wir sind nicht alleine

Libertäre Befreiung des „katalanischen Volkes“?

| Alexandre Froidevaux

Manche katalanische Linke versuchen, Nationalismus positiv zu besetzen. Mit der Unabhängigkeit Kataloniens verbinden sie die Hoffnung auf einen emanzipatorischen Prozess.

„Anarchie und Nation: Lässt sich das miteinander verbinden?“, luden vor Jahren Plakate in den Straßen Valencias zu einer Diskussionsveranstaltung ein. Was andernorts als Nonsens gelten würde, hier war es ernst gemeint. Teile der katalanischsprachigen Linken versuchen sich seit langem am Projekt eines linken Nationalismus.

In der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung spielt die sozialistische CUP (Candidatura d’Unitat Popular / Kandidatur der Volkseinheit) derzeit eine bedeutende Rolle. Sie tritt zwar bei Wahlen an, will aber keine Partei sein. (1)

Mit ihren libertären Organisationsprinzipien erinnert die CUP an die Grünen der 1980er Jahre: Basisdemokratie und Organisierung in den Kommunen („Munizipalismus“), Rotation von Funktionsträger_innen und die Beschränkung ihrer Gehälter. (2)

Die CUP sieht sich als Teil des europäischen Zapatismus. Doch während sich das zapatistische Original immer positiv auf das demokratische Versprechen der mexikanische Verfassung bezogen hat, möchte die CUP mit Spanien brechen. Sie strebt die „nationale Befreiung der Països Catalans“ an. Damit ist eine Art Großkatalonien bestehend aus allen katalanischsprachigen Gebieten gemeint, wozu auch die Region Valencia, die balearischen Inseln, Andorra und ein kleiner Teil Frankreichs gezählt wird.

Befreien möchten sich die linken Nationalist_innen vom „Regime von 1978“, also der Verfasstheit Spaniens, wie sie sich im Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie herausbildete. Sie verweisen darauf, dass die sozialen wie politischen Eliten des Franquismus damals ebenso unangetastet blieben wie Polizei, Justiz und Militär.

Nationalspanische Stimmen warten dagegen gerne mit der Erzählung einer „modellhaften“ Transición auf: Im Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie hätten die ehedem verfeindeten Spanier_innen mittels Kompromiss und Versöhnung in geradezu vorbildlicher Art und Weise wieder zueinander gefunden.

Das nationalspanische Establishment macht sich diesen Gründungsmythos der parlamentarischen Monarchie bis heute gerne zunutze, allen voran die Regierungspartei Partido Popular (PP) um den Ministerpräsidenten Mariano Rajoy.

Eine Aufarbeitung der Diktatur und ihrer Verbrechen hat der PP dagegen immer blockiert.

140.000 bis 200.000 ermordete Antifranquist_innen? Wer darüber sprechen will, dem werfen die spanischen Konservativen bis heute vor, alte Wunden aufzureißen.

Doch die Wunden der Angehörigen konnten nie heilen, blieben die Opfer doch in anonymen Massengräbern im ganzen Land verscharrt und vergessen.

Der PP, gegründet von einem ehemaligen Minister Francos, steht mental wie biografisch noch mit einem Bein im Franquismus. Kein Wunder, dass man sich in der Partei gerne folgende Geschichte erzählt: In den 1930er Jahren sei das Land während der Zweiten Republik, der ersten spanischen Demokratie, im Chaos versunken. Nur dem beherzten Eingreifen Francisco Francos und seiner Gefolgsleute sei es zu verdanken, dass Spanien damals nicht unterging.

Das Regime habe nach dem Bürgerkrieg nicht nur den Frieden gebracht, sondern wirtschaftliche Reformen eingeleitet. Diese Modernisierungen hätten Spanien erst reif für die Demokratie und für Europa gemacht. Dass die Franquist_innen nach Francos Tod 1975 die Diktatur am liebsten fortgeführt hätten, lässt man dabei gerne unter den Tisch fallen.

Umso energischer verteidigen die Postfranquist_innen heute den Status quo. Tatsächlich stimmte 1978 in Katalonien und anderswo eine überwältigende Mehrheit für die Verfassung. Allerdings vor allem deshalb, weil sie die Demokratie brachte. Die Alternative hätte geheißen, weiter unter einem autoritären Regime zu leben. Zu jener Zeit gab es im Militär mehrere Verschwörungen gegen die demokratische Wende.

