so viele farben

Die Rampe in Mitte

Ein diskreter Ort der Belanglosigkeit

| R@lf G. Landmesser / LPA Berlin

Wie durch eine neue Gedenkstätte für geschätzte 30.000 in Vernichtungslager deportierte Berliner Bürger*innen das Gedenken an die Opfer des rassistischen Naziterrors erneut in den Bereich der Nichtwahrnehmung geschoben wurde.

Am Rande des mit Hauptbahnhof und Regierungsviertel unverhofft in den Mittelpunkt der Geschichte gerückten Stadtteils Berlin-Moabit, befinden sich die spärlichen Reste eines bis vor wenigen Jahren noch ausgedehnten zentralen Güterbahnhofs. Die jetzigen Schienenanlagen der DB liegen zwischen seinem ehemaligen Gelände, dem Kraftwerk Moabit und dem Westhafen. Ein öder Ort, an dem die Wohnbebauung mit der Quitzowstraße abrupt aufhört und auf der anderen Straßenseite in einige unspektakuläre Gewerbebauten und -grundstücke übergeht.

Eingeklemmt zwischen Lidl-Parkplatz und Baumarkt Hellweg [sic!] befindet sich aus zunächst unersichtlichen Gründen ein kurzes Stück Kopfsteinpflasterstraße, das für den Autoverkehr gesperrt ist und das bezugslos vor dem neuen Autoschnellweg der Ellen-Epstein-Straße, benannt nach der bei Riga ermordeten jüdischen Avantgarde-Pianistin, endet. Eine Sackgasse. Neuerdings ragen aus diesem alten Pflaster an der Ellen-Epstein-Straße einige kleine Kiefern, die eine Durchfahrt für Kraftwagen nun ganz unmöglich machen.

Wer genauer hinsieht, wird auch ein Stück offensichtlich neu einbetoniertes Gleis quer zum Weg und daneben einen im galoppierenden Verfall begriffenen kurzen Rest einer alten Bahnsteigkante mit ihren durchrostenden Stahlarmierungen entdecken. Wäre da nicht die fast tarnfarbene Roststahl-Infostele, die jedoch nur einseitig entgegen der Fahrtrichtung beschriftet ist und dem Vorübergehenden und -fahrenden oder den dort Aufgestauten nur ihre rostig-leere Rückseite zeigt, würde der zufällig vorbeigehende Passant dort mit kaum einem unterbrochenen Lidschlag vorbei- oder durchgehen. Die 20 Bäumchen mit ihren weißgekalkten Stämmchen irritieren kaum. Eine neue pflegeleichte Mini-Grünanlage eben, vielleicht ein probates Hundeklo. Direkt daneben steht praktischer Weise der Beutelspender.

Liest der aufmerksame Flaneur oder eine Lidl-Kundin allerdings zufällig die Rückseite dieser verunglückten Infostele – mensch muss allerdings schon direkt davor stehen – wird er oder sie schockiert feststellen, dass er am Endpunkt eines Deportationsweges steht. Der ging ab 1942 von der Synagoge Levetzowstraße und anderen „Sammelstellen“ wie dem jüdischen Altenheim Große Hamburger Straße, mitten durch belebtes Stadtgebiet für geschätzte 30.000 jüdischstämmige Berliner Menschen jeden Alters in die Transportzüge zu den Vernichtungslagern im Osten. Über das Gelände rast heute der Verkehr. Vermarktung und Umwidmung der sonstigen umliegenden Bahn-Grundstücke geben dem Ort den Rest, so dass von ihm nur ein kümmerlicher Zipfel blieb, an dem anscheinend tunlichst nichts an den fahrplanmäßigen Mord an von hier verschubten Berliner*innen erinnern sollte. Eine dünne helle Stahl-Stele, die an der Quitzowstraße neben dem Lidl-Supermarkt am Weg steht, war bis vor kurzem alles. Ich selbst habe sie jahrelang übersehen und wusste nicht, dass dies genau der Ort war, über dessen genaue Lage ich oft genug gerätselt hatte. Ein Ort, an dem ständig wilder Müll abgeladen wurde.

Wohl kannte ich das beeindruckende edelstählerne Monument der Judendeportation auf der Putlitzbrücke, die Darstellung einer verwundenen, in den Himmel weisenden und abbrechenden, abkippenden Treppe, herauswachsend aus einem Davidstern. Ein Denkmal, auf das Neonazis mehrfach Anschläge verübten, teils mit Sprengstoff. Aber dass der eigentliche Ort rund tausend Meter weiter lag, Luftlinie höchstens zweihundert Meter von meiner Wohnung entfernt, wusste ich nicht, bis ich mehr aus Zufall die unauffällige Edelstahl-Tafel mit dem Infotext an der Quitzowstraße entdeckte.

