Im Rahmen der internationalen Welle feministischer Empörung nach der Weinstein-Affäre wird oft auf die jahrelange männliche Deckung, Tolerierung, ja verteidigende Unterstützung der männlichen Gewalt dieses Filmproduzenten und anderer Männer in Führungspositionen hingewiesen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der männlichen Täterrolle wird eingefordert. Ein Rückblick auf die breite Szenerie kritischer Männergruppen von Ende der 1970er- bis Mitte der 1990er-Jahre, mit einem Höhepunkt in den Achtzigerjahren kann hier wertvolle Anregungen liefern. Eine heute fast vergessene Bewegung von profeministischen Männergruppen florierte damals. Auch die Frankfurter Libertären Tage 1987 und 1993 mit jeweils ca. 3000 TeilnehmerInnen aus allen anarchistischen Strömungen, die beide mit Vorfällen sexueller Belästigung zu tun hatten, standen im Zentrum der Diskussionen. Es gab Publikationen wie den "kritischen Männer-Rundbrief", den "autonomen Männer-Rundbrief" oder den "anarchistischen Männer-Rundbrief"; es gab die Gruppen "Männer gegen Männergewalt", kritische Väter- und Jugendgruppen, die kritische Männerforschung an Unis. In der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA, 1980-1997) gab es damals die bundesweite FöGA-Frauen-AG und die FöGA-Männer-AG. Es gab separate Treffen zu Sexismus und viele gewaltfreie Aktionsgruppen vor Ort hatten eigene kritische Männergruppen. Aus heutiger Sicht muss sicher auf die Gefahr einer identitären Begriffsinterpretation der "Männerbewegung" hingewiesen werden. Diese nahm in den Neunzigerjahren überhand und läutete in einer reaktionären Wende hin zu einem maskulinistischem "Eisenhans"-Verständnis (eigene Gewaltanteile werden auch positiv gesehen) und zu einer rechten, antifeministischen "Männerrechts"-Bewegung das Ende des emanzipatorischen Strangs dieser Bewegung ein. Andreas Kemper hat 2012 in dem von ihm herausgegebenen Buch "Die Maskulinisten" (Unrast-Verlag) die Geschichte dieser Bewegung nachgezeichnet. Zur Bedeutung der damaligen Graswurzel-Männergruppen für seine eigene politische Sozialisation schrieb er dort: "Die erste Männergruppe fand nicht zufällig während eines Camps der gewaltfreien und ökologischen Graswurzelbewegung statt." (S. 30) Der folgende zeitgenössische Artikel zeichnet die Auseinandersetzung mit der männlichen Täterrolle am Beispiel einer örtlichen Graswurzel-Männergruppe nach. (GWR-Red.)
Am Totensonntag 1985 war die Gewaltfreie Aktionsgruppe Regenbogen an einem Aktionsbündnis gegen eine militärische Kriegerehrung auf dem Heidelberger Ehrenfriedhof beteiligt, an der neben Bürgermeister Zundel, Abordnungen der Bundeswehr und der US-Armee auch der NPD-Ortsverein teilnahm.
Die besondere Aktion der Gewaltfreien Aktionsgruppe war die Beteiligung von zwei in schwarzer Traueraufmachung gekleideter Frauen der Gruppe an der offiziellen Kranzniederlegung, bei der sie einen Kranz „für die vergewaltigten Frauen“ mitführten und neben die anderen Kränze legten, was zu erheblichen Ausschreitungen am Ort des Geschehens führte. Bei der Diskussion um diesen Inhalt innerhalb der Gruppe wurde offenbar, dass mindestens eine Frau in der damaligen Gruppe bereits Opfer einer Vergewaltigung war und eine weitere das Kind einer vergewaltigten Mutter. Diese unvorbereitet in den Raum gestellten Realitäten lösten in der Gruppe eine Situation aus, in der es die Frauen kaum aushalten konnten, mit Männern in derselben Gruppe zu sein und die Männer sich andererseits mit einer ihnen eigenen Ignoranz über die Bedeutung dieser Bekenntnisse hinwegsetzten. Der Schock dieser Gruppensitzung saß tief und es war klar, dass eine intensive Auseinandersetzung mit Sexismus trotz gegenteiligen Anspruchs in der Gruppe noch nicht stattgefunden hatte.
In der Folgezeit entschied die Gruppe, Sexismus zum Hauptthema zu machen. Während zunächst die anstehenden Themen, Volkszählung, Tschernobyl, zivilmilitärische Wintex-Cimex-Manöver spezifisch unter antisexistischem Blickwinkel bearbeitet wurden, stellte sich bald heraus, dass auf diese Weise eine intensive Beschäftigung mit Sexismus nicht möglich war. Als Sexismus schließlich alleiniges Hauptthema wurde, trat die Gruppe in eine mehrjährige Auseinandersetzung mit den Themen Pornographie und Vergewaltigung ein. Die Schwierigkeit einer Auseinandersetzung über Sexismus in gemischtgeschlechtlichen Gruppenstrukturen wurde mit dem Versuch angegangen, abwechselnd reine Männer- und Frauentreffs zu machen, um zweiwöchentlich wieder als gemischte Gruppe zusammenzukommen. In dieser Phase, gegen Ende 1986, bildete sich aus dem Gruppen-Männertreffen eine eigenständige Graswurzel-Männergruppe heraus.
