Dennis de Lange: Die Revolution bist Du! Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden. Herausgegeben, kommentiert und aus dem Niederländischen übersetzt von Renate Brucker, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2016, 177 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-939045-27-4
„Die Praxis der Liebe ist sehr folgenreich. Es gibt viel im gesellschaftlichen Leben der Gegenwart, was damit unvereinbar ist. Ich nenne nur: Militarismus, Ausübung von Staatszwang, Rechtspflege und Polizei, Kapitalismus, Luxus und Übermaß in der Lebenshaltung, Rohheit und Mißbrauch der Macht gegen die Tiere …“ (Felix Ortt: Der Einfluß Tolstois auf das geistige und gesellschaftliche Leben in den Niederlanden) (1)
Bis heute ist wenig bekannt, welche Bedeutung Leo Tolstois radikal an der Bergpredigt orientiertes Christentum, seine Staatskritik und Kriegsgegnerschaft, seine Ablehnung der Todesstrafe und der „Sklaverei unserer Zeit“ am Ausgang des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für die Herausbildung eines noch nicht von Gandhi beeinflussten Verständnisses von Gewaltlosigkeit und libertär-gewaltfreier Revolution hatten.
Besonders in den Niederlanden entwickelten sich aus protestantischen Sozialmilieus und antiautoritär-sozialistischen Bewegungen Formen des radikalen Antimilitarismus, die sich immer wieder mit lebensreformerischen und christlichen Strömungen der Gewalt- und Kriegsgegnerschaft verbanden. Diese Verknüpfungen hatte Gernot Jochheim 1977 in seiner für die Entwicklung der gewaltfreien Aktionsgruppen in der BRD wichtigen Studie „Antimilitaristische Aktionstheorie, Soziale Revolution und Soziale Verteidigung: zur Entwicklung der Gewaltfreiheitstheorie in der europäischen antimilitaristischen Bewegung 1890-1940, unter besonderer Berücksichtigung der Niederlande“ (2) umfassend untersucht.
Zu den bereits von Jochheim erwähnten Voraussetzungen einer radikalen Kritik der Gewalt und einer bewusst gewaltlosen Praxis zählte in den Niederlanden die breite Tolstoj-Rezeption, die er vor allem am Beispiel der linkssozialistischen Theoretikerin Henriette Roland-Holst und in der Folge dann bei christlichen SozialistInnen und AnarchistInnen wie Bart de Ligt und Clara Wichmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts darstellte. Die 2016 im Verlag Graswurzelrevolution erschienene Studie von Dennis De Lange behandelt das christlich-anarchistische Selbstverständnis sowie die praktisch-lebensreformerischen Experimente, besonders in den tolstoianischen Kommunegründungen in den Niederlanden.
De Lange beschreibt die theologische Suche nach Orientierung im protestantischen Modernismus und die Hinwendung zu sozialen Fragen, Tolstois herausfordernde Interpretation des Christentums und den Antimilitarismus als wichtige Voraussetzungen der eigentlichen tolstoianischen Bewegung, die oft von Pfarrern ausging, die in Konflikte mit der Amtskirche gerieten. Die Lebensläufe der wichtigsten Vertreter werden skizziert (L.A. Bähler, A. De Koe, D.L.W. Van Mierop, J. Van Rees, Felix Ortt). Die Militärdienstverweigerung van der Veers war ein Kristallisationspunkt: Kriegsdienstverweigerung und umfassend verstandene Gewaltlosigkeit führten eine Generation von Christen-Sozialisten und Christen-Anarchisten zusammen; die Zeitschrift „Vrede“ wurde ihr Organ.
