Dr. Bernd Drücke ist Soziologe, Koordinationsredakteur der Monatszeitung Graswurzelrevolution und Anarchist. Er tritt für eine gewaltlose und herrschaftsfreie Gesellschaft ein. Wir sprechen über das Verständnis von Macht und Herrschaft, über den Anarchismus in Katalonien und Rojava und die Renaissance anarchistischer Ideen.
Gunther Sosna: Bernd, die wenigsten Menschen können sich vorstellen, was eine herrschaftsfreie Gesellschaft sein soll. Deshalb möchte ich unser Gespräch mit einer vielleicht überraschenden Frage einleiten. Ist Pippi Langstrumpf eine typische Anarchistin?
Bernd Drücke: Pippi Langstrumpf entspricht in vielerlei Hinsicht tatsächlich der Idealvorstellung, die auch viele Anarchistinnen und Anarchisten von Anarchistinnen haben. Sie ist freiheitsliebend, rebellisch, antiautoritär, nonkonformistisch, feministisch und sozial kompetent. Sie ist schlagfertig, humorvoll und entspricht so ganz und gar nicht dem konservativen Bild, wie ein Mädchen zu sein hat. Sie will nicht herrschen und sich nicht beherrschen lassen. Das sind anarchistische Eigenschaften. Kein Wunder also, dass Pippi Langstrumpf auch in der anarchistischen Szene bis heute populär ist.
Dabei gibt es aber auch Schattenseiten, die ich nicht ausklammern möchte. Astrid Lindgren hat das Kinderbuch 1944 in Schweden geschrieben und war ihrer Zeit damit weit voraus. Lindgren war aber auch ein Kind ihrer Zeit und nicht frei von Rassismen und kolonialistischen Klischeevorstellungen. Die finden sich auch in ihren Büchern.
Ein Beispiel dafür ist, wenn sich schwarze Kinder Pippi bei einem Besuch in Afrika vor die Füße werfen. Diese Darstellung ist nicht anarchistisch, sondern entspricht dem rassistischen Klischee vom unterwürfigen „Neger“. Auch rassistische Begriffe wie „Neger“ und „Zigeuner“ finden sich in Lindgrens Büchern. Ich finde es gut, dass die neuen Versionen der Pippi-Kinderbücher heute sprachlich überarbeitet sind und aus dem „Negerkönig“ ein „Südseekönig“ wurde.
Mir fiel Pippi Langstrumpf ein, weil sie durch ihre unglaubliche Kraft die Welt gestalten kann, wie sie will und leicht Herrschaft über andere ausüben könnte, es aber nicht tut, sondern in ihrem Verhalten rücksichtsvoll und sozial ist. Sind das Eigenschaften, die Anarchisten grundsätzlich auszeichnen?
Ja, das sind Eigenschaften, die Anarchistinnen und Anarchisten auszeichnen sollten. Als Anarchist bist du aber nicht automatisch ein besserer Mensch. Die Geschichte zeigt ja, dass sich auch (ehemalige) Anarchisten zu üblen Despoten entwickeln können. Der russische Anarchist Michail Bakunin hat das vor 160 Jahren schon gut auf den Punkt gebracht:
„Wir sind in der Tat Feinde jeglicher Macht, weil wir wissen, daß Macht ebenso zersetzend auf den wirkt, der sie hat, wie auf den, der ihr gehorchen muß. Wir Anarchistinnen und Anarchisten wollen die Selbstorganisation einer Gesellschaft, die auf Gewalt- und Machtpositionen verzichtet.“
Der Begriff Anarchismus wird auffallend häufig mit Chaos und Gewalt verknüpft. Im Zusammenhang mit den Krawallen im Hamburger Schanzenviertel bei G-20 betitelte zum Beispiel die taz einen Beitrag mit der Headline „Der Abend der Anarchie“. Ich wüsste jetzt aber keine Schlagzeile in den überregionalen Medien, die anarchistische Vorzüge wie Basisdemokratie, Dialog auf Augenhöhe oder die Beteiligung aller Menschen an Entscheidungsprozessen auf den Schild heben. Wie ist historisch diese negative Sicht auf den Anarchismus begründet?
