Die Antirassistische Initiative Berlin (ARI) dokumentiert seit 1993 Todesfälle und Verletzungen von Flüchtlingen im Kontext zu Deutschland.
Die aktuelle dreibändige Chronologie beschreibt Geschehnisse, bei denen Geflüchtete durch staatliche oder gesellschaftliche Gewalt körperlich zu Schaden kamen. Dokumentiert sind unter anderem Selbsttötungen und Selbstverletzungen, Todesfälle und Verletzungen vor, während und nach Abschiebungen, durch Gewalt von Polizei oder Bewachungspersonal oder durch unterlassene Hilfeleistung – aber auch durch unmittelbare Angriffe aus der Bevölkerung.
Die mittlerweile über 9.000 recherchierten Geschehnisse spiegeln einen Teil der Lebensbedingungen wider, unter denen schutzsuchende Menschen in der Bundesrepublik leiden müssen. Denn sowohl in den Flüchtlingslagern und Massenunterkünften als auch auf der Straße sind Geflüchtete besonderen Gewaltverhältnissen ausgesetzt. Rassistische Einzelpersonen oder Gruppen versuchen immer wieder, ihnen das Leben in Deutschland existentiell streitig zu machen und sie weiter zu traumatisieren: Durch rassistische Beleidigungen und Demütigungen, durch Bedrohungen sowie durch tätliche Angriffe, die die Betroffenen verletzen oder gar töten.
Sie sind die Schwächsten – minderjährige Flüchtlinge
In der aktuellen, 24. Auflage der Dokumentation wird deutlich, dass mit zunehmenden Migrationszahlen die Angriffe im öffentlichen Raum auch auf jugendliche Flüchtlinge deutlich zugenommen haben. Die Anzahl hat sich im Jahre 2016 mit 134 verletzten Minderjährigen im Verhältnis zum Jahr 2015 (23 Körperverletzungen) fast versechsfacht. Diese Werte können lediglich als Tendenz angesehen werden – die tatsächlichen Zahlen der Körperverletzungen sind erheblich höher, denn viele Attacken werden aus verschiedenen Ängsten heraus gar nicht bei der Polizei gemeldet.
Die Täter*innen machen keine Unterschiede im Hinblick auf das Alter oder gar den Aufenthaltsstatus ihrer Opfer. Sie greifen die Menschen entsprechend ihrem rassistischen Weltbild an.
Insbesondere für jugendliche Flüchtlinge gibt es wenig Sicherheit vor den tätlichen Angriffen – weder im öffentlichen Raum noch in den Unterkünften. Ob an der Haltestelle von Bus oder Straßenbahn, auf dem Schulweg, im Supermarkt, auf dem Sportplatz, in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Bahnhöfen oder in Parks: Die Angriffe können überall und zu jeder Zeit – angekündigt oder überraschend – stattfinden.
Am 2. Februar wurden in Osterburg zwei syrische Brüder, 13 und 14 Jahre alt, auf dem Hof eines Jugendzentrums von drei Männern rassistisch beleidigt und körperlich angegangen. Die Jungen flüchteten in eine Ecke des Platzes und wurden hier eingeholt. Ein Angreifer brachte den 13-Jährigen zu Boden, setzte sich auf seinen Brustkorb, schlug seinen Kopf mehrmals gegen einen Fahrradständer, dann würgte er ihn, während sein Komplize auf den Jungen eintrat und dessen Bein verdrehte. Auch der 14-Jährige wurde beleidigt, bespuckt und gewürgt. Ein Mitarbeiter des Jugendzentrums konnte den Angriff beenden und nahm den jüngeren Verletzten ins Haus – die Täter flohen.
Durch die Aufregung hatte der 14-Jährige seinen jüngeren Bruder aus den Augen verloren und begann mit einem Freund zusammen, ihn in der Stadt zu suchen. Hierbei trafen sie erneut auf die Täter, die sie jetzt mit einer Zaunlatte bedrohten und dem Freund damit gegen das Knie schlugen. Als weitere Personen hinzukommen, suchen die Täter das Weite.
Am 18. Februar wurde ein 11-jähriger Schüler auf dem Weg zur Turnhalle der Pestalozzischule in Limbach-Oberfrohna in der „Straße des Friedens“ von zwei 18 und 20 Jahre alten Männern verfolgt und angegriffen. Einer der Angreifer trat dem Kind in den Bauch und die Kniekehle. Als der Junge zu schreien begann, flüchteten die Täter.
Am 2. April letzten Jahres fuhr ein Motorradfahrer auf den Hof einer Schule in Halle, hielt vor einem achtjährigen syrischen Mädchen an, schlug es mit einer Bierflasche und entfernte sich wieder.