Ein „reines Leben“ ohne Alkohol und andere Genussgifte und voll ernster Ansprüche an sich selbst (und andere) war Leitbild; aus dieser Bewegung ist u.a. der spätere international bekannte Antifaschist Edo Fimmen hervorgegangen, Führer der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft. Der Kampf gegen zerstörerische „niedere Triebe“, für Keuschheit gehörte zu der Programmatik. Die Tolstoianer propagierten die vegetarische Lebensweise, den Kampf gegen Vivisektion, die Suche nach einem Leben in Gemeinschaft, ohne Ausbeutung, orientiert an den urchristlich-tolstoianischen Idealen. Aufmerksam hatte man die Gründung von Siedlungen in anderen Ländern beobachtet, auch die Geschichte von utopischen Gemeinschaften und christlichen Siedlungen in früheren Jahrhunderten zog das Interesse der Gruppe auf sich. So wurde eine „internationale Bruderschaft“ gegründet und in Blaricum ein Grundstück erworben; De Lange beschreibt Leben und Arbeiten in der Kolonie, es gab neben dem Gartenbaubetrieb eine Bäckerei und die Druckerei, aber auch viele Konflikte nicht nur im Innern, sondern auch durch die Abgrenzungen zu anderen (aber nicht so „rein“ christlich-anarchistischen) Siedlungen. Es kam dann aber doch auf Van Eedens Initiative hin zur Gründung eines Vereins für gemeinschaftlichen Grundbesitz, der mehrere Kolonien und Verbindungen vereinigen konnte; die Tolstoianer stießen sich schnell an Forderungen, die staatlicher Gesetzgebung eine Rolle dabei zusprachen, den Boden wieder in Gemeinbesitz zu bringen. Die Siedlung in Blaricum schien zunächst gute Verbindungen zur örtlichen Bevölkerung zu haben, aber als die Siedler den Eisenbahnerstreik 1903 solidarisch unterstützten, wurde die Kolonie von Männern aus Blaricum angegriffen, die Glasscheiben der Häuser und
Gewächshäuser zerbrachen und Brände legen wollten. Soldaten schützten die Kolonie, einige Kolonisten wollten sich bewaffnen, weil sie erneute Angriffe fürchteten. Die Spaltung war unvermeidlich, denn die gewaltfreien Anarchisten konnten beides nicht akzeptieren. Es gab danach weitere Versuche, Gemeinschaften zu gründen, Spaltungen, vielfältige Kompromisse, Konflikte, insgesamt: Das erhoffte Modell mit ausstrahlender Wirkung einer vorbildlichen Lebensweise in Brüderlichkeit und Gewaltlosigkeit war in weite Ferne gerückt. Aber es gingen vielfältige Aktivitäten von denen weiterhin aus, die dieses Experiment gewagt hatten. Allerdings entmischten sich die Aktivitäten, so wie wir es auch aus unseren „neuen sozialen Bewegungen“ kennen, es entstehen professionelle und spezialisierte Ein-Punkt-Bewegungen aus dem großen Aufbruch für das andere Leben. Schulgründungen gehörten dazu, der Vegetarierbund, der Bund gegen die Vivisektion (Tierversuche), die Antialkoholiker, die Rein-Leben-Bewegung, aber auch vielfältige Formen der Sozialarbeit, Gemeinwesenarbeit. Und natürlich wurden die antimilitaristischen und pazifistischen und anti-kolonialen Bewegungen besonders durch die individuelle Konsequenz (Kriegsdienstverweigerung) und subjektive Radikalität der christlich-anarchistischen Ansätze gefördert.
De Lange geht in dem gut lesbaren und schön gestalteten Buch, das sich aus einer Amsterdamer Masterarbeit entwickelt hat, der Frage nach, inwiefern die niederländischen Tolstoj-Kommunen ein lebensreformerisches und modernisierungskritisches Milieu bilden, aus dem heraus die gewaltfreien Widerstandstechniken und Kampfformen entwickelt wurden. Es ist sicher nur eines dieser Milieus, syndikalistische Gewerkschaften etwa wären ein anderes.
De Lange behandelt die an Tolstois radikaler Gewaltablehnung orientierten Gruppen als soziale Bewegung, also nicht nur ideengeschichtlich oder biographisch. Ihn interessieren Wirkungen und Erkenntnisse über Netzwerke, Identitäten, Organisationsformen und Dynamiken sozialer Gruppen in einer mitunter feindseligen Umwelt. Ihn interessieren auch Grenzen, Gründe des Scheiterns, Widersprüche; für viele soziale Bewegungen wäre es nützlich, von Problemen, Konflikten, früheren Erfahrungen auszugehen, nicht nur von guten Absichten. Was dabei vielleicht zu kurz kommt, könnte die internationale Dimension, an kritischen Stellen vielleicht auch eine mangelnde internationale Unterstützung sein.
Die bei DeLange behandelten Gruppen hatten Resonanzböden in ähnlichen Milieus (3). Die soziologische Analyse könnte im internationalen Vergleich noch gewinnen.
