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Wer will den Bürgerkrieg?

Zur Kritik des "Insurrektionalismus", Teil 1: Peter Gelderloos

| N.O. Fear

Die Auseinandersetzung mit der von Teilen einer internationalen Aktivenszene vertretenen Ideologie des "Insurrektionalismus" haben wir in der Graswurzelrevolution in den letzten Jahren dezent vermieden. Die oft in Verkürzungen, problematischen Begriffen und falschen Gegenüberstellungen geführten Diskussionen nach Hamburg sind ein Anlass, sich aus gewaltfrei-anarchistischer Sicht mit dieser Ideologie, anhand verschiedener ihrer internationalen VertreterInnen genauer auseinanderzusetzen. Der "Insurrektionalismus" ist seit der Blockade der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle 1999 (vgl. GWR 245) medial ins Rampenlicht gerückt. Wir fangen hier mit einer aktuellen Auseinandersetzung zum "Insurrektionalismus" von Peter Gelderloos an. Weitere werden folgen. (GWR-Red.)

Militante Aktionen wie jüngst in Hamburg beim G20-Gipfel waren in der BRD der letzten Jahre alles andere als neu: Die „Riots“ zum 1. Mai gingen jahrelang spektakulär durch die bürgerliche Presse, hatten sich aber dann totgelaufen. Anstatt einer Aufarbeitung, wird diese Tradition in manch linken Idealisierungen verschwiegen, zum Beispiel von Karl-Heinz Dellwo in seinem Text zum Hamburger G20-„Riot“. Dellwo tut so, als wäre in Hamburg eine ganz neue Form des Riot entstanden, als sei die Welle der Riots aus anderen Ländern nun plötzlich in die BRD geschwappt. Er fügte wie weiland schon zu RAF-Zeiten hinzu, man dürfe sich nun ja nicht davon „distanzieren“. (1)

Seine Analyse spricht Bände: Die Nicht-Erwähnung der 1. Mai-Riots durch den Riot-Befürworter Dellwo ist ein Beleg dafür, dass sie faktisch an emanzipativen Zielen nichts erreicht haben und Herrschaftspolitik nicht strukturell zurückdrängen konnten, anders als z.B. die Bewegung der Castor-Blockaden. Hätten diese Riots etwas erreicht, hätte sich Dellwo gerade darauf positiv bezogen.

Reale Auswirkungen hatten sie jedoch sehr wohl, allerdings negative: Die bürgerliche Sensationspresse warf sich darauf und trug zum Aufbau eines öffentlichen Klimas bei. Durch dieses wurden Hetzkampagnen wie im Vorfeld der G20-Aktionen, auf Hamburg seien 8000 „gewaltbereite Linksautonome“ im Anmarsch, mit ermöglicht: Eine Phantasiezahl, aber geeignet, ein gesellschaftspolitisches Rahmenklima für Polizeirepression zu schaffen, Aufrufe zur Menschenjagd via Bild-Zeitung mit inbegriffen. Während der bürgerliche Pressebegriff „gewaltbereit“ die angebliche, real aber nie von außen feststellbare Intention noch vor der faktischen Gewaltaktion ganz modern wie auch beim terroristischen „Gefährder“ ins spekulative Vorfeld verlegt und „Linksautonome“ von der Sprachlogik her suggeriert, der ganz normale Autonome sei ein Rechter, ist jedoch auch ein linker, hier von Dellwo benutzter Bewertungsbegriff „Distanzierung“ irreführend.

Er unterschlägt die politische Herkunft einer Kritik. Jeder Kritik wohnt demnach mehr oder weniger dieselbe „Distanz“ inne, somit ist sie unangebracht. Sie liegt auf der Linie der Herrschenden und ist konterrevolutionär.

„Distanzierung“ ist einer dieser sozialtechnologischen Begriffe, die in Bewegungskreisen zunehmend übernommen werden, wie etwa auch „Eskalation“ statt Radikalisierung bei den Schritten einer Aktionskampagne.

