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Eine Würdigung für Wolf-Dieter Narr

| Maurice Schuhmann

Als Wolf-Dieter Narr (* 1937), Professor für empirische Theorie der Politik, im Jahr 2002 das Otto-Suhr-Institut verließ und sich offiziell zur Ruhe setzte, sagte eine Mitarbeiterin des Instituts: "Damit verlässt der letzte Intellektuelle das OSI." Narr war das, was man als einen "engagierten Intellektuellen" bezeichnet und was in Deutschland viel zu selten vorkommt. Er forschte nicht im Elfenbeinturm sondern wirkte u.a. im Sozialistischen Büro und später Komitee für Grundrechte und Demokratie in die Gesellschaft hinein. Dabei war sein Zugang zur Politik(wissenschaft) stets offen und interdisziplinär angelegt.

Anlässlich seines 80. Geburtstages haben Mitstreiter*innen und ehemalige Studierende Texte von ihm zusammengestellt und jeweils mit einer persönlichen Einleitung versehen. Das ist nicht nur eine sehr nette und schöne Idee, sondern auch eine gelungene Würdigung des vielseitigen Denkers.

Die versammelten Texte reichen von der lesenswerten Analyse „Staatsgewalt. Politisch-soziologische Entbergungen“ (2005), über einen Artikel zur Psychiatriekritik (Die lange Geschichte psychiatrischen Zwangs und der zähe Widerstand, ihn menschengemäss zu behandeln, 2013) bis hin zu einem Interview (Es gibt viel zu denken und zu tun, 2013), das GWR-Autor Philippe Kellermann mit ihm für den Sammelband „Anarchismusreflexionen“ führte. Zwölf Texte, die für den hiesigen Abdruck leicht gekürzt werden mussten, finden sich in drei Kategorien (Grundlagen; Zeitdiagnosen und politisch-menschenrechtliche Interventionen; Perspektiven) versammelt.

Aus seiner libertären, undogmatisch-linken Haltung machte Narr nie einen Hehl. Aussagen wie die folgende verorten ihn leicht und schnell im Anarchismus: „Das wäre schön: Niemand herrscht. Das Ärgernis der Herrschaft von Menschen über Menschen und deren natürlichen wie sozialen Bedingungen und Kontexte ist überwunden. Menschen sind von sich aus fähig zu gegenseitiger Hilfe, zu sozialer und zu politischer Organisation.“ (S. 54). Dies stammt aus einem gemeinsam mit Uta von Winterfeldt verfassten Text „Niemands-Herrschaft“, der bislang unveröffentlicht war.

Der Sammelband ist mehr als „lediglich“ eine Würdigung eines engagierten Intellektuellen – es ist eine Fundgrube für kritische Wissenschaft und Gesellschaftsreflexion. Für mich selbst, der bei Narr studiert und promoviert hat, ist dieser Sammelband noch voller, mir bislang unbekannter Schätze im Sinne von anregenden Beiträgen, die (leider) nichts an Aktualität verloren haben.

Die Herausgeber schreiben über ihre eigene Intention: „Dieser Band soll neugierig machen und vor allem die jüngeren Generationen anregen, einen ungewöhnlichen und überraschenden Autor zu entdecken. (…) Das vorliegende Buch kann und will zudem weder eine Biographie noch eine Festschrift ersetzen, wie sie üblicherweise von Kolleginnen und Kollegen beigesteuert wird.“ (S. 11f.).

Neben diesem Sammelband ist seit November 2017 die Website www.wolfdieternarr.de online, die die freigegebenen Texte von Wolf-Dieter Narr (u.a. aus der Graswurzelrevolution) in digitalisierter Fassung versammelt.

Beide Initiativen sind sehr unterstützenswert und bereichernd.

Wolf-Dieter Narr: Radikale Kritik und emanzipatorische Praxis. Ausgewählte Schriften, Westfälisches Dampfboot, Münster 2017, 220 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-89691-298-5