Ich will einige Verbindungen ansprechen und ergänzen, um Interesse für das Buch und die dort behandelten Personen und Gruppen zu wecken: Den Einfluss auf den Sozialistischen Bund hatte schon die politische Polizei registriert: Der „Landauersche Bund“, so wurde in der „Übersicht für 1909“ berichtet, „will Pioniere vorausschicken, die in Inlandsiedlungen möglichst alles, was sie brauchen, auch die Bodenprodukte, selbst herstellen, damit, wenn dereinst der Grund und Boden auf andere Weise als durch Kauf und Tausch in die Hände der Anarchisten übergeht, die neue Gesellschaft dann nicht erst zu langwierigen Experimenten genötigt sei, sondern die vorhandenen Siedlungen als bewährte Vorbilder benutzen könne. Es handelt sich hier also um eine Art bodenreformerischer Bestrebungen in Verbindung mit Produktions- und Konsumgenossenschaften, aber auf anarchistischer Grundlage, wie solche früher in Holland und Belgien in großem Umfange bestanden haben, aber durchweg gescheitert sind.“ (4).
Krise des Sozialismus
Fruchtbar für weitere Diskussionen wäre m.E. auch, die Krise des Sozialismus als gesellschaftlichen Hintergrund zu sehen: Um die Jahrhundertwende waren die sozialistischen Organisationen, auch bei äußerlichen Erfolgen, etwa Anwachsen der gewerkschaftlichen und Partei-Organisationen, in eine Krise geraten, weil wesentliche Erwartungen sich nicht erfüllt hatten. Deshalb wurden neue Wege der Verwirklichung gesucht. Der parlamentarische Sozialismus ließ die bewussten SozialistInnen schon erkennen, dass er zur Passivität der Arbeiter*innen und einer Einordnung ins Bestehende führen werde. Deshalb wurden einerseits auf radikalisierte direkte Aktionen des Klassenkampfs, wie der revolutionäre Syndikalismus sie propagierte, neue Hoffnungen gesetzt, andererseits aber auch experimentalsozialistischen Kolonien große Aufmerksamkeit zuteil, denn es war in Wirklichkeit schleierhaft, durch welche Formen des Lebens und Arbeitens der Kapitalismus und die entstehende staatliche Sozialpolitik abgelöst werden könnten. So bestand auch in Deutschland durchaus Interesse an den niederländischen Siedlungen und den Schlüssen, die die Beteiligten daraus zogen. Nicht nur an die Arbeiterklasse richtete sich der Wille zu Veränderungen, „weil wir alle ein fehlerhaftes System der Produktion dulden und uns weigern, es zu ändern.“ (5). Die Anreger des van Eeden’schen Experimentalsozialismus gehen weit zurück bis zu den Siedlungen der mährischen Brüder, besonders wichtig: Ruskin, Thoreau (nicht zufällig hieß eine der bei DeLange behandelten Kolonien „Walden“), William Morris, Henry George.
„Es gibt wohl viele Tolstoianer, im Grunde ist ein jeder Mensch ein wenig Tolstoianer. Aber es gibt keine Tolstoi-Religion, er hat keine Gemeinde um sich versammelt, wie es hundert kleine Prediger oder Schriftsteller oder Nervenärzte zu tun verstehen. Dafür war er viel zu aufrichtig, viel zu wenig um Erfolg bekümmert.“ (Frederik van Eeden: Einer der wenigen, in: Der Sozialist, 2.1910, Nr. 23/24, S. 187)
(1) In: Der Sozialist 3. 1911, Nr. 1, hier S. 6. In einer Anmerkung lobt Landauer den Herausgeber der Monatsschrift "De vrije Mensch", dass dieser "treffliche Arbeit für die Verkörperung des Geistes in der Gesellschaft tut".
(2) Haag & Herchen Verlag, Frankfurt/M. 1977
(3) Vergleichbar sind die Obstbaukolonie Eden in Oranienburg bei Berlin, die anarchistisch beeinflusste Kolonie Monte Vérita im schweizerischen Ascona oder auch das radikal-tolstojanische Milieu libre um die IndividualanarchistInnen Marie Kugel und E. Armand in Frankreich, die in ihrer Zeitung "L'Ère nouvelle" über die niederländischen Tolstoj-Kommunen berichteten, aber auch andere Experimente mit alternativen Lebensformen, auch wenn diese viele unterschiedliche Einflüsse und "Krisenlösungen" zeigen.
(4) Dokumente aus geheimen Archiven: Übersichten der Berliner politischen Polizei über die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und anarchistischen Bewegung. Bd. 3: 1906-1913. Bearb. von Dieter Fricke ... Berlin 2004, S. 240
(5) Frederick van Eeden: Die Produktivgenossenschaft, in: Die Aktion 4.1914. Sp. 605-608, hier Sp. 606