Iris Bohnet: What works: Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann, Aus dem Englischen übersetzt von Ursel Schäfer, CH Beck, München 2017, 381 Seiten, 26,95 Euro, ISBN 978-3-406-71228-9
Häufig, wenn ich in anarchistischen Projekten oder Gruppen mit einem feministischen Vortrag zu Besuch bin, kommt im Gespräch die Frage nach „den Frauen“ auf. Denn nicht nur Firmenvorstände, Parteien oder staatliche Organisationen weisen immer noch ein deutliches Ungleichgewicht beim Geschlechterverhältnis auf.
Auch in vielen linken Zusammenhängen dominieren Männer, ergreifen häufiger das Wort, haben mehr Funktionen inne, sind sichtbarer und präsenter – auch in der Graswurzelrevolution zum Beispiel.
Woran liegt diese anhaltende Verzerrung? Und warum tritt sie auch dort auf, wo niemand Frauen diskriminieren will, wo alle sich ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis wünschen?
Oder, wie die Frage häufig an mich herangetragen wird: Warum machen nur so wenige Frauen bei uns mit? Warum kommen sie nicht, warum bringen sie sich nicht mehr ein, obwohl wir uns doch freuen würden?
Einige Antworten darauf findet man in diesem Buch: „What works: Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann“. Die Schweizer Verhaltensökonomin Iris Bohnet, die in Harvard lehrt, hat unzählige empirische Studien ausgewertet. Das Ergebnis: Die meisten Entscheidungen, die wir treffen, sind nicht das Ergebnis einer freien, rationalen Willensentscheidung, denn Menschen sind in ihrem Handeln sehr viel mehr von äußeren Umständen und Normen beeinflusst als ihnen bewusst ist. Zum Beispiel eben von Geschlechterstereotypen.
Auch wenn wir glauben, objektiv und unvoreingenommen zu handeln – in der Regel tun wir es nicht. Wir sehen nicht wirklich, was die konkreten Frauen und Männer vor uns tun, sondern größtenteils sehen wir das, was wir glauben, dass Frauen und Männer tun sollten. Wenn eine Person deutlich von diesen Erwartungen abweicht – etwa eine Frau, die fordernd und bestimmend auftritt – dann finden wir das auf einer unbewussten Ebene unsympathisch.
Das bedeutet: Wenn wir effektiv etwas an den Geschlechterverhältnissen auch in unseren eigenen Strukturen verändern möchten, genügt guter Wille alleine nicht. Sondern die äußeren Umstände, Verfahrensweisen und Gewohnheiten müssen sorgfältig analysiert und je nach Kontext verändert werden. Iris Bohnet nennt das „Verhaltensdesign“.
1970 dümpelte zum Beispiel der Frauenanteil in den US-amerikanischen Top-Orchestern bei fünf Prozent, obwohl die Jurymitglieder felsenfest davon überzeugt waren, dass sie Kandidaten und Kandidatinnen nur nach dem objektiven musikalischen Können auswählen.
Sind Frauen also schlechtere Musiker? Irgendwann gingen die Orchester dazu über, Bewerberinnen und Bewerber beim Vorspielen hinter einen Vorhang zu setzen. Und, O Wunder: Die Chancen der weiblichen Bewerberinnen stiegen um 50 Prozent.
Bohnet listet in ihrem Buch zahlreiche solcher Beispiele auf und gibt konkrete Empfehlungen dafür, wie Organisationen ihr Design neutraler gestalten können. Das Buch richtet sich in erster Linie an Unternehmen und große Institutionen, aber mit ein bisschen Phantasie lässt sich vieles davon auch in andere, zum Beispiel politische Zusammenhänge übertragen.
Während das Orchester-Beispiel noch recht offensichtlich ist, sind andere Befunde überraschender. Zum Beispiel spielt auch beim Multiple Choice Fragebogen das Design eine Rolle: Wenn bei falschen Antworten ein Punktabzug angedroht wird, kreuzen Frauen nämlich in der Regel nichts an, wenn sie die Antwort nicht wissen, während Männer einfach raten – und eben häufig auch richtig.
Die Lösung: Man darf im Design des Fragebogens Punktabzug nicht bestrafen, sondern sollte die Teilnehmenden zum Raten ermutigen. Dann nämlich raten Frauen genauso oft wie Männer, und ihre Ergebnisse werden wie von Zauberhand besser.
Interessant an dem Buch fand ich auch die Kritik an so manchen klassischen Gleichstellungsbemühungen, die teilweise sogar kontraproduktiv sein können. Zum Beispiel die vielen Coachings und Trainings, die Frauen die Verantwortung für Dinge aufhalsen, die sich individuell überhaupt nicht ändern lassen.
Es ist nun einmal eine psychologische Konstante, dass Menschen sich bei kontra-stereotypem Verhalten unwohl fühlen. Männer, die zum Beispiel viel Geld fordern, entsprechen dem typischen Bild von Männlichkeit. Frauen, die genauso auftreten, widersprechen aber dem typischen Bild von Weiblichkeit – und das hat zur Folge, dass sie als unsympathisch gelten und niemand gerne mit ihnen zusammenarbeitet. Wenn hingegen in der Stellenanzeige explizit steht, dass über die Höhe des Gehaltes verhandelt werden kann, hat das nicht nur zur Folge, dass Frauen tatsächlich auch häufiger verhandeln. Es kostet sie auch weniger Sympathiepunkte – denn sie machen ja etwas „Erlaubtes“.
Eine große Stärke des Buches ist es, aufzuzeigen, dass es die eine richtige und optimale Lösung für alle Situationen nicht geben kann. Wir müssen schlicht experimentieren und immer wieder evaluieren, was funktioniert und was nicht.
Der erste Schritt dazu ist aber in jedem Fall das Eingeständnis, dass die meisten Verfahrensweisen, die wir als „neutral“ wahrnehmen, es faktisch überhaupt nicht sind.
Ein Punkt, der, wie ich glaube, gerade für sich als „progressiv“ verstehende Projekte von Bedeutung sein dürfte, ist das psychologische Phänomen des „moral licensing“: Menschen, die glauben, etwas Gutes getan zu haben, fühlen sich häufig anschließend erst recht dazu berechtigt, etwas Schlechtes zu tun. Wer gerade fünf Kilometer gejoggt ist, genehmigt sich eher ein Eis. Und Manager, die einen Tag im Diversity-Workshop verbracht haben, neigen hinterher erst recht dazu, männliche Bewerber zu bevorzugen – das ist traurig, aber leider wahr.
Ähnliches Verhalten habe ich auch schon an linken Männern beobachtet: Da sie ja per Definition feministisch sind beziehungsweise sich so verstehen, reagieren sie wesentlich entrüsteter auf feministische Kritik als konservative Männer, die vielleicht eh schon ein latent schlechtes Gewissen haben.
Die gute Nachricht lautet allerdings: Es gibt viel mehr Möglichkeiten, etwas für mehr Diversität in der eigenen Gruppe und im eigenen Projekt zu tun, als die meisten sich träumen lassen. Man muss es nur wollen.