Diese Diffamierung des Anarchiebegriffs als Chaos und Terror hat leider eine lange Tradition. Der Begriff Anarchie beziehungsweise an-archia (ohne Herrschaft) stammt aus der griechischen Antike und hat eine über 2000 Jahre alte Geschichte des Wandels hinter sich. Der Begriff „Anarchist“ stammt aus der Zeit der Französischen Revolution und war bis 1840 ein reiner Schmähbegriff. Die meisten Menschen waren damals gottesfürchtige Menschen. Sie konnten oder wollten sich nicht vorstellen, dass Herrschaftsfreiheit ein erstrebenswerter Zustand sei. Immanuel Kant definierte Anarchie zwar schon im 18. Jahrhundert treffend als „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“. Das war allerdings auch für diesen berühmten Philosophen ein Zustand, den er ablehnte.
Die anarchistische Bewegung entstand erst ab 1840. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Spaltung der Ersten Internationale in einen autoritär-marxistischen Flügel um Marx und Engels und einen libertär-sozialistischen beziehungsweise antiautoritär-anarchistischen Flügel um Michail Bakunin. Wenn wir uns ansehen, was Bakunin damals schrieb, dann können wir das mit Blick auf die spätere Entwicklung in den „realsozialistischen Ländern“ teilweise als geradezu prophetisch bezeichnen.
Er charakterisierte die Ideen von Marx in den 1860er Jahren als autoritär. Bakunin stellte die These auf, dass, wenn eine marxistische Partei der Arbeiterklasse an die Macht käme, es am Ende genau so schlimm wäre, wie die Herrschaft der Klasse der Kapitalisten, gegen die sie gekämpft hatten. Im Jahre 1872 gipfelte der Konflikt in der Ersten Internationale mit einem endgültigen Bruch zwischen AnarchistInnen und MarxistInnen.
Der Anarchismus, der einen freiheitlichen Sozialismus zum Ziel hat, wurde sowohl in den kapitalistischen Ländern als auch in den „realsozialistischen“ Diktaturen bekämpft und in den Massenmedien diffamiert. Daran hat sich leider bis heute kaum etwas geändert, wie ja nicht nur die Berichterstattung zum G-20-Gipfel zeigt.
Herrschaft kann ja nur derjenige ausüben, der über die nötigen Mittel der Macht verfügt, um sich über den Willen anderer Menschen hinwegzusetzen oder wenn Menschen die Verantwortung für das eigene Sein auf ihn übertragen. Aber genau das passiert permanent und überall. Am Arbeitsplatz entscheidet der Chef über den Mitarbeiter, in der Schule der Lehrer über die Schüler, Politiker entscheiden über das Wohl oder Übel der Bevölkerung und selbst im Supermarkt bist du als Mensch nicht frei, weil der Geldbeutel dein Einkaufsverhalten beherrscht. Unter welchen sozialen Voraussetzungen ist eine herrschaftsfreie Gesellschaft möglich?
Ich denke, dass alle Menschen ein anarchistisches Potenzial in sich haben, das es zu wecken gilt. Die sozialen Voraussetzungen für eine herrschaftsfreie Gesellschaft erscheinen den meisten Menschen als rein utopisch. Tatsächlich gab es aber auch schon egalitäre Gesellschaften, die wir als anarchisch oder „früh-anarchistisch“ einstufen können. Dazu sei hier zum Beispiel das Buch „Herrschaftsfreie Institutionen“ von Rüdiger Haude und Thomas Wagner empfohlen, das voraussichtlich 2018 im Verlag Graswurzelrevolution neu erscheint.