Am 10. August griff ein 35 Jahre alter Mann auf dem Gelände der Regelschule im thüringischen Kölleda einen 14-jährigen Jungen aus Afghanistan an, beschimpfte ihn rassistisch, schlug auf seinen Kopf ein, würgte ihn.
Am 9. September um 8.15 Uhr vor dem Jobcenter in Bad Freienwalde rief ein Mann aus seinem Auto heraus einen 14-jährigen Flüchtling aus Afghanistan zu sich heran. Als der Junge bei ihm war, sprühte der Täter ihm Reizgas ins Gesicht und fuhr davon.
Am 30. September wurden auf dem Schweriner Marktplatz zehn unbegleitete Flüchtlinge von 30 deutschen Männern angegriffen. Ein Teil der Aggressoren drängte die Jugendlichen in eine Seitenstraße und somit in die Sackgasse, denn hier warteten andere Rassisten, die sie mit Fußtritten und Schlägen traktierten. Die gerufene Polizei stellte bei den Angreifern Schlagringe und Pfefferspray sicher. Später stellte sich heraus, dass dieser Angriff über rechte Internet-Foren geplant und verabredet gewesen war.
Unbegleitete Minderjährige
Viele flüchteten schon als Kinder oder wurden von den Eltern losgeschickt und erreichten Deutschland erst nach ein, zwei oder mehr Jahren: Es sind die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Sie haben schweres Gepäck dabei – nicht im Rucksack sondern im Kopf.
Es sind die Verfolgungsängste, der Kriegsterror, die Gefahren auf dem langen Weg nach Europa, die Gewalt und das Ausgeliefertsein den Schleppern und anderen Erwachsenen gegenüber – es ist auch das Heimweh, die Sehnsucht nach der Familie – es ist die Einsamkeit in der anderen Kultur mit einer ihnen unbekannten Sprache.
Ab 2014 hat sich die Zahl der unter 18-jährigen Flüchtlinge, die „ohne Begleitung einer sorgeberechtigten Person die deutschen Grenzen überschritten“, deutlich erhöht.
Waren es in 2014 noch 11.642, so wurden 2015 rund 42.300 registriert, von denen 22.300 Asyl beantragten.
2016 stellten 35.939 unbegleitete Jugendliche Asylanträge – eine Information über die Gesamtzahl der eingereisten unbegleiteten Jugendlichen in 2016 hat das Statistische Bundesamt bis dato nicht bekannt geben.
Nach dem Überlebenskampf der Flucht beginnt für diese Kinder und Jugendlichen der Kampf ums Bleiberecht, um eine Lebensperspektive, um Frieden im Kopf.
Das ist nicht einfach für die jungen Menschen, die schon viele Narben auf der Seele haben, sich der Bürokratie und deren oft unerbittlichen Handlanger*innen in den Behörden zu stellen. Immer wieder gibt es Rückschläge – sei es bei der schwierigen Suche nach einer Ausbildung, sei es durch die Erfahrung, dass Freund*innen abgeschoben werden, sei es durch schlimme Nachrichten von Zuhause. Das magische Datum des 18. Geburtstags immer vor Augen, ein Datum, an dem wieder alles anders werden kann und alles bisher Erreichte zunichte gemacht wird. Mit 18 Jahren gelten sie als Erwachsene und werden behördlich entsprechend behandelt. Ab dann wird die Angst, aus ihrem sozialen Umfeld gerissen zu werden, wieder real: Die Abschiebung wird konkret möglich.
Der 17-jährige Ali Azizi legte sich am Abend des 17. Januar 2016 bei heftigem Schneetreiben in Höhe des Busbahnhofs im sächsischen Rodewisch auf die Fahrbahn der Bundesstraße 169. Der Fahrer eines Opel Astras erkannte den dunkel gekleideten Afghanen zu spät und überrollte ihn. Der Jugendliche starb noch vor Ort. Seine Eltern leben als Flüchtlinge in Teheran.
2. Mai 2016: Im bayerischen Auerbach sprang ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan in suizidaler Absicht aus einem Fenster des 1. Stocks seiner Unterkunft. Als er merkte, dass er dies relativ gut überstanden hatte, begab er sich in den 2. Stock, um sich erneut aus dem Fenster zu stürzen. Dieses konnten ein Betreuer und andere Bewohner verhindern.
21. Oktober 2016: Schmölln im Bundesland Thüringen – Landkreis Altenburger Land. Als die Rettungskräfte eintrafen, befand sich ein jugendlicher Flüchtling aus Somalia auf einer Fensterbank in der 5. Etage seiner Betreuungseinrichtung.