Als gewaltfreier Anarchist akzeptiere ich die inhaltliche Bevormundung durch den Begriff der „Distanzierung“ nicht. Schon zu RAF-Zeiten haben sich gewaltfreie AnarchistInnen in Wirklichkeit nicht von RAF-Aktionen distanziert, sondern wir haben die RAF und das autonome Konzept „Massenmilitanz“ aus emanzipatorischer, gewaltfrei-anarchistischer Perspektive politisch kritisiert. Das ist etwas grundlegend anderes: Durch die politische Benennung wird die Herkunft der Kritik sichtbar und unterscheidet sich qualitativ von der des Staates und der bürgerlichen Medien. Diesen Unterschied, ja Gegensatz zuzudecken, ist Sinn und Zweck eines Begriffs wie „Distanzierung“. Politische Kritik von unten soll mit der Herrschaftskritik des Staates gleichgesetzt und damit ideologisch verboten werden.

Die Verwendung des Begriffs zur Abwehr von politischer Kritik und selbstkritischer Diskussion aus und in Bewegungskreisen ist deshalb autoritär.

„Insurrektionalismus“: Gewaltfetisch als Selbstzweck

Allerdings kommen heute die Begründungen und Legitimationen von selbst ernannten „Riots“ meist aus einer anderen Richtung. Was in Bewegungen inzwischen „Insurrektionalismus“ genannt wird, kommt aus der anarchistischen Bewegung Griechenlands, Italiens und auch aus den USA. In Frankreich kann etwa das „Unsichtbare Komitee“ dazu gerechnet werden. (2) Auch hier geht es um ideologische Begriffsprägungen: „Insurrektion“ heißt Aufstand, der Begriff wird auch oft als „aufständischer Anarchismus“ übersetzt – und sowohl im Original wie in dieser Übersetzung von mir ebenfalls nicht anerkannt, aus dem einfachen Grund, weil es auch eine „gewaltfreie Insurrektion“, einen „gewaltfreien Aufstand“, eine „gewaltfreie Revolution“ gibt. Gerade diese revolutionäre, systemfeindliche Alternative soll durch die versuchte Begriffsbesetzung unterschlagen und denkunmöglich gemacht werden. Ohne uns gewaltfreie AnarchistInnen!

Prägend für diese Strömung ist der Kampf für und die Erwartung eines unmittelbaren gewaltsamen, bewaffneten Aufstands. Es ist eine Hoffnung auf Bürgerkrieg: Nicht von ungefähr heißt ein Buchtitel dieser Strömung „Anleitung zum Bürgerkrieg“ (Tikkun). Der „Insurrektonalismus“ ist teils auch der theoretische Hintergrund von Formationen des Schwarzen Blocks („Black Bloc“) bei internationalen Gipfelprotesten.

Die Strömung bezieht sich historisch oft auf das Vorbild der deutschen Autonomen-Bewegung der Siebziger- und Achtzigerjahre, bezeichnet sich aber als alleinig „anarchistisch“, was so eindeutig von den Autonomen damals keineswegs gesagt werden konnte. Dort spielten auch marxistisch-leninistisch-antiimperialistische Traditionen eine wichtige Rolle.

Von den Autonomen unterscheiden sich die „InsurrektionalistInnen“ durch ihren noch einmal ins Extrem gesteigerten Gewaltfetischismus, der schon in der Geschichte der Autonomen immer auch zu Kritik, manchmal auch zu Selbstkritik geführt hat: dass nämlich die vertretenen gesellschaftspolitischen Inhalte oft durch den militant-gewaltsamen Habitus bei den immergleichen Aktionen zu sehr in den Hintergrund treten.