Motivationslagen und Inhalte der Graswurzel-Männergruppe
Die ersten Treffen der Gruppe waren durch die Klärung der eigenen Motivation für eine Männergruppe gekennzeichnet. Eine Minderheit der Gruppe, die alsbald auch nicht mehr mitmachte, sah die Notwendigkeit der Männergruppe darin, dass die Frauen der gemischten Gruppe eine solche im Grunde forderten und die Männer also keine Wahl hätten. Die Mehrheit jedoch war dadurch motiviert, nicht immer wieder von Frauen auf patriarchale Verhaltensweisen gestoßen werden zu wollen, sondern selbst und eigenständig solche Verhaltensweisen zu erkennen und zu verändern. Nach der Gründungsphase gab es dann den immer wieder brüchigen Konsens, dass es in der Männergruppe primär nicht darum ginge, sich selbst zu bemitleiden und zu sehen, wo wir Männer denn auch Opfer des Patriarchats wären, sondern darum, eigene Täterstrukturen zu erkennen. Was das bedeutet, zu realisieren; welche Privilegien damit verbunden sind, die wir Männer meist als selbstverständlich ansehen – das war nun die Aufgabe.
Die Praxis der Graswurzel-Männergruppe bestand zunächst aus Selbsterfahrung, die uns einfach unerläßlich erschien, um uns einerseits selbst in Frage stellen zu können, andererseits aber auch, um zu entdecken, dass es den anderen Männern oft ganz genauso erging, wir nur nie mit Männern darüber reden, mit welchen Tabus wir zum Beispiel bezüglich Onanie oder Selbstbefriedigung erzogen wurden, wie wir uns als Hetero-Männer Schwulen gegenüber verhalten und welche eigenen unterdrückten schwulen Anteile wir in uns haben, welches Konkurrenzgebaren wir an den Tag legen, welche Vorstellungen von Sexualität, Phantasien wir haben, aber auch welche Ängste und Gefühle und wie wir uns sträuben, sie vor anderen Männern zu bekennen. Stets wichtiger Bestandteil der Gruppenpraxis war aber auch immer die allgemeinere Diskussion, die sich um den spezifisch graswurzelrevolutionären Ansatz einer Männergruppe drehte oder allgemein aktuelle Fragen behandelte.
Thesen über militarisierte Männlichkeit
Ein wesentliches Ergebnis der Diskussionen um den besonderen graswurzelrevolutionären Ansatz in der Männerszene war ein ursprünglich von Uli Wohland formuliertes Papier: „Thesen über militarisierte Männlichkeit“, das in der Gruppe diskutiert und im Februar 1989 in der GWR Nr. 131 veröffentlicht wurde. Im Wesentlichen hat dieses Papier zwei inhaltliche Bedeutungen, eine in die „Männerszene“ hinein und eine aus ihr heraus in die Diskussionen der sozialen Bewegungen, insbesondere der antimilitaristischen Bewegung hinein. In die Männerszene hinein wirkt dieses Papier durch die Entschiedenheit, mit der männliche Gewalt als zu überwinden und nicht etwa als unveränderliche Naturkonstante einer biologischen „Männlichkeit“ angesehen wird. Die männliche Gewalt ist vielmehr historisch gewachsen: „Historisch gesehen dürfte der Mann als Waffenträger und später als Krieger eine der ältesten, wenn nicht gar die älteste männliche Rolle sein.“ So wie die angebliche „Friedfertigkeit der Frau“ aufgrund tradierter Rollenklischees nur zugeschrieben ist, so ist auch die männliche Gewalt nur zugeschrieben. Aufgrund der jahrhundertelangen Genese des Patriarchats ist sie allerdings kaum sehr schnell aus den Tiefenstrukturen des männlichen Sozialcharakters herauszubekommen. Wahrscheinlich sind uns noch nicht einmal alle Dimensionen männlicher Gewalt bewusst. So können wir eine nicht-militarisierte Männlichkeit als Utopie heute noch gar nicht beschreiben. Als Aussage ergibt sich jedoch aus diesem Ansatz, dass männliche Gewalt, weil historisch gewachsen, auch historisch verändert, d.h. zunächst reduziert und menschheitsgeschichtlich schließlich abgeschafft werden kann und soll. Dazu ist es allerdings notwendig, „männliche Gewalt“ in all ihren Ausprägungen als Herrschaftsmittel zu begreifen und nicht, wie dies in der Männerszene leider nur allzuoft praktiziert wird, als etwas, das positive und negative Aspekte, definiert übrigens meist ganz nach Belieben des jeweiligen Mannes, haben kann.