Wären da nicht einige Menschen gewesen, die im Jahr 2011 die Initiative „Sie waren Nachbarn“ aus der Taufe hoben, wäre vielleicht heute noch unbekannt, dass Berlin-Moabit der Hauptdeportationsort der etwa 55.000 aus ihrer Heimat herausgerissenen und umgebrachten jüdischstämmigen Bürger*innen Berlins war und nicht etwa der weitab vom Zentrum gelegene Bahnhof Grunewald mit seinem Mahnmal. Insgesamt hatten etwa 200.000 jüdischstämmige Menschen in Berlin gelebt, bis die zwölf furchtbaren Jahre des „Tausendjährigen III. Reichs“ anbrachen. Die meisten waren noch vor den Transporten ins Nichts in das Elend der Emigration entkommen.

Die Initiative stieß 2013 mit den drei Aktionswochen „Ihr letzter Weg“ (Lesungen, Filme, Theater, Musikdarbietungen, Performances, Aktionen, Ausstellungen, Plakaten, Flyer, Website) Bürger*innen und Verantwortliche in Senat und im Stadtteil Moabit-Tiergarten buchstäblich mit der Nase darauf, dass mitten durch ihre Hauptverkehrsstraßen, vor aller Augen, Mitmenschen in Schimpf und Schande zur Militärrampe des Güter(!)-Bahnhofs getrieben oder gekarrt wurden: die Initiative markierte halblegal diesen Weg der Schande auffällig mit Sprühkreide, Aufklebern und Plakaten, und brachte so die in Politik und Verwaltung längst versandete Sichtbarmachung eines Gedenkortes am Endpunkt dieses Weges ins Rollen. (1)

Lottogelder wurden plötzlich locker gemacht und für zehn handverlesene Künstler*innen und Kunstgruppen, mit denen die Verwaltung gute Erfahrungen in Erstellung und Abrechnung hatte, ein Wettbewerb für eine angemessene Gedenkstätte ausgeschrieben. Wie ein paar Mitglieder der Initiative schon geahnt hatten, war das Ergebnis im Rahmen der bewilligten 150.000 Euro dürftig. Der als bester gekürte Entwurf der Gruppe „Raumlabor“ [raumlabor.net] wurde genommen – „alle anderen“, so hieß es, seien „noch schlechter gewesen“.

Raumlabor phantastierte sich dort an der Rampe eine „lebendige Insel“ in einer sonst trostlosen Industrie- und Verkehrswegelandschaft zurecht und kürte hierzu ausgerechnet die in der „Brandenburger Streusandbüchse“ und Berlin millionenfach vorhandenen Allerweltskiefern zur Begrünung. Die sollten nun aus der nahezu Unsichtbarkeit einer größeren Präsenz entgegenwachsen, wie hübsche Bilder schlau zeigten. Am neuerbauten BND-Hauptsitz Chausseestraße fiel die Wahl der „Kunst-am-Bau“-Akteur*innen auch auf diesen Baum – allerdings in Form ganz ausgewachsener Exemplare. Das war wohl mit den 150.000 Euro für den wohlfeilen Gedenkort im benachbarten Moabit nicht drin.

So geriet denn der neue Gedenkort zu einem mickrigen Hainlein, schon überragt von den Bäumen des anliegenden Lidl-Parkplatzes, ein Hainlein dessen Erstellungskosten bei einem ordentlichen Gartenbaubetrieb kaum die 15.000 Euro überschritten haben dürften. Nicht einmal die Reste der historisch eminent wichtigen, inzwischen unter Denkmalschutz gestellten Original-Rampe, deren größter Teil unter dem LIDL-Parkplatz verschüttet liegt, wurden konserviert! Ganz zu schweigen von den ohnehin wenigen übrigen, durch die Kiefern-Pflanzaktion zusätzlich entfernten Original-Plastersteinen des historischen Wegrestes, über den zehntausende Füße in die Vernichtungsfalle tappten.

Wären da nicht – wenn schon Bäume – die vom polnischen Künstler ?ukasz Surowiec auf Auschwitzboden gewachsenen Birken, vorgestellt auf der 7. Berliner Biennale 2012, angemessener, mutiger und nachhaltiger gewesen?