Dabei gibt es heute auch einen Generationenunterschied. Im Grunde versinnbildlicht diesen Unterschied die in Hamburg öffentlich gewordene Kritik von älteren Autonomen aus der Roten Flora an willkürlichen militanten Aktionen im Schanzenviertel. So meinte etwa Andreas Blechschmidt von der Roten Flora gegenüber der bürgerlichen Presse: „Ich sag das mal als Autonomer der Roten Flora: Sich Auseinandersetzungen mit der Polizei zu liefern ist das eine – aber das hatte irgendwann wirklich einfach nur noch diesen Selbstzweck.“ (3)

Es gab tatsächlich Autonome im Schanzenviertel, die willkürlich handelnde Jugendliche, die ein Geschäft im unteren Bereich eines Wohnhauses in Brand setzen wollten, davon abhielten.

Nicht alle am Riot Beteiligten waren „InsurrektionalistInnen“.

Es war in den meisten Aussagen und Interviews von einer heterogenen Zusammensetzung die Rede, von Partykids über Prekäre, internationale AktivistInnen, MigrantInnen, sogar Islamisten – die Motive also äußerst unterschiedlich.

Sobald dies aber in einen Gewaltfetisch mündet, wird das von „InsurrektionalistInnen“ begrüßt. Ein ganz anderer Ansatz wäre, diese willkürliche Gewalt als Ergebnis gerade neoliberaler Gewalt und einer damit einher gehenden Brutalisierung der Gesellschaft zu sehen.

Ein ähnlicher Unterschied und daher eine ziemlich weitgehende immanente Kritik findet sich auch in der Auseinandersetzung von Gabriel Kuhn mit einem der besonders lautstark auftretenden Aktivisten des „Insurrektionalismus“, Peter Gelderlos aus den USA. Kuhns schon lange im Internet auf Englisch geführte Auseinandersetzung ist jetzt in Deutsch als Teil seines Buches „Anarchismus und Revolution“ (4) erschienen (S. 123-142). Wichtige Bücher des US-„Insurrektionalismus“ sind bisher nicht in deutscher Sprache erschienen. Sie werden jedoch in Englisch und über das Internet rezipiert. Es sind „How Nonviolence Protects the State“ (5) und „The Failure of Nonviolence: From the Arab Spring to Occupy“ (6) von Peter Gelderloos sowie „Pacifism as Pathology: Reflections on the Role of Armed Struggle in North America“ (7) von Ward Churchill (8).

Gabriel Kuhn setzt sich in seiner Entgegnung ausschließlich mit den Thesen von Peter Gelderloos auseinander.

Er empfiehlt zwar die Lektüre der Bücher, aber referiert den Inhalt und bringt ausführliche Zitate, so dass man sich anhand von Gabriels Text einen durchaus ausreichenden Eindruck von Gelderloos machen kann.

Die „InsurrektionalistInnen“ und ihr Hass auf die Gewaltfreien

Die jüngsten Bücher des „Insurrektionalismus“, besonders die von Gelderloos, sind in manchen Teilen geradezu Hasstiraden auf gewaltfreie BewegungsaktivistInnen. Gabriel Kuhn, der selbst erklärtermaßen „in den späten 1980er-Jahren im Kontext der deutschsprachigen autonomen Bewegung politisiert“ (S. 125) wurde, muss Gelderloos in seinem Text erst auf die Existenz des gewaltfreien Anarchismus um die „Graswurzelrevolution“ hinweisen.

Der Blick von den USA auf die deutschen Autonomen geschah immer unter Ausschluss der Strömung der „Gewaltfreien“ in der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung und ihres mindestens genauso großen, wenn nicht größeren Verdienstes am relativen Erfolg beider Bewegungen. Verschaffen wir uns einen Eindruck von diesem Hass, den wir als gewaltfreie AnarchistInnen überhaupt in seiner gesamten Dimension erst zur Kenntnis nehmen und mit ihm umgehen müssen. Gelderloos:

„Gewaltfreiheit hat weltweit versagt. Es ist augenscheinlich, dass sie sich mit Regierungen, Parteien, Polizeibehörden und NGOs ins Bett gelegt und unsere Kämpfe um Freiheit, Würde und Wohlergehen verraten hat.