Wer die aktuellen Ereignisse in Katalonien verstehen möchte, darf den dominanten spanischen Nationalismus nicht übersehen. Den „monarchischen Block“ nennt Podemos-Chef Pablo Iglesias die antikatalanische Koalition aus PP, Ciudadanos und der Sozialistischen Partei. Dieser Block wendet sich lautstark gegen den Nationalismus der Katalan_innen, so bei der großen Pro-Spanien-Demonstration am 29. Oktober 2017 in Barcelona – und tut dabei sei, als sei Nationalismus nur eine Sache der anderen.

Dabei gehört es zum Wesensgehalt des nationalspanischen Lagers, die Einheit des Landes unter allen Umständen zu verteidigen. „Spanien: eins, groß und frei“ lautete das franquistische Motto. Garanten der territorialen Einheit waren dabei immer schon das Militär und sein oberster Dienstherr, früher Franco, heute der Monarch.

Als der König am 3. Oktober 2017 eine Rede zur katalanischen Frage hielt, war es geradezu putzig mit anzusehen, wie deutsche Spanien-Korrespondent_innen erstaunt feststellten: Der Mann fällt ja als Vermittler aus! Dabei hatte Felipe genau die Rede gehalten, die von ihm zu erwarten war: Die Einheit Spaniens ist nicht verhandelbar. Subtext: Wenn es sein muss, zögern wir nicht, Gewalt anzuwenden.

Der Katalanismus kam im 19. Jahrhundert zunächst als Kulturnationalismus auf. Im Zentrum dieser Bewegung standen die katalanische Sprache und Literatur. Zwar gab es schon früh Autonomiebestrebungen, aber auf Unabhängigkeit von Spanien setzte immer nur ein Teil der katalanischen Nationalist_innen.

Der Nationalismus benötigt einen interessegeleiteten Gebrauch von Geschichte, um sich seine Nation historisch zurechtzuzimmern. Die katalanische Variante bildet da keine Ausnahme, auch die linke nicht. Was die Geschichte des 20. Jahrhundert angeht, greifen die Katalanist_innen erkennbar gerne auf Glättungen und Überzeichnungen zurück.

1936 gab es auch in Katalonien Unterstützer_innen des rechtsradikalen Putsches gegen die Republik? Und in der Diktatur später auch katalanische Franquist_innen? Darüber spricht man lieber nicht. In mancher Darstellung erscheint der Bürgerkrieg als ein Überfall spanischer Truppen auf Katalonien.

Im Juli 1936 waren die Anarchosyndikalist_innen die bestimmende Kraft in Barcelona? Bei den Straßenschlachten im Mai 1937 bekämpften katalanische Nationalist_innen die CNT Seite an Seite mit kommunistischen Einheiten?

Das muss man ja nicht unbedingt betonen.

Dabei war Katalonien bekanntermaßen eine Hochburg des Anarchosyndikalismus. Nur war dieser eben sozialrevolutionär und nicht nationalistisch ausgerichtet.

Als der linksrepublikanische Präsident Lluis Companys 1934 eine eigenständige katalanische Republik ausrief, brach dieser frühe separatistische Versuch vor allem auch deswegen zusammen, weil die CNT diese Politik nicht unterstützte. Während des Spanischen Bürgerkrieges sprangen manche Anarchist_innen gleichwohl auf den propagandistischen Zug des (spanischen) Nationalismus auf. (3) Schon damals zeigte sich, welch eine große Anziehungskraft die nationalistische Ideologie bisweilen bis ins libertäre Lager hinein entfalten kann.

Zweifellos war es ein politisches Verbrechen, dass die Franco-Diktatur die katalanische Sprache und Kultur unterdrückte. Aber muss man deswegen von einem „versuchten kulturellen Genozid“ sprechen, wie es der Politikprofessor Vicenç Navarro aus Barcelona am 18. Oktober 2017 in der linken Tageszeitung El Público tat? Im privaten Umfeld durfte Katalanisch immerhin gesprochen werden und die kulturelle Repression schwächte sich im Laufe der Jahre deutlich ab.

Heutzutage kann von kultureller Unterdrückung in Katalonien ohnehin keine Rede mehr sein. An den Schulen ist Katalanisch die dominierende Sprache, übrigens zulasten der für Heranwachsende so förderlichen Zweisprachigkeit.