Der bekannteste und bisher wohl größte Versuch, eine Gesellschaft herrschaftsfrei zu organisieren, fand im Sommer 1936 in großen Teilen Spaniens statt, als sich die anarchosyndikalistische Massengewerkschaft CNT und mit ihr Millionen Menschen gegen den faschistischen Franco-Putsch stellten. In Barcelona und anderen Regionen Spaniens fand 1936 tatsächlich ein „Kurzer Sommer der Anarchie“ statt. Und das unter den denkbar ungünstigen Bedingungen eines Bürgerkriegs.
Anarchismus ist für mich aber weder nur etwas Historisches noch eine reine Utopie. Wir können versuchen, jetzt schon ein Stück Anarchie zu leben. Wenn wir uns mit anderen Menschen zusammentun, um gegen den Atomstaat, gegen den Klimakiller RWE, gegen Sozialkahlschlag oder die drohende Vernichtung bezahlbaren Wohnraums zu agieren, dann sind es oft anarchistische Prinzipien, die da zur Anwendung kommen.
Wenn wir seit 1972 Monat für Monat die basisdemokratisch organisierte Bewegungszeitung „Graswurzelrevolution“ herausbringen, dann ist das für mich jedes Mal auch ein Beleg dafür, dass es möglich ist, sich gewaltfrei und herrschaftslos zu organisieren und ein Stück Gegenöffentlichkeit zu schaffen.
Geben die Menschen zu leichtfertig Verantwortung ab oder wird sie ihnen aus den Händen gerissen?
Die Menschen wachsen in hierarchischen Strukturen auf und werden zur Unmündigkeit erzogen. Das gilt es zu überwinden. Aber ich sehe auch Licht am Horizont. Es wurde vor allem mit Mitteln des zivilen Ungehorsams in den letzten Jahren schon viel erreicht. Denken wir nur an die Atomindustrie.
Hätte es nicht – verstärkt nach den Atomkatastrophen in Tschernobyl und Fukushima – massiven Protest und Widerstand aus der Bevölkerung gegeben, würden heute eine Plutoniumfabrik und weit über 100 Atomkraftwerke in Deutschland stehen. Die Geschichte der Anti-Atom-Bewegung zeigt ja auch, dass Menschen sich wehren und Verantwortung für sich und kommende Generationen übernehmen können.
Das kapitalistische Wirtschaftssystem taumelt von einer Krise in die nächste. Durch die unübersehbaren Folgen der Umweltzerstörung, die Intensivierung kriegerischer Handlungen und die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, scheint sich sein Ende abzuzeichnen. Das System frisst sich selbst auf. Entwickelt sich aus dem Niedergang die Grundlage für eine Renaissance anarchistischer Ideen?
Da gibt es leider keinen Automatismus. Es kann auch in eine ganz andere, für Menschen und Natur zerstörerische Richtung gehen. Wenn ich sehe, dass in den USA ein extrem rechter Narzisst zum Präsidenten gewählt wurde und in vielen Ländern rassistische Bewegungen und Parteien wie FPÖ und AfD Zulauf haben, dann befürchte ich, dass statt einer menschengerechten freiheitlich-sozialistischen Graswurzelrevolution auch das genaue Gegenteil aufziehen kann, ein neuer Faschismus. Dagegen gilt es sich zu stemmen.
In den europäischen Nachbarländern ist die Zivilgesellschaft offensichtlich viel interessierter an anarchistischen Konzepten, als es in Deutschland der Fall ist, oder unterliege ich da einer Täuschung?
In Deutschland wurde der Anarchismus durch zwölf Jahre Nazidiktatur fast vollständig ausgelöscht. Nach dem Ersten Weltkrieg organisierten sich im damaligen Deutschen Reich in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft FAUD (Freie Arbeiter Union Deutschlands) zeitweise bis zu 200.000 Menschen. Von einer solchen Relevanz und Massenbasis ist die heutige Anarcho-Szene weit entfernt. Aber ich denke, gewaltfrei-anarchistische Ideen sind auch hierzulande in der Anti-Atom-Bewegung und anderen sozialen Bewegungen weit verbreitet. Viele Menschen wollen möglichst herrschaftsfrei, solidarisch und ökologisch leben, aber sie schrecken davor zurück sich als Anarchist oder Anarchistin zu bezeichnen, weil diese Begriffe so negativ besetzt sind. Wir brauchen ein neues Bewusstsein.