Die meisten Befürworter*innen der Gewaltfreiheit umgarnen die Medien, den Staat und wohlhabende Mäzene; sie verwenden die billigsten Tricks, Lügen und nicht zuletzt Gewalt (etwa wenn sie andere Protestierende angreifen oder den Bullen helfen, Verhaftungen vorzunehmen), um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, selbst wenn das die Spaltung und das Ende der Bewegung bedeutet. […]Gewaltfreie Bewegungen haben selten eine grundlegende Kritik an Herrschaft und Ausbeutung bzw. an den dafür verantwortlichen Machtstrukturen.[…] Wenn wir uns die wichtigsten Aufstände seit dem Ende des Kalten Krieges ansehen, hat es tatsächlich den Anschein, als könne die Gewaltfreiheit selbst diese kosmetischen Veränderungen nur dann bewirken, wenn sie die Unterstützung eines großen Teils der Elite hat, und zwar gewöhnlich den der Medien, der Reichen und zumindest eines Teils des Militärs. Gewaltfreier Widerstand war noch nie fähig, der vollen Kraft des Staates zu widerstehen. Kommt es nicht zu der besagten elitären Unterstützung, dann ist strikte Gewaltfreiheit der sicherste Weg, eine Bewegung zu töten. […] Es geht hier nicht um abstrakte Konzepte, sondern um Leben und Tod. Ich denke, dass angesichts der Heuchelei, der Manipulationen, der Lügen, der Kollaboration mit den Herrschenden und einer als politische Reife verkleideten Feigheit, Wut nicht nur erlaubt, sondern notwendig ist.“ (9)

Gelderloos spricht mehrfach von seinem „Zorn“ gegen Gewaltfreie und wie „wütend“ er auf sie sei. Dagegen klingen vereinzelte Stellen, dass es nicht sein Ziel sei, „alle Personen, die Gewaltfreiheit bevorzugen, anzuklagen“ oder Leute, die – aber nur „persönlich“ – gewaltfreie Taktiken bevorzugen, „respektiert“ werden sollten (10), heuchlerisch.

Gewaltfreie AnarchistInnen müssen sich verdeutlichen, dass viele, vor allem junge „InsurrektionalistInnen“ solche Texte positiv rezipieren und solche Urteile auch übernehmen.

Mir persönlich fällt es zunehmend schwer, solche Passagen oder gar diese Bücher zu lesen, manchmal finde ich es nur lächerlich, manchmal dreht sich mir der Magen um; gegen jeden Satz könnte ich zahlreiche Gegenbeispiele nennen oder selbst ein ganzes Buch schreiben.

Das Niveau solcher Kritik ist schlimmer als jede bürgerliche Kritik an der Naivität oder dem Idealismus der Gewaltfreiheit, wenn wieder einmal ein Krieg oder Bundeswehreinsatz legitimiert werden soll. Solche Kritik ist kaum noch zu unterscheiden vom vulgären Niveau der Bild-Zeitung. In rund 25 Jahren eigener Praxis in gewaltfreier Aktion innerhalb der Friedens- und Anti-AKW- und Antiglobalisierungsbewegung habe ich es nicht einmal erlebt, dass ein gewaltfreier Aktivist bei einer Aktion einen Autonomen der Polizei ausgeliefert oder mit dem Finger auf ihn gezeigt und gesagt hätte: „Den müssen Sie jetzt festnehmen.“

Wie sah der Karriereweg vieler ach so revolutionärer, militanter AktivistInnen aus?

Waren die entscheidenden VertreterInnen des regierungsamtlichen Reformismus in der BRD, der Bombenkriege in Ex-Jugoslawien und Afghanistan, die aus den sozialen Bewegungen kamen, etwa Gewaltfreie?

War ein Joschka Fischer vorher ein Gewaltfreier oder ein Militanter? Oder Jürgen Trittin? Oder Reinhard Bütikofer? Oder Dani Cohn-Bendit? Gar nicht zu sprechen von der internationalen Ebene mit den Karrieren zahlloser Ex-Guerilleros von Yassir Arafat bis zu Robert Mugabe, von Mao bis zu Chávez und Maduro, die alle als Staatschefs endeten. Sie müssten benannt werden, wenn Gelderlos einseitig über die angebliche Staatskollaboration der Gewaltfreien herzieht.