Seine Beine hingen im Freien. Während Notarzt und Betreuer versuchten, den 17-Jährigen von seinem Vorhaben abzubringen, positionierte die Feuerwehr ein Sprungpolster und eine Drehleiter. Kurz nach 15.00 Uhr ließ der Junge sich aus 15 Metern Höhe fallen und blieb neben dem Sprungpolster liegen. Im Altenburger Krankenhaus erlag er seinen schweren Verletzungen.
Der junge Somalier war durch die Sahara, Libyen und über das Mittelmeer nach Europa, dann über die Schweiz nach Frankfurt am Main gekommen, wo er im März um Asyl gebeten hatte.
Im Gegensatz zu der Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen unterliegen Kinder und Jugendliche, die mit ihren Eltern flüchteten, wieder anderen Zwängen. Oft müssen sie Rollen übernehmen, die ihre Entwicklung stark beeinflussen können. Aufgrund ihrer besseren Sprachkenntnisse werden sie bei Behördengängen oder Arztbesuchen der Erwachsenen oft mitgenommen, um zu übersetzen. Das Familiengefüge verändert sich, die Kinder übernehmen die Fürsorge und fühlen sich in der Verantwortung für ihre kranken oder überforderten Eltern und Geschwister. Sie sind mehrfach belastet und müssen zudem jahrelang mit der Angst leben, durch die Abschiebung der Familie aus ihrem Umfeld gerissen zu werden: Abgeschoben zu werden in das Land, vor dem ihre Eltern so große Angst haben, das sie selbst nicht kennen und dessen Sprache sie oft nur lückenhaft beherrschen.
Angesichts der ständig drohenden rassistischen Gewalt im öffentlichen Raum, stellt sich die Frage, ob es den ohnehin psychisch angeschlagenen Jugendlichen gelingt, ein positives Lebensgefühl zu entwickeln. Denn jeder Angriff auf den eigenen Körper hinterlässt Spuren – traumatisierend kann auch schon die permanente Bedrohung sein.
Wie sollen sie Vertrauen zu Menschen und dieser Gesellschaft entwickeln, wenn sie einerseits durch die Aufenthaltsgesetze über Jahre existentiell bedroht werden und andererseits im alltäglichen Leben rassistische Demütigungen und Beleidigungen erleben und jederzeit mit tätlichen Angriffen rechnen müssen?
24 Jahre Recherche und Dokumentation des staatlichen und gesellschaftlichen Rassismus
Im Zeitraum vom 1. Januar 1993 bis 31. Dezember 2016 töteten sich 217 Flüchtlinge angesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen – davon befanden sich 73 Menschen in Abschiebehaft. 1875 Flüchtlinge verletzten sich aus Angst vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung (Risiko-Hunger- und Durststreiks) oder versuchten, sich umzubringen – davon befanden sich 701 Menschen in Abschiebehaft.
Fünf Flüchtlinge starben während der Abschiebung und 526 wurden durch Zwangsmaßnahmen oder Misshandlungen während der Abschiebung verletzt.
35 Flüchtlinge kamen nach der Abschiebung in ihrem Herkunftsland zu Tode, und 605 wurden im Herkunftsland von Polizei oder Militär misshandelt, gefoltert oder gerieten aufgrund ihrer schweren Erkrankungen in Lebensgefahr.
74 Flüchtlinge verschwanden nach der Abschiebung spurlos.
205 Flüchtlinge starben auf dem Wege in die Bundesrepublik oder an den Grenzen, davon allein 131 an den deutschen Ost-Grenzen, drei Personen trieben in der Neiße ab und sind seither vermisst. 681 Flüchtlinge erlitten beim Grenzübertritt Verletzungen, davon 345 an den deutschen Ost-Grenzen.
22 Geflüchtete starben durch direkte Gewalteinwirkung von Polizei oder Bewachungspersonal entweder in Haft, in Gewahrsam, bei Festnahmen, bei Abschiebungen, auf der Straße oder in Behörden – mindestens 1074 wurden verletzt. 23 starben durch unterlassene Hilfeleistung. 83 Geflüchtete starben in den Flüchtlingsunterkünften bei Bränden, Anschlägen oder durch Gefahren in den Lagern, 1421 Flüchtlinge wurden dabei z.T. erheblich verletzt.
24 Flüchtlinge starben durch rassistische Angriffe im öffentlichen Bereich und 1683 wurden dabei verletzt.
Durch staatliche Maßnahmen der BRD kamen seit 1993 mindestens 507 Flüchtlinge ums Leben – durch rassistische Angriffe und die Unterbringung in Lagern (u.a. Anschläge, Brände) starben 107 Menschen.
Dokumentationsstelle der Antirassistischen Initiative Berlin