Daraus ergibt sich wiederum eine Kritik an denjenigen Erscheinungen der Männerszene, die Befreiung etwa von Sexualitätstabus der Kirche mit sexueller Befreiung an sich verwechseln und dabei nur spiegelbildlich verkehrt Sexualität mit Penetration gleichsetzen; oder auch eine Kritik an Schwulen- und Lesbenpornos, die nun plötzlich emanzipativ sein sollen, nur weil Homosexuelle sich freiwillig dieselbe Gewalt antun, die die Pornoindustrie heterosexistisch tagtäglich propagiert.
Nach Außen, d.h. in die sozialen, hier: antimilitaristischen Bewegungen hinein wirkt das Papier durch die These, dass die jungen Männer nicht erst durch das Militär (Kriegsdienstzwang) patriarchal werden, wie viele Antimilitaristen jahrelang glaubten, sondern „eine für die Erfordernisse des Militärs angemessene Charakterstruktur mit(bringen).
Sie besitzen bereits eine Disposition für militarisierte Männlichkeit, die im Verlauf der militarisierenden Sozialisation nur ausgeprägter herausgearbeitet wird und verstärkt werden muss. Der militarisierte Mann, der tötungsbereite Mann ist nur eine Variante des zivilen Mannes.“ Der provokative Charakter dieser These für die antimilitaristische Bewegung springt sofort ins Auge, wähnten sich doch z.B. totale Kriegsdienstverweigerer (Verweigerer sowohl des Kriegsdienstes wie des zivilen Ersatzdienstes) oft schon automatisch gegen die patriarchalen Grundmuster militärischer Ausbildung durch ihre Verweigerung gefeit und müssen nun feststellen, dass der Heldenmythos ihres individualisierten Kampfes gegen Militär und Justiz viel von dieser Disposition für militarisierte Männlichkeit enthält.
Aktionen und Probleme der Männergruppe: Ein Fazit
Antisexistische Inhalte wurden von der Graswurzel-Männergruppe nach außen getragen: einerseits in den Zusammenhang der bundesweit organisierten FöGA hinein, die nun diesen Ansatz bei antimilitaristischen Kampagnen berücksichtigen musste; andererseits in Form vereinzelter Aktionen vor Ort in Heidelberg.
Zwei dieser Aktionen möchte ich nennen: Im Sommer 1989 wurde von der Graswurzel-Männergruppe angesichts zweier Vergewaltigungen in Heidelberg zu einer Demonstration „Männer gegen Männergewalt“ aufgerufen, zu der nur 20 Männer kamen. 1990 wurden mehrmals vor Heidelberger Parkhäusern Flugblätter verteilt, die männliche Autofahrer auf die Gewalt in Parkhäusern hinwiesen und sie u.a. aufforderten, ihre Autos nicht auf Frauenparkplätzen abzustellen.
Nach der Männerdemo gab es einige neue Gesichter in der Graswurzel-Männergruppe. Sie hatten Interesse an einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Sexismus, konnten aber mit dem spezifisch graswurzelrevolutionären Ansatz der Gruppe weniger anfangen. Darauf änderte die Gruppe ihren Namen in „Heidelberger Männergruppe“. Zu dieser Zeit wurde auch mit anderen Heidelberger Männergruppen und dem sich bildenden Verein „Männer gegen Männergewalt“ Kontakt aufgenommen, der bis heute [d.h. hier: 1992; Red.] noch nicht abgerissen ist, obwohl sich die Gruppe immer noch separat trifft.
Die Fluktuation brachte es in den Jahren mit sich, dass bestimmte Thematiken immer wieder wiederholt werden mussten, weil sich manch Neuer entsprechende Fragen noch nicht gestellt hatte. Es sind die Mühen der Ebene, die jedoch niemals überflüssig sind, weil jede Selbsterfahrung neue Aspekte hervorbringt und bei uns Männern von erschöpfender Behandlung dieses Themas vorerst sowieso nicht die Rede sein kann. So endet dieser Bericht auch mit einer Prise Skepsis, denn die langjährige Beteiligung in einer Männergruppe brachte für den Autor dieses Berichts, wenn überhaupt, dann nur langsame und von Rückschlägen gekennzeichnete Fortschritte, was Sensibilität gegenüber eigenen patriarchalen Verhaltensweisen betrifft. Es bewahrheitete sich die Vermutung, dass eine Beteiligung an Männergruppen leider gar nichts garantiert.
Das soll nicht heißen, dass sie überflüssig ist, im Gegenteil: Es wird durch Selbsterfahrung und auch durch die ständige Diskussion über Varianten des Themas viel bewusst, und die Bewusstwerdung patriarchaler Anteile ist oft schon das wichtigste Ergebnis. Bis sich dieses Bewusstsein aber in Gefühle und spontane Verhaltensweisen übersetzt, ist es leider ein langer, schmerzhafter Weg, der von uns Männern dennoch gegangen werden muss.
Leicht überarbeiteter Beitrag aus der Heidelberger Szenezeitung "Brennpunkte", Nr. 15, Winter 1991/1992, Schwerpunkt Sexismus, hier S. 18-19.