Ich versuchte damals etwa zwanzig von der Kunstaktion noch übriggebliebene Birken vergeblich auf genau diesem Gelände zu platzieren. Bürokratie und ungeklärte Eigentumsverhältnisse standen dem entgegen. Stattdessen wurden urplötzlich vor zwei Jahren dort Linden angepflanzt, die zum Zweck der Umsetzung des Raumlabor-Entwurfs, gerade angewachsen, nun wieder ausgerupft wurden. Auch die hatten wohlgemerkt Geld gekostet. (2) (3)

Überhaupt, Bäume:

Besonders im Sommer fällt auf, dass sich um das Kieferninselchen der Gruppe Raumlabor haufenweise Bäume scharen: Auf den Geschäftsparkplätzen der benachbarten Supermärkte, auf den umliegenden Brachen, auf dem Bahngelände, sowie der lange schon begrünten Quitzowstraße. Keine Spur von Kahlheit. Meist sind diese Bäume, teils in unmittelbarer Nachbarschaft, wesentlich größer als die gepflanzten vier bis fünf Meter hohen Kiefern. Sogar wilde Kiefern wachsen schon im Umfeld, demnächst sicher noch mehr. Der Kiefernhain am Deportationsort versinkt schier im umgebenden Grün und es wird Jahrzehnte brauchen, bis überhaupt jemand bemerkt, dass dort Kiefern stehen – falls sie noch stehen: die ersten sind schon braun. Kiefern stehen an jeder Ecke Berlins. Wären es wenigstens Mammutbäume für das hier begangene Mammutverbrechen!

Die Nazis jedenfalls, die sonst kaum eine Woche vergehen ließen, ohne das provisorische Hinweisschild der Initiative „Sie waren Nachbarn“ – HIER FUHREN ZÜGE INS GAS – zu beschmieren, zu kommentieren oder ganz zu zerstören, scheinen zufrieden: Mit dem unauffälligen Flecken „doitschen“ Wald können sie anscheinend gut leben. Da ist buchstäblich Gras über die Geschichte gewachsen.

Unwillkürlich fragt man sich auch, ob nicht etwa bei der Auswahl der Gestaltung des Mahnortes auf die Vermarktungsinteressen des benachbarten Lidl-Supermarktes Rücksicht genommen worden sein könnte. Dessen Leitung wäre sicher nicht glücklich darüber, wenn der Kundschaft allzu deutlich zu Bewusstsein stiege, direkt auf einer Deportationsrampe nach Auschwitz, Treblinka und anderer Orte des Grauens zu parken und so dabei womöglich, volle Lebensmitteltüten schleppend, die skelettartigen Hungergestalten einstiger Berliner Mitbürger*innen vor Augen zu haben. Eine makabere Vorstellung.

Fazit

An dieser Stelle und in Korrelation zum Mahnmal Putlitzbrücke wurde eine große Chance vertan, gerade in heutigen Zeiten erneut aufbrodelnder Fremdenfeindlichkeit, des wachsenden Antisemitismus und des dumpfen Neonationalismus, für Alle einen bewusstseinsbildenden Ort zu schaffen, der Vorbeikommende alarmiert aufmerken lässt. Einziger Trost mag sein, dass es gelungen ist, Schüler*innen und Lehrer*innen der gegenüberliegenden Theodor-Heuss-Schule in die Pflege des Gedenkortes mit einzubinden, ein Verdienst einzelner Mitglieder der Initiative „Sie waren Nachbarn“.

Die Schule hieß übrigens bis vor kurzem noch Moses-Mendelsohn-Schule, benannt nach dem berühmten preußisch-jüdischen Aufklärer.

Kurzschlüssig wurde der Schulname beim Zusammenlegen verschiedener Schulen in die wohlbeleumundete Theodor Heuss Schule umgewidmet, offenbar ohne zu bedenken, an welchem Ort das neue Schulgebilde liegt und wie diese Umbenennung wahrgenommen werden könnte.

Ungegangen bleibt, trotz neueingerichteter Gedenkstätte, weiter der Weg zur gekennzeichneten Deportationsroute durch den Stadtteil. Zwar ist diese in einer Variante auf der Infostele am Gedenkort eingezeichnet, aber der Weg der Deportation selbst durch Berlin-Moabit ist unsichtbar wie eh und je.

Wahrscheinlich hält sich die Sehnsucht von stadtentwickelnder Politik und Verwaltung nach einem solchen „Walk of Shame“, mitten durch die immer mehr gentrifizierte neubürgerliche Moabiter Beschaulichkeit, in Grenzen.

Wie sagte doch 2013, anlässlich eines Gedankenaustauschs, der langjährige Bürgermeister Berlin-Mitte, Hanke (SPD) seinerzeit brüsk ablehnend? „Ein Deportationsweg durch Moabit ist kein Alleinstellungsmerkmal.“

Doch kaum irgendwo in Berlin war die Strecke in die Todeszüge so frappant direkt für Alle sichtbar wie in Moabit. Sie heute als Mahnung für alle rückblickend sichtbar zu machen, bleibt die Aufgabe der kommenden Jahre.

R@lf G. Landmesser / LPA Berlin