konsens

Betr.: "Konsens als radikale Kultur von Wertschätzung, Kontakt und Verletzlichkeit", Artikel von Joris Kern, in: GWR 422, Oktober 2017, S. 10 f.

Robuste Konsenskonzepte

| Katja Einsfeld

Konsens ist eine Methode und Haltung zur Entscheidungsfindung, bei der alle Betroffenen die Entscheidung mittragen können. In der Graswurzelrevolution Nr. 422 ist in dem Artikel "Konsens als radikale Kultur von Wertschätzung, Kontakt und Verletzlichkeit" von Joris Kern eine nicht für Kompromisse offene und sehr auf Bedürfniskommunikation ausgerichtete Sichtweise von Konsens zu lesen, die Konsens als von einer bestimmten "Konsenskultur" abhängig und fragil erscheinen lässt. Wenn es wirklich so leicht wäre, eine Konsenskultur zu zerstören, wenn Konsens wirklich so fragil wäre, wäre es dann eine geeignete Haltung oder Methode, um herrschaftsarm zu organisieren und langfristige Projekte aufzubauen? Wir brauchen ein robustes und an unterschiedliche Kontexte anpassbares Konzept von Konsens, wenn wir global vernetzte und föderierte vielfältige anarchistische Gesellschaften anstreben.

Kompromissbereitschaft und Solidarität

Kerns Kritik am Kompromiss hat etwas sehr Polarisierendes und kompromisslos Dogmatisches. Heribert Prantl schreibt in „Ein Hoch auf den Kompromiss“, dass Deutschland vor allem bis 1945 ein kompromissfeindliches Land gewesen sei, in dem Kompromiss als Verrat der Ideale und ängstliches Einknicken galt. Meiner Meinung nach ist es selbst in homogenen Gruppen, die in gewaltfreier Kommunikation (GfK) über Bedürfnisse geübt sind, nicht realistisch, dass Kompromisse immer vermieden werden können. Kompromisse um jeden Preis zu forcieren kann bedeuten, abweichende Meinungen wegzudiskutieren. Eine Bereitschaft zu Kooperation und Kompromissen im Zusammenleben mit anderen Menschen ist unerlässlich. Es kann auch „gute“ Kompromisse geben, bei denen alle Beteiligten „ja“ sagen, weil sie einsehen, dass das aktuell die beste Lösung für das Projekt ist. Abstriche sind dabei ein wohlwollendes und nicht aufrechnendes Geschenk.

Konsens bedeutet nicht, dass alle einer Meinung sind. Bedenken, Grummelkonsens, Beiseitestehen und Trennung sind herrschaftsarme Praktiken, die Teil von vielen Konsenskonzepten sind. Kern meint durch Kompromisse und Zugeständnisse entstehe soziale Missgunst. Ich denke das passiert eher, wenn Menschen wiederholt ihre Bedürfnisse stark fordernd in den Vordergrund stellen. Dann werden sie in langfristigen Zusammenhängen auf Dauer vermutlich Sympathien und Unterstützung verlieren, da Forderungen nicht herrschaftsfrei sind. Solidarität und Wohlwollen sind nicht bedingungslos. Für Solidarität ist meiner Meinung nach eine Zusage der gegenseitigen Unterstützung und/oder eine gemeinsame Vision nötig. Kern schreibt, mensch solle, Respekt und Wohlwollen „einfordern“ und die Angst vor sozialen Sanktionen mache Menschen unfrei. Jedes Handeln von Menschen in einem sozialen Zusammenhang hat Konsequenzen. Ich denke, es ist wichtig, dafür die Verantwortung zu übernehmen und es nicht als Sanktion abzulehnen oder es der Verantwortung des Gegenübers zuzuschieben.

Bedürfnisbasierte Kommunikation ist kein Allheilmittel

Je nach Kontext kann der Fokus auf Bedürfnisse entweder gut und richtig sein oder es sollten auch Projektbelange, Ziele, Erfahrungen, Untersuchungsergebnisse und strategische Argumente bedacht werden. Ein Beispiel für einen Kontext, in dem der Bedürfnisfokus wichtig ist, ist das Consent-Konzept, das seinen Ursprung in feministischen und Sex-positiven Kreisen hat. Bei Consent geht es darum, vor und während sexuellem Kontakt immer wieder Zustimmung zu erfragen. Obwohl dies auch eine Art von Konsens ist, gibt es einige Unterschiede zu Konsens in anarchistischen Projekten.