Es soll in Deutschland über 600.000 Vereine, Initiativen, Bürgerkomitees und andere Organisationsformen geben. Lösen sich auf dieser kleinteiligen gesellschaftlichen Ebene die alten Macht- und Herrschaftsstrukturen bereits auf?
Na ja, eher nicht. Das deutsche Vereinsrecht sieht den Vorsitzenden vor. Das ist weder kollektivistisch noch herrschaftsfrei.
Die Bürgerbewegung Nuit Debout, die ich als sehr anarchistisch wahrgenommen habe, hat im vergangenen Jahr in Frankreich die Massen auf die öffentlichen Plätze gebracht. Da gab es keine Anführer oder Vorschriften, sondern ziemlich einfache Regeln des Miteinander und trotzdem entstanden Zeitungen, Radiosender, Fernsehformate, Theatergruppen usw. Da hat sich aus dem Nichts unglaublich viel entwickelt. War das ein Zufallsprodukt oder die typische soziale Kraft, die sich im Anarchismus entfaltet?
Nuit Debout, Occupy und andere neue soziale Bewegungen sind Beispiele dafür, wie anarchistische Ideen in neuen sozialen Bewegungen wirken und einerseits die Beteiligten verändern und andererseits gesellschaftlichen Wandel bewirken können. Das heißt nicht, dass die Aktiven sich allesamt als anarchistisch verstehen. Die persönlichen Erfahrungen auch von Solidarität, egalitärer Konsensfindung und kollektiver Macht von unten, die Menschen in solchen heterogenen Bewegungen machen können, wirken vielleicht manchmal politisierender als jedes anarchistische Buch.
Schauen wir nach Katalonien. Kannst du kurz erläutern, vom aktuellen Konflikt abgesehen, warum die Region für den Anarchismus bedeutsam ist?
Katalonien war sozusagen immer schon eine Herzkammer des Anarchismus. Die Soziale Revolution, die 1936 in Barcelona und großen Teilen Kataloniens gegen den Franco-Putsch stattfand, war einzigartig. Träger waren damals die anarchosyndikalistische CNT (Confederación Nacional del Trabajo) und die anarchistische FAI (Federación Anarquista Ibérica). Nach dem Ende der Franco-Diktatur erlebte der Anarchosyndikalismus in Barcelona eine Wiedergeburt. Als 1978 aus ganz Europa 200.000 Menschen am Kongress der wieder legalen CNT teilnahmen, war das sozusagen eine Initialzündung. Heute sind die anarchosyndikalistischen Gewerkschaften CGT (Confederación General del Trabajo) und CNT in Spanien mit insgesamt etwa 70.000 Mitgliedern im Vergleich zur kleinen anarchosyndikalistischen FAU in Deutschland noch immer relativ einflussreich.
Mit der CUP (Anm.: Candidatura dUnitat Popular) sitzt heute eine Partei im Regionalparlament, die sich als basisdemokratische politische Organisation sieht und die in der Tradition des katalanischen Anarchismus stehen soll. Ist das so? Anarchismus und Parlamentarismus passen doch nicht zusammen, oder ?
Die CUP beruft sich zwar auch auf basisdemokratische und anarchistische Ideen, hat aber mit Anarchismus so wenig am Hut wie einst die Grünen in ihren basisdemokratischen Anfangsjahren. Als „separatistische“, also nationalistische Partei strebt die CUP einen katalanischen Staat an. Katalanische AnarchistInnen setzen diesem Nationalismus Parolen entgegen wie „Tod jedem Nationalismus! Weder Fahnen, noch Grenzen!“.