Gelderloos suggeriert die Durchsetzungsfähigkeit bewaffneter Verbände im Gegensatz zu den Gewalfreien. Doch die Reflexion des „Insurrektionalisten“ hält einfach beim militärischen Sieg inne, sie kümmert sich nicht um das, was nach der Machteroberung kommt.

Dem entspricht übrigens eine typische Utopiefeindlichkeit des „Insurrektionalismus“: Alles ist kampforientiert, der unmittelbaren Zerstörung gewidmet, Utopien einer herrschaftsfreien Gesellschaft interessieren nicht, schon gar nicht, dass diese eine gewaltfreie Vision beinhalten und wie sie schließlich verwirklicht werden sollen.

Gabriel Kuhns Bestätigung der Utopie einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft

Es ist Gabriel Kuhn hoch anzurechnen, dass er vielen Darstellungen Gelderloos‘ entschieden widerspricht. Gelderloos bleibe den Beleg dafür schuldig, „dass gewaltfreie Taktiken nie funktionieren, andere Taktiken aber schon“ (S. 131), die Gelderloos übrigens meist „kämpferisch“ oder „konfrontativ“ nennt – ganz so, als sei gewaltfreie Aktion gar kein Kampf und auch keine Konfrontation mit den Herrschenden. Das ist eine Zuschreibung, die übrigens in bürgerlichen Medien durch die Bezeichnung „friedlicher Protest“ statt gewaltfreiem Widerstand ganz genauso propagiert wird. Hier wird eine nicht-konfrontative Mentalität beiderseits herbeigeredet. Kuhn bemängelt in diesem Zusammenhang, dass Gelderloos den Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa 1989/90 – mit Ausnahme von Rumänien in gewaltfreier Konfrontation ohne Elitenunterstützung verursacht – „fast gänzlich ignoriert“ (S. 131), obwohl doch Gelderloos auch einige Zeit in Europa verbracht hat. Ich füge hier hinzu: Auch die jahrzehntelangen Diktaturen in Tunesien und Ägypten 2011 hat eine weitgehend gewaltfrei agierende Massenbewegung gestürzt, bevor dann gerade der Übergang zum Bürgerkrieg zu erneuter Diktatur führte. In Ägypten entwickelte sich nach dem Sturz Mubaraks und während der islamistischen Präsidentschaft Mursis eine militante anarchistische sogenannte Black-Bloc-Strömung, die die Straßenschlachten gegen das Mursi-Regime vorantrieb. Bürgerkriegsähnliche Zustände waren aber ganz im Sinne des ägyptischen Militärs, das dann putschte und nicht nur die Mursi-AnhängerInnen, sondern auch gleich alle Oppositionelle inklusive der Millitanten unterdrückte – soviel zur These Gelderloos‘, Gewaltfreie würden immer von Eliten unterstützt, „zumindest eines Teils des Militärs“.

Im Gegenteil: Gewaltfreie sind prinzipielle AntimilitaristInnen, im Gegensatz zu den „InsurrektionalistInnen“. Allerdings geht es den Gewaltfreien strategisch auch immer darum, das herrschende Militär zu spalten, denn das schwächt die Herrschaft.

Den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur ebnet Gelderlos einfach als „fiktiv“ ein. Gabriel Kuhn wehrt sich aber „entschieden gegen die Behauptung (…), dass der Unterschied zwischen Österreich 1943 und Österreich 2013 ein fiktiver ist“ (S. 132). Dabei bleibt anarchistische Demokratiekritik unbenommen, nur muss sie in Relation gesetzt werden.

Kuhn durchschaut auch Gelderloos‘ billiges Manöver, gewaltfreien AktivistInnen eine Gier nach medialer Aufmerksamkeit vorzuwerfen. Denn Gelderloos bejubelte selber etwa die mediale Aufmerksamkeit für die militanten Aktionen in Seattle.