In anarchistischen Projekten ist es wichtig, sich selbst als Teil eines Projekts zu sehen und dessen Ziele, Ressourcen und Belange bei Entscheidungen mitzudenken. Bei Consent dagegen sollten das eigene Wohlbefinden, Gefühle und Bedürfnisse im Vordergrund stehen, um rechtzeitig „Nein“ sagen zu können. Dabei ist es nicht nötig ein „Nein“ zu begründen. Nein heißt Nein. Und was sich heute gut anfühlt, kann morgen bereits nicht mehr akzeptabel sein. Wenn eine Aktion persönliche Grenzen überschreitet, ist es vollkommen o.k., die Szene oder den Raum zu verlassen und weitere Gespräche abzulehnen. In langfristig angelegten anarchistischen Strukturen ist dagegen eine gewisse Planbarkeit und Sicherheit nötig. Täglich revidierbare Entscheidungen oder zahlreiche auf persönlichen Befindlichkeiten beruhende Vetos können Handlungsunfähigkeit bedeuten. In solchen Projekten ist es meiner Meinung nach wichtig, dass die Person, die ein Veto ausspricht, mit anderen im Gespräch bleibt und sich an der Findung von Lösungen beteiligt.

Respektvolle Kommunikation in herrschaftsarmen Kontexten ist wichtig und Kommunikation auf Bedürfnisebene kann neue Perspektiven eröffnen, ist aber keine magische Garantie für eine win-win-Lösung. Zu denken, dass durch Kommunikation auf Gefühls- und Bedürfnisebene alles zu klären wäre, kann dazu führen, dass andere Meinungen mit „du hast mich noch nicht verstanden“ nicht akzeptiert und Themen immer wieder eingebracht werden. Wenn eine bestimmte, bedürfnisorientierte, möglichst wohlwollende Sprechweise benötigt wird, um Konsens zu ermöglichen, dann besteht die Gefahr von elitärer Ausgrenzung und ein auf die Szene beschränktes Blickfeld, Kritikunfähigkeit und einem Wettbewerb der Befindlichkeiten (1).

Laut Ralf Burnicki erschwert das Ausgehen von „subjektiver Betroffenheit“ die Aufdeckung betroffenheitsferner, gegenwartsübergreifender Kollektivziele (2). In einem guten Text über das Konsenskonzept des N Street Cohousing Projekts (3) werden Leute, die wiederholt auf persönlichen Bedürfnissen beharren und damit das Wohl des Projekts hinten an stellen als „community-mentally ill“ oder im falschen Projekt bezeichnet.

1000 Möglichkeiten und Robustheit

Wenn schon eine als abwertend verstandene Bemerkung genügt, die Konsensatmosphäre zu zerstören, dann ist dieses Konzept zu angreifbar und höchstens in safe spaces anwendbar. Doch es gibt eine bunte Vielfalt an Konsensansätzen, was Konsens in unterschiedlichen Kontexten anwendbar und robust macht. Jedoch ist nicht unbedingt jede Art von Konsens für jedes Projekt geeignet. Wenn Leute aus unterschiedlichen Kontexten zusammen kommen, ist es wichtig zusammen zu klären, was unter Konsens verstanden wird.