Die anarchosyndikalistische CNT Barcelona rief einerseits auch zum Generalstreik gegen die Gewalt der spanischen Zentralregierung auf, plakatierte im November 2017 aber auch „Ni Patria Ni Patrón Ni Rajoy Ni Puigdemont!“, um sich klar von jedem Nationalismus abzugrenzen und sich sowohl von der katalanischen Regionalregierung als auch von der rechtskonservativen spanischen Zentralregierung zu distanzieren. Ähnlich antinationalistisch positionierte sich auch die anarchosyndikalistische CGT. Der Anarchismus sitzt in Spanien also sozusagen zwischen allen Stühlen. Ein guter Platz, wenn auf beiden Stühlen Mist liegt.
Die Katalanen wollten Verantwortung übernehmen, in dem sie darüber abstimmten, ob die autonome Region die Unabhängigkeit von Spanien anstreben soll. Die Polizei hat die Menschen dafür niedergeprügelt und die Zentralregierung in Madrid hat die Herrschaft per Gesetz übernommen. Jene Politiker, denen die katalanische Bevölkerung durch Wahlen die Verantwortung für die Region anvertraut hat, wurden entmachtet. Jetzt organisieren große Gruppierungen wie die ANC (Anm.: Assemblea Nacional Catalana), Òmnium Cultural und andere Komitees gewaltfreien Widerstand. Kann man sagen, dass der Anarchismus erst richtig aufblüht, wenn der Staat Gewalt anwendet?
Nein, das würde ich nicht so sehen. Die Mehrheit der Bevölkerung in den katalanischen Gebieten hat sich an der von der katalanischen Regionalregierung angesetzten und vom spanischen Staat als „illegal“ eingestufte Abstimmung über einen katalanischen Staat gar nicht beteiligt. Das trifft auch auf die AnarchistInnen zu, die sowohl den spanischen als auch den katalanischen Nationalismus ablehnen. Und die vielen Menschen zum Beispiel aus Lateinamerika, die in den Betrieben der kapitalistischen Boomregion Katalonien oft zu miesen Bedingungen arbeiten müssen, hatten gar kein Stimmrecht.
Die Wahl hat die Spaltung in Spanien und Katalonien vorangetrieben und die Nationalisten auf beiden Seiten gestärkt und radikalisiert. Das ist keine Entwicklung, von der wir mehr Emanzipation und eine nötige Umverteilung von unten nach oben erwarten können.
Große Teile der katalanischen Eliten wollen, dass „ihr Geld“ in Katalonien bleibt und nicht an andere ärmere Regionen Spaniens verteilt wird. Denen geht es nicht um eine gerechtere Gesellschaft, sondern um ihren Profit. Dass sie dafür im Wahlkampf versprochen haben, dass Katalonien nach der Abspaltung von Spanien in der EU bleiben kann, ist Propaganda. Gegen den Willen des EU-Mitglieds Spanien kann ein Staat Katalonien kein Mitgliedsstaat der EU werden.
Inwieweit spiegelt sich in dieser Auseinandersetzung der Wunsch nach einer herrschaftsfreien Gesellschaft wider?
Ich denke, dass es bei diesem Konflikt nicht um eine herrschaftsfreie Gesellschaft geht. Die katalanischen Nationalisten wollen einen katalanischen Staat mit eigenen Grenzen, Militär und allem, was dazu gehört. Die spanischen Nationalisten wollen ihren „unteilbaren“ Staat behalten. Keine von beiden Seiten will eine herrschaftsfreie Gesellschaft.
Lass uns nach Syrien schauen. Ist Rojava, die autonome Region im Norden des Landes, ein Beispiel für eine Gesellschaft anarchistischer Prägung oder haben die dortigen Strukturen mit Anarchismus nichts zu tun?
Rojava ist sicherlich die einzige Region auf dem Gebiet des ehemaligen Zentralstaats Syrien, in der versucht wird, die Menschenrechte einzuhalten und eine demokratische Gesellschaft zu organisieren. Das hat viel mit dem Wandel zu tun, den der von vielen Kurden auch in Syrien als „Serok Apo“ (Anführer Onkel) verehrte Abdullah Öcalan vollzogen hat.