Es gibt zahlreiche katalanischsprachige Zeitungen, Buchverlage und einen TV-Sender, ohne katalanische Sprachkenntnisse wird niemand in den öffentlichen Dienst aufgenommen.

Die linken Nationalist_innen können darauf verweisen, dass sie in der breiten Massenbewegung für die Unabhängigkeit entscheidend mitmischen. Angeschoben von dieser Bewegung verabschiedete das katalanische Parlament Gesetze gegen Zwangsräumungen und den Einsatz von Gummigeschossen (die Madrid wieder annullierte), tausende nahmen an Refugee-Welcome-Demonstrationen teil.

CUP und Co. bauen auf einen partizipativen verfassungsgebenden Prozess für eine unabhängige katalanische Republik.

Dabei, so hoffen sie, ließen sich entscheidende emanzipatorische Errungenschaften durchsetzen. Mit einem eigenen Staat wären die Katalan_innen die Monarchie los, sie könnten sich eine föderale Struktur geben und vielleicht sogar ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen.

Doch übersehen sie einen wichtigen Punkt: Bis vor nicht allzu langer Zeit waren nur wenige Katalan_innen für die Unabhängigkeit. Diese gewann erst in den letzten Jahren an Zustimmung, nachdem der PP und das Verfassungsgericht ein neues Autonomiestatut verhindert hatten.

Entscheidend dabei war, dass Katalonien die Anerkennung als Nation ebenso verweigert wurde wie mehr Finanzhoheit. Es liegt auf der Hand: Würde Madrid die „Plurinationalität“ Spaniens offiziell anerkennen und Katalonien mehr Geld zugestehen, verlöre die separatistische Massenbewegung schnell an Kraft. Wohlstandschauvinistische Haltungen („Spanien raubt uns aus“) sind in Katalonien verbreiteter und die Linke schwächer, als der eine oder die andere wahrnehmen will.

Manche katalanische Anarchist_innen, angezogen von der basisdemokratischen Unabhängigkeitsbewegung, hoffen darauf, den spanischen Staat zu destabilisieren und so neue politische Räume zu öffnen. Oder sie denken, in einem kleineren Staat seien die Einflussmöglichkeiten von Basisbewegungen größer. (4)

Doch das erscheint fraglich. Vergleichbar große Länder wie Dänemark oder die Schweiz haben jedenfalls keine ausgewiesen emanzipatorische Richtung eingeschlagen. Und die Unternehmer_innen entscheiden sich im Zweifel gemäß ihres Klassenstandpunkts, wofür die katalanische Geschichte ein Paradebeispiel bereithält: Als die anarchosyndikalistische Bewegung in den 1920ern das katalanische Kapital ernsthaft herausforderte, begann die Bourgeoisie mit Hilfe von angeheuerten Killern einen mörderischen Klassenkampf. Kurze Zeit später machte sie mit der Diktatur von Miguel Primo de Rivera gemeinsame Sache. Dabei nahm sie die Rücknahme der ersten katalanischen Autonomie umstandslos in Kauf.

(1) Im spanischen Anarchismus versuchten Horacio Martínez Prieto und Joan García Oliver schon während des Bürgerkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit (vergeblich), eine libertäre Partei zu gründen (vgl. Alexandre Froidevaux: Gegengeschichten oder Versöhnung? Erinnerungskulturen und Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur Transición (1936-1982). Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2015, S. 135, 221 ff., 234 ff.).

(2) Vgl. Interview mit Mireia Vehí von der CUP: "Der Unabhängigkeitsprozess hat die Rechte nach links gedrängt". Februar 2017, www.raulzelik.net

(3) Vgl. A. Froidevaux: Gegengeschichten oder Versöhnung?, S. 114.

(4) Vgl. Anarchists on the Catalan Referendum: Three Perspectives from the Streets of Catalonia. 3. Oktober 2017, www.enoughisenough14.org

 

Dr. Alexandre Froidevaux arbeitet als freiberuflicher Historiker in Berlin, ist Mitglied im Gesprächskreis Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Autor des Buches "Gegengeschichten oder Versöhnung? Erinnerungskulturen und Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur Transición (1936-1982)" (Verlag Graswurzelrevolution 2015).