse. Nach so vielen Jahren haben sich diese Worte in meiner Seele festgesetzt.“
Mit Duldung und Beteiligung von Kirchen, Institutionen, Jugendämtern und Landschaftsverbänden und abgeschirmt von der Gesellschaft lebten Kinder und Jugendliche lange Jahre hinter den Mauern geschlossener Erziehungsanstalten. Dort erlitten sie Prügel, Missbrauch und verrichteten Zwangsarbeit. Schulbildung wurde ihnen weitgehend verwehrt. Es waren unfassbare Zustände, die sich in diesen Jahren in der Bundesrepublik abspielten.
Das Theaterprojekt „heim.weh“ nähert sich diesem noch immer weitgehend verdrängten Kapitel deutscher Geschichte. Die Inszenierung wirft Fragen auf: Nach dem Zusammenhang staatlich sanktionierter Nazi-Methoden, die in diesen Heimen überleben konnten, und dem Wegsehen der Menschen während der Zeit des Wirtschaftswunders.
Thomas Nufer ist es gelungen, mit der authentischen Geschichte des Heimzöglings aus dem Vinzenzheim in Dortmund und der engagierten Journalistin und späteren Stadtguerillera vergessen gemachte Zeitgeschichte erlebbar zu machen. Bei der Suche nach Antworten auf die eingangs gestellten Fragen kann „heim.weh“ hilfreich sein. Die Heimgeschichte empört, aber warum muss Empörung notwendig in bewaffneten Kampf umschlagen?
Warum mündete Meinhofs Empörung in bewaffneter Gewalt und nicht in andere Formen des Handelns?
Ulrike Meinhof war eine Moralistin, die schließlich den Irrweg des Terrors gewählt hat, statt des gewaltfreien Widerstands und der Aufklärung. Es gibt andere Ausdrucksformen für Empörung und Revolte. Wut kann in andere Bahnen gelenkt werden. Wie kann gewaltfreier Widerstand, wie kann sogenannte „Gegengewalt“ von unten aussehen, wenn sie nicht in Terror umschlagen soll? Die Empörung über die Zustände kann keine Rechtfertigung für den bewaffneten Kampf sein. Oder, wie es 1977 der Göttinger Mescalero in seinem kriminalisierten Artikel „Buback. Ein Nachruf“ in der Göttinger AStA-Zeitung ausdrückte:
„Unser Zweck, eine Gesellschaft ohne Terror und Gewalt (wenn auch nicht ohne Aggression und Militanz), eine Gesellschaft ohne Zwangsarbeit (wenn auch nicht ohne Plackerei), eine Gesellschaft ohne Justiz, Knast und Anstalten (wenn auch nicht ohne Regeln und Vorschriften oder besser: Empfehlungen), dieser Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel, sondern nur manches. Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden.“
Bernd Drücke