Der langjährige Vorsitzende der Kurdischen Arbeiterpartei PKK sitzt seit 1999 in der Türkei in Haft. Dort hat sich der ehemalige Stalinist gewandelt. Dafür verantwortlich sind auch die Bücher des US-amerikanischen Öko-Anarchisten Murray Bookchin, die Öcalan in der Haft gelesen hat.
Sie haben bei ihm einen Umdenkungsprozess eingeleitet. Die kurdische Bewegung in Rojava und der Türkei wurde stark inspiriert durch das 2010 erschienene Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ von Öcalan, in dem der ehemalige kurdische Nationalist eine selbst erklärte „Abkehr vom Dogmatismus“ vollzogen hat. In diesem 600-Seiten-Wälzer hat er sich positiv auf Bookchin bezogen, auf den libertären Kommunalismus, der von Bookchin in den 1970er und 80er Jahren mitentwickelt worden ist. Öcalan versteht sich nicht als Anarchist. Der demokratische Konföderalismus, den er anstelle eines (kurdischen) Nationalstaats anstrebt und den Kurden versuchen in Rojava zu realisieren, ist aber stark von Bookchins anarchistischen Ideen beeinflusst.
Das ist in gewisser Weise auch eine pragmatische Antwort auf die Situation der kurdischen Bevölkerung, die in Syrien, der Türkei, im Irak und Iran leben. Es gibt diese mächtigen Nationalstaaten, in denen die kurdische Bevölkerung als Minderheit lebt. Wie unrealistisch ein kurdischer Staat ist, zeigt ja der kriegerische Angriff, mit dem die irakische Regierung auf die staatliche Unabhängigkeitserklärung des (mittlerweile zurückgetretenen) irakischen Kurdenführers Barsani reagiert hat. Da ist der Ansatz der kurdischen Bewegung in Syrien aus anarchistischer Perspektive sympathischer. In Rojava wird versucht, basisdemokratische Strukturen jenseits des Staats zu schaffen, die irgendwann die Macht des Staats zurückdrängen.
Die Kurden in Syrien haben mithilfe des US-Militärs den terroristischen IS erfolgreich zurückgedrängt. Ob sich Rojava aber längerfristig etablieren kann? Das ist fraglich. Weder die türkische Autokratie noch der syrische Diktator haben ein Interesse an einer autonomen kurdischen Region.
Als gewaltfreier Anarchist und Antimilitarist ist Krieg für mich ein Verbrechen an der Menschheit und die Kriegsdienstverweigerung ein universelles Menschenrecht. Kriegsdienstverweigerer werden aber auch in Rojava drangsaliert.
Offensichtliche Mängel in der Gesellschaft und krasse Ungerechtigkeiten auf der Welt, die in direktem Zusammenhang mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem stehen, werden Tag für Tag von den Medien, in den sozialen Netzwerken, aber auch von Politikern kritisiert. Altersarmut, Kinderarmut, Obdachlosigkeit, Waffenexporte, Kriege, legitimierte Steuerflucht der Reichen, Bankenrettung auf Kosten der Bevölkerung, Sanktionierung von Hartz-IV-Empfängern, Ausbeutung von Arbeitern durch gierige Unternehmer und noch gierigere Anleger, Verwaltungsirrsinn, Korruption, Bestechung, Lobbyismus, Paradise Papers – die Liste ist unendlich. Es entwickelt sich dennoch keine Diskussion darüber, ob ein anderes Gesellschaftsmodell für das 21. Jahrhundert vielleicht besser wäre. Was hält uns davon ab, diese Debatte zu führen?
Diese Diskussionen werden ja geführt, aber bisher nur in sozialen Nischen der Gesellschaft. So versucht beispielsweise die Monatszeitschrift Graswurzelrevolution schon seit 1972 als Sprachrohr sozialer Bewegungen Perspektiven für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft zu entwickeln.
Vielen Dank.
Interview: Gunther Sosna
erschienen auf: Neue Debatte, 8. Dezember 2017