Seit wann aber, so fragt Kuhn, „ist mediale Aufmerksamkeit der Maßstab“ (S. 140) für Wertvolles oder Erfolg, sobald sie nur dem eigenen Spektrum gilt? Auch für Hamburg könnte sich Gelderloos über mediales Spektakel für sein Spektrum wohl kaum beklagen.

Eine der kuriosesten und auch abstrusesten Thesen Gelderloos‘, die auch einen klaren Unterschied zwischen früherem autonomem Selbstverständnis und dem des „Insurrektionalismus“ ausmacht, ist die Behauptung: „Gewalt existiert nicht“ (S. 127). Begründung: In zahlreichen Workshops, die Gelderloos durchgeführt habe, habe sich nie jemand auf dieselbe Definition von Gewalt einigen können. „Das vielleicht wichtigste Argument gegen Gewaltfreiheit ist jenes, dass der Begriff der Gewalt so schwammig ist“ (S. 129). Damit verfolgt Gelderloos eine Verwischung der Grenzen von gewaltfreier zu gewaltsamer Aktion: „Es spielt überhaupt keine Rolle, welche Aktivitäten ‚gewalttätig‘ oder ‚gewaltfrei‘ sind.“ (11) Das hindert ihn übrigens keineswegs daran, von „Polizeigewalt“ zu sprechen. Da existiert Gewalt plötzlich schon. Gabriel Kuhn antwortet hier mit einem Lob für gewaltfreie AktivistInnen, dass sie sich bemühen, den Unterschied zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt definitorisch zu benennen. Das sei wichtig für die Vorstellung der emanzipativen Utopie einer neben allen anderen herrschaftsfreien Formen auch gewaltfreien Gesellschaft, die ja als Ziel des Kampfes aufscheinen soll. Kuhn hier über Gewaltfreie:

„Sie stehen hier auf recht sicherem ethischen Grund. (…) Jemanden zu verletzen oder zu töten oder (…) Aktionen [durchzuführen], die möglicherweise zu solchen Konsequenzen führen, verlangen strengere Formen der Legitimation. (…) Wenn wir nicht gewillt sind, Aktionsformen ihrer unterschiedlichen ethischen Implikationen gemäß zu betrachten, laufen wir Gefahr, Gewalt zu trivialisieren. Es gibt Phrasen, die mit Gelderloos‘ Behauptung, dass ‚Gewalt nicht existiert‘, verwandt und in bestimmten Kreisen beliebt sind. Dazu zählen ‚Gewalt ist überall‘ oder ‚Wir leben nun einmal in einer gewalttätigen Gesellschaft‘. Im besten Fall sind diese Phrasen nichtssagend: Im schlimmsten Fall sind sie dumme Entschuldigungen für noch dümmere Aktionen.“ (12)

Begründung: scheißegal

Die beiden letztgenannten Phrasen sind klassische Entgegnungen, die mir Autonome häufig entgegen schleuderten. Gelderloos‘ These, dass es Gewalt gar nicht gibt, ist dagegen typisch insurrektionalistisch. Ich möchte hier anfügen, dass „InsurrektionalistInnen“ wahlweise auch die beiden anderen Phrasen benutzen. Dies zeigt etwas Entscheidendes auf: Die Abwesenheit, ja willkürliche Haltung oder Ignoranz gegenüber einer stringenten Gesellschaftstheorie und -analyse. Denn zwischen der Einschätzung „Gewalt existiert nicht“ (deswegen ist meine Aktion „kämpferisch“ oder „konfrontativ“) und „Gewalt ist überall“ (deswegen ist es nur konsequent, wenn auch ich Gegengewalt anwende) liegen in der Gesellschaftstheorie Welten.

