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Der neue Kalte Krieg

| Gert Sommer

Jürgen Wagner: NATO-Aufmarsch gegen Russland - oder wie ein neuer Kalter Krieg entfacht wird. edition berolina, Berlin 2017 (zweite aktualisierte und erweiterte Auflage), 221 Seiten, 9,99 Euro, ISBN 9783958410565

In den letzten Jahren haben sich die Beziehungen zwischen Russland und der EU bzw. der NATO deutlich verschlechtert. Nach vorherrschender westlicher Sicht liegt dies an der „aggressiven“ russischen Politik, insbesondere der „Annektion“ der Krim (richtiger wäre Sezession) und der Ukraine-Krise.

Der Politikwissenschaftler Jürgen Wagner vermittelt – gut begründet – ein anderes Narrativ.

Nach Ende des Ost-West-Konfliktes („Kalter Krieg“) 1989 wurde zwar das östliche Militärbündnis aufgelöst, nicht aber die NATO. Spätestens mit dem Jugoslawien-Krieg 1999 wurden Militäreinsätze außerhalb des NATO-Bündnisses (Out-of-Area) durchgeführt. Damit ging es nach Wagner darum, „die USA bzw. die NATO als Träger des Gewaltmonopols über große Teile der Welt zu etablieren“ (S. 22f.) und damit (auch) die Vereinten Nationen zu schwächen. Ein wichtiges Dokument zur Erläuterung der US-Vorherrschaft ist die Defense Planning Guidance (1992) mit dem Kernsatz: „Unser erstes Ziel ist, den Wieder-Aufstieg eines neuen Rivalen zu verhüten…“ (S. 24), wobei sich Rivalität auf militärische und wirtschaftliche Stärke sowie Einflusssphären bezieht.

Im Abschnitt „Der Kalte Krieg, der nie zu Ende ging“ zeichnet Wagner die Osterweiterung von EU und NATO nach. Das Versprechen des deutschen Außenministers Genscher, die NATO nicht nach Osten auszudehnen, wurde bald gebrochen: Zunächst wurden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik NATO-Mitglieder (1999), später u.a. Estland, Lettland und Litauen.

Die russische Politik kann somit auch als Reaktion auf die NATO-Osterweiterung gesehen werden. Dazu schreibt der renommierte US-Politikwissenschaftler Mearsheimer: „(Die westliche) Darstellung ist falsch: Die Hauptschuld an der Krise tragen die USA und ihre europäischen Verbündeten.

An der Wurzel des Konflikts liegen die NATO-Osterweiterung, Kernpunkt einer umfassenden Strategie, die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre zu holen und in den Westen einzubinden. (S. 90) Dabei ist bedeutsam, dass die Ukraine ein „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“ ist (Brzezinski, Berater mehrerer US-Präsidenten, S. 92), es geht also um die „Machtgeometrie Europas“ (S. 94), u.a. wegen ihrer Nachbarschaft zu Russland, aber auch wegen des Rohstoffreichtums und der fruchtbaren Böden („Kornkammer Europas“). Dies ist westlichen Politikern selbstverständlich bewusst – es geht also um die Schwächung Russlands, eines wichtigen Rivalen.

Dem westlich geprägten Neoliberalismus (liberale Demokratien) erwuchs mit den BRICS-Staaten – insbesondere mit China – ein Konkurrenzmodell: der Staatskapitalismus, bei dem der Staat eine bedeutende Rolle bei großen Unternehmen spielt. Dies könne nach Wagner erklären, warum das westliche Handelsabkommen TTIP von den politischen und wirtschaftlichen Eliten als so bedeutsam angesehen wird.

Mit der stärkeren Hinwendung der USA zu China wurde unter US-Präsident Obama ein größeres (militärisches) Engagement der europäischen Partner gefordert. Die EU-Außenbeauftragte Ashton forderte 2013, dass die EU in der Lage sein müsse, in ihrer „Nachbarschaft entschieden zu handeln, dies schließt direkte Interventionen ein“ (S. 81). Vordenker der Group on Grand Strategy spitzen zu: „Wir können entweder die Herrscher bleiben oder beherrscht werden“ (S. 69). Notwendig seien der Ausbau von EU-Militärkapazitäten und die Kontrolle des „Nachbarschaftsraums“ (als Einsatzgebiet der EU-Eingreiftruppe waren 4.000 km Rund um Brüssel vorgesehen), u.a. um wesentliche Ressourcen und Handelsrouten und damit eine „kontinuierliche Expansion“ der Wirtschaft zu sichern (S. 72). Wagner gibt detaillierte Informationen über die wichtigsten aktuellen Initiativen zum Ausbau des EU-Militärapparates (z.B. EU-Globalstrategie, Bereitschafts-Aktionsplan) wie auch der NATO (European Reassurance Initiative, Verstärkte Vorwärtspräsenz, Schnelle Eingreiftruppe, Ultraschnelle Eingreiftruppe; Flottenpräsenz im Schwarzen Meer; Aufbau eines Raketenschildes).

Deutschland beansprucht bei all dem inzwischen eine Führungsrolle. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 erklärten in wohlabgestimmten Statements Bundespräsident, Außenminister und Verteidigungsministerin die Notwendigkeit, dass Deutschland weltweit „mehr Verantwortung“ übernehme (Münchner Konsens). Vorausgegangen war die Schrift „Neue Macht – Neue Verantwortung“ (2013), angefertigt von der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und dem German Marshall Fund (2013). Danach ist mehr „Gestaltungswillen“ gefragt; „Deutschland wird künftig öfter und entschiedener führen müssen.“ (S. 150) und der Leiter der SWP, Kaim, erklärte schon 2012 im Zusammenhang mit dem Syrienkrieg: „Ein schlichtes ‚Ohne uns‘ würde die moralische Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik massiv unterminieren…“ (S. 146). Das „Weißbuch der Bundeswehr“ (2016), das entscheidende sicherheitspolitische Grundlagendokument, schreibt diese Ideen fest.

Wagner: „Die Kontrolle von Rohstoffen und Handelswegen werden … einmal mehr zu militärischen Aufgaben erhoben wie generell die Sicherung einer ‚regelbasierten Ordnung‘.“ (157).

Damit ist insbesondere der Neoliberalismus gemeint. Es gilt u.a., „Störern“ bzw. „Herausforderern“ wie Russland und China entschieden entgegen zu treten.

Der „Münchner Konsens“ kann auch als „Krieg gegen die Bevölkerung“ (S. 158) bewertet werden: In repräsentativen Umfragen gab es eine Mehrheit gegen größeres deutsches Engagement und auch gegen die permanente Stationierung von NATO-Truppen in Osteuropa.

Wagners Buch ist gut aufgebaut und klar geschrieben. Es verdeutlicht die Hintergründe des zunehmend schlechten Verhältnisses zwischen dem Westen und Russland. Besonders wertvoll sind die vielen Zitate aus wichtigen Dokumenten und von relevanten PolitikerInnen, PolitikberaterInnen und WissenschaftlerInnen.