Konsens kann als reine Entscheidungsmethode oder als mehrstufiger formaler Prozess verstanden werden. Projekte und Gruppen können sich einen Grundkonsens erarbeiten, innerhalb dessen (gefühlter Konsens, do-ocracy) Aktionen ohne weitere Entscheidung möglich sind. In einem Workshop der Rebel Clowns Army habe ich gelernt, wie Bezugsgruppen auf Demos innerhalb weniger Minuten einen Konsens finden. In einer anarchistischen Utopie (4) wird Konsens weltweit zur Entscheidungsfindung genutzt. In anarchistischen Föderationen ist das heute schon so: Die IAF (International of Anarchist Federations) ist eine internationale Vernetzung von anarchistischen Föderationen. Darin föderiert ist die FdA (Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen) und darin wiederum sind lokale Gruppen föderiert. Auf allen diesen Ebenen werden Entscheidungen im Konsens gefällt – je nachdem welche Ebene betroffen ist: Wenn es um Prinzipien der IAF geht, entscheidet der IAF Kongress, wenn es um lokale Aktionen geht, entscheiden die lokalen Gruppen. Dabei sind die allermeisten Entscheidungen auf lokaler Ebene. Konsens ist sogar so anpassungsfähig, dass er innerhalb kapitalistischer Logik Verwendung findet: Mit Soziokratie und Holokratie gibt es von Firmen adaptierte Konzepte von Konsens, die Mitarbeiter*innen dazu antreiben sollen, für ihren Arbeitsbereich Verantwortung zu übernehmen, indem sie Verbesserungsmöglichkeiten aufzeigen und mit anderen Lösungen suchen, gegen die keine*r schwerwiegende Einwände hat. Auch wenn diese Art von Konsens nicht wirklich emanzipatorisch ist, sondern darauf abzielt Leute noch geschickter auszubeuten, zeigt dies, dass es viele Konsensvarianten gibt. Deshalb ist es wichtig, sich als Gruppe bewusst für ein passendes Konzept zu entscheiden.

Dabei kann mensch sich viele Fragen stellen: Stehen alle Beteiligten hinter der Konsensmethode? Wer hat Mitentscheidungsrecht? Auch Leute, die nur mal vorbeischnuppern oder sich kaum beteiligen? Wer ist von welchen Entscheidungen betroffen? Können Entscheidungen an (dezentrale) Kleingruppen abgegeben werden? Was muss entschieden werden und was kann im Rahmen eines gefühlten Konsens einfach gemacht werden? Gibt es Themenbereiche, die in Bezug auf das Projektziel nebensächlich sind und deshalb mit einem schnellen Meinungsbild entschieden werden könnten? Ist das Projektziel klar festgelegt? Gibt es weniger grundsätzliche Themenbereiche, die mit einer schnellen Konsensvariante z.B. per E-Mail mit drei Tagen Einspruchsfrist entschieden werden können? Wenn es keinen Konsens gibt, ist Abstimmen oder Würfeln eine Option? Was bedeutet Veto? Nicht erfüllte persönliche Bedürfnisse oder eine Gefährdung des Projekts? Wie wird mit einem Veto umgegangen? In einem Artikel in der GWR 210 (5) ist zu lesen, dass unhinterfragtes Akzeptieren von Vetos zu einer Diktatur einer Minderheit führen kann. Der oben zitierte Artikel über das N Street Cohousing Projekt beschreibt einen formalen Nach-Veto-Prozess. Können bestehende Vereinbarungen durch Veto widerrufen werden oder braucht es dazu einen Konsens? Soll Ausschluss einer Person durch „Konsens minus 1“ möglich sein? Werden Entscheidungen mehrstufig (Zustimmung, Bedenken, Beiseitestehen, Veto) gefällt? Ist ein Mindestanteil von voller Zustimmung nötig? Sollten Entscheidungsvorlagen zur Vorbereitung vorher veröffentlicht werden? Gibt es ein zeitliches Limit, innerhalb dessen eine Einigung erzielt werden sollte, um zu vermeiden, dass Leute mit mehr Zeit oder Ausdauer sich durchsetzen oder ist ein Zeitlimit ein Herrschaftsinstrument? Sollte jede Person eine feste Ansprechperson im Projekt haben, um diese im Zweifelsfall als Sprachrohr nutzen zu können, wenn es schwierig erscheint, die eigene Meinung im Plenum kund zu tun? Wird die Teilnahme an Plena erwartet oder ist alles freiwillig mit der Möglichkeit Zustimmung, Bedenken und Vetos nachzureichen?

Viele Möglichkeiten, mit denen sich ein transparenter, herrschaftsarmer und an das jeweilige Projekt angepasster Prozess festlegen lässt, der nicht durch ungeschickte Kommunikation oder Agents Provocateurs blockiert werden kann.

Katja Einsfeld