Das sind gegensätzliche theoretische Konstrukte. Es tritt hier die theoretische Schwäche des „Insurrektionalismus“ offen zutage. Theorie und Gesellschaftsanalyse werden überhaupt obsolet, wenn gleichzeitig ein Tatbestand und sein Gegenteil behauptet werden können, um zur selben Form von Aktion zu kommen. Oder anders gesagt: Nur die Form der Aktion zählt, die Begründung ist scheißegal.

Gewalt wird um der Gewalt willen ausgeübt. Hierin zeigt sich der Hyperfetischismus der gewaltsamen Aktion im „Insurrektionalismus“. In gewisser Weise ist es „InsurrektionalistInnen“ gegenüber im Gespräch unmöglich, ihren Fetisch den Kriterien einer rationalen Diskussion zu unterziehen. Gewaltfreien werfen sie „Dogmatismus“ vor, während Dogmatismus in Wirklichkeit das Festhalten an einer Haltung bezeichnet, die nicht argumentativ begründet werden kann.

Es gibt ein sektiererisches In-Group-Verhalten, das zum Beispiel den Schrei nach der Notwendigkeit der unmittelbaren bewaffneten Revolution überhaupt nicht in Beziehung setzt zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage, in der diese unmittelbare Revolution stattfinden soll. Welche Kräfte stehen dem entgegen, wie verhalten sich die Mittelschichten, können wir sie spalten und damit schwächen, gibt es eine neofaschistische Gefahr des Gegenschlags?

Müsste denn nicht erst eine emanzipative Massenbewegung mit stabil remobilisierbaren Hunderttausenden aufgebaut werden, eine revolutionäre Massenorganisierung entstehen?

Warum hat sich die CNT in Spanien über drei Jahrzehnte hinweg kulturell und organisatorisch verbreitet, bis es zur Revolution kam? Man kümmert sich konsequent auch nicht, weder theoretisch noch praktisch, um Bündnisstrategien mit anderen Spektren, sie gelten alle als systemtragend, nur selbst ist man fähig, die Gesellschaft umzuwälzen – das sind inhaltliche Mechanismen von Identitätspolitik. Gleichzeitig überlässt man die Vermittlung in die Öffentlichkeit den herrschenden Medien und sonnt sich insgeheim noch in deren verzerrter, spektakulärer Darstellung, die ganz andere Interessen verfolgt.

So erzeugen beide, herrschende Medien und „InsurrektionalistInnen“ den Eindruck bürgerkriegsähnlicher Zustände, dem zum Glück in der BRD jedoch – noch – keine soziale Realität entspricht.

N.O. Fear

(1) Vgl. Karl-Heinz Dellwo in seiner Hamburg-Erklärung: "Zum Riot im Schanzenviertel, nicht distanzieren", siehe: https://www.g20hamburg.org/de/content/zum-riot-im-schanzenviertel-nicht-distanzieren und www.taz.de/!5427014/

(2) Eine Auseinandersetzung mit dem Unsichtbaren Komitee folgt in einem der folgenden Artikel dieser Reihe.

(3) Andreas Blechschmidt, zit. nach Süddeutsche Zeitung, 13. Juli 2017, S. 3.

(4) Gabriel Kuhn: "Violence Sells... But Who's Buying?", in ders.: Anarchismus und Revolution. Gespräche und Aufsätze, Unrast, Münster 2017.

(5) 2005, 2007 bei South End Press.

(6) 2013, Left Bank Books.

(7) 1998, Arbeiter-Ring Winnipeg/Canada.

(8) In einem Folgeartikel referiere ich die Kritik des US-amerikanischen gewaltfreien Anarchisten George Lakey an Ward Churchill.

(9) Peter Gelderloos, zit. nach Gabriel Kuhn, S. 139ff.

(10) Peter Gelderloos, zit. nach Gabriel Kuhn, S. 126 und S. 139.

(11) Peter Gelderloos, zit. nach Gabriel Kuhn, S. 136.

(12) Gabriel Kuhn: "Violence Sells... But Who's Buying?", in ders.: Anarchismus und Revolution. Gespräche und Aufsätze, Unrast, Münster 2017, S. 136f.