kleine unterschiede

Feminismus muss praktisch werden – auch in Schweden

| Lovisa Moberg

Ich setze mich hin, um einen Text zum Thema sexualisierte Gewalt zu schreiben, und ich denke: Was kann ich sagen, was nicht schon gesagt worden ist?

Es ist doch alles so oft schon gesagt worden. In Wort und Schrift, an Küchentischen und in Fernsehbeiträgen, auf Demonstrationen und bei Podiumsdiskussionen, im Radio und im Internet. Mit Hashtags versehen, in durchdacht formulierten Facebook-Kommentaren, in wütenden Abkotz-Tweets. Ich beklage mich bei einer Freundin darüber, und sie sagt: aber offenbar ist es alles noch nicht oft genug gesagt worden. Sie hat Recht, und deshalb kommt hier eine Liste über fünf Sachen, von denen ich möchte, dass sie alle über dieses Thema wissen. Dass ein gewisser Fokus auf Schweden liegt, kommt daher, dass ich einen persönlichen Bezug zu diesem Land habe (nämlich, dass ich meine ersten 19 Lebensjahre dort verbracht habe). Und daher, dass ich das in vielen deutschen Köpfen vorherrschende Bullerbü-romantische Bild von diesem Land gerne relativiere.

1. Sexualisierte Gewalt ist nichts Neues

Dem aktuellsten Aufschwung des Teilens und Sichtbarmachens von sexualisierter Gewalt, die #metoo-Kampagne, begegnete von vielen Seiten ein großes Staunen und Wundern. Gudrun Schyman, Vorsitzende der schwedischen Partei Feministische Initiative, fragte: „Wie können so viele Leute so lange so staunen?“. Ein Beispiel: Stefan Löfvén, der schwedische Ministerpräsident, meinte, er habe während seiner langjährigen politischen und gewerkschaftlichen Tätigkeit noch nie sexuelle Belästigung mitbekommen. Um die Aufforderung eines älteren Hashtags wieder aufzugreifen: schau hin, Stefan. Es ist da. Sich dessen überhaupt bewusst zu machen, ist der erste Schritt, um es zu beheben.

2. Sexualisierte Gewalt ist ein breites Spektrum

Nicht alle, die ihrer digitalen Präsenz ein #metoo hinzugefügt haben, wurden etwa von einem unbekannten Täter brutal vergewaltigt. Eine davon wurde vielleicht im Club angegrabscht. Oder im Klassenzimmer in der Grundschule. Eine hat sich auf eine sexuelle Praktik eingelassen, auf die sie eigentlich keinen Bock hatte, weil die andere Person nicht aufgehört hat zu fragen (oder gar nicht erst gefragt hat). Eine ist vielleicht am hellichten Tag die Straße entlang gelaufen, als ein Typ, der ihr entgegenkam, wie beiläufig die Hand ausgestreckt und ihre Brüste angefasst hat. Eine hat einen Vater, dessen Definition von Vaterliebe etwas zu weit gefasst ist. Eine war im Juli auf der Party in den Stockholmer Schären, bei der sich der ehemalige Finanzminister Anders Borg entblößt, mehrere Menschen physisch belästigt und Frauen als „Huren“ beschimpft hat.

3. Jedes der oben genannten Beispiele ist ein ernstzunehmender Fall

Erfahrungsberichte kleinzureden und mit Kommentaren à la „gibt Schlimmeres“ zu relativieren, hilft niemandem – und ist zudem ein Phänomen, was bei anderen Delikten selten vorkommt. Wenn jemandem der Geldbeutel aus der Tasche geklaut wird, tröstet es die Person herzlich wenig, dass auch Banküberfälle vorkommen. (Und die Argumente à la „selber Schuld“ brauche ich hoffentlich nicht erst anzusprechen.)

4. Sexualisierte Gewalt ist kein isoliertes Phänomen

Es geht nicht um Individuen, die zufällig verrückt oder schlecht erzogen sind. Sexualisierte Gewalt ist ein Produkt eines Systems, in dem der weibliche Körper zum Objekt und zur Ware gemacht wird, in dem die männliche Sozialisation körperliche Annäherung bis hin zu Gewalt als die einzigen Ausdrucksmöglichkeiten von Gefühlen und Zuneigung lehrt, in dem Kinder von klein auf lernen, dass die Erfahrungen, Empfindungen und Errungenschaften von Frauen weniger wert und weniger wichtig sind als die von Männern. Die Lösung dieses Problems liegt somit nicht nur in dem Bestrafen einzelner Täter – als ob selbst das ausreichend gemacht werden würde – sondern in dem aktiven Bekämpfen dieser Muster auf allen Ebenen. (Wir könnten es ja, um es kurz zu fassen, „Patriarchat stürzen“ nennen, oder so. Nur so ein Einfall.)

5. Sexualisierte Gewalt verschwindet nicht durch Reden alleine

Wie geht nochmal dieser schlaue Spruch mit den Worten und Taten?

Besagter Ex-Finanzminister Anders Borg versteht sich nach eigener Aussage als Feminist. So auch die aktuelle schwedische Regierung. Dieses Wort ist, wie sich aus diesen Beispielen schließen lässt, in Schweden um einiges salonfähiger als in Deutschland – aber dadurch auch ausgelutschter. Sprechen, diskutieren, bewusst werden, das, was nun alles durch #metoo verstärkt passiert, ist super; allerdings muss so etwas wie widersprechen, eingreifen, sich und andere bilden, Gesetze erlassen genauso verstärkt passieren. Feminismus muss praktisch werden.

Lovisa Moberg wuchs in einem winzigen Dorf an der schwedischen Ostseeküste auf und verließ selbiges baldmöglichst nach ihrem Abitur. Sechs Jahre, vier WGs und einen Bachelor in Romanistik und Islamwissenschaft später fühlt sie sich in Freiburg längst zuhause und vermisst eigentlich nur den Salzlakritz und das Meer. Ihr feministisches Erwachen hat sie der großen Schwester ihrer besten Kindheitsfreundin zu verdanken. Ihr Lieblings-Inspirations-Zitat ist: "Wir müssen unseren Alltag so inszenieren, dass er an unsere Utopie erinnert." (Athena Farrokhzad)