Thomas Wagner: Die Angstmacher. 1968 und die Neue Rechte. Aufbau Verlag, Berlin 2017, 352 Seiten, 18,95 Euro, ISBN 978-3-351-03686-7
Was die Neue Rechte ist und wie sie tickt, das lässt sich nur verstehen, wenn man sie als Reaktion auf 1968 begreift. Und beim Verstehen darf man es letztlich nicht belassen, man muss auch in Kontakt treten und mit Rechten reden. Das sind die beiden Anliegen, denen der Soziologe und ehemalige Kulturredakteur der marxistischen Tageszeitung „junge Welt“, Thomas Wagner, sein Buch „Die Angstmacher“ gewidmet hat.
Kriegserklärung gegen 68
Beide Ansprüche sind durchaus plausibel. Auch wenn bei den ProtagonistInnen von AfD und Pegida nicht immer explizit gegen die sozialen Bewegungen der späten 1960er gewettert wird, implizit haben sie hier ihre Gegenpositionen: Das kann der Feminismus sein, der die bürgerliche Kleinfamilie in Frage stellt, das können Political Correctness oder Multikulturalismus sein, deren VertreterInnen in Kulturredaktionen und Lehrerzimmern vermutet und mit dem „Denken von 68“ identifiziert werden.
Wagner zeichnet nach, wie sich schon Ende der 1960er Jahre eine Neue Rechte formiert, die sich von Altnazis abgrenzt und als direkte Gegenbewegung gegen die Studierendenproteste und Marx-Lektüren versteht. Er zeigt auf, dass hier auch die Wurzeln der heutigen, ultrarechten „Identitären Bewegung“ in verschiedenen Ländern Europas liegen. Sie eint nämlich, wie es beim Identitären Markus Willinger heißt, die „Kriegserklärung an die 68er“. Kurz, für das konservative Lager bedeutete „1968“ einen Bruch, „der bis heute nachwirkt“. (24)
Und weil das rechte Lager wächst und immer mehr Zulauf bekommt, müssen sich Linke die Mühe machen, so Wagner, sie nicht nur zu verstehen, sondern auch mit ihnen zu kommunizieren. Nicht zuletzt um dem rechten Vormarsch Einhalt zu gebieten. Dieses Kommunikationsanliegen ist sicherlich etwas umstrittener als das Ansinnen, Neue Rechte und 68 in Bezug zueinander zu setzen.
Weil den Rechten dann ein Forum geboten und ihre gezähmt vorgetragene Hetze auch noch salonfähig wird, so die Gegenargumente.
Wagner gelingt es nicht, sie zu entkräften. Schließlich hat er nicht nur die intellektuellen Debatten der Nachkriegszeit nachvollzogen, den konservativen Vordenker Arnold Gehlen und das rechte Konzept des Ethnopluralismus studiert, die Debatten um die Popkultur der 1990er Jahre rekapituliert und all das für sich genommen wirklich gut nachvollziehbar geschildert, sondern: Er hat eben auch mit Rechten geredet. Was dabei herausgekommen ist, kann als Vorbild nicht dienen.
Neue Rechte und 68: Gegenreaktion oder Fortsetzung?
Wagners Buch sollte deshalb keine Anleitung sein, wie man sich mit der Neuen Rechten auseinandersetzt, weil er diesen Positionen viel zu wenig widerspricht und ihnen überhaupt zu wenig entgegensetzt.
Das liegt nicht nur an emotionalen Zufällen wie etwa jenem, dass Wagner den Identitären Martin Sellner für einen „auf sympathische Weise einnehmenden Kopf“ (194) hält. Sondern es hat systematische Gründe. So bleibt nämlich der zentrale Zusammenhang, den das Buch zu beschreiben antritt, von vornherein unklar: Ist die Neue Rechte nun eine Gegenreaktion auf „1968“, oder ist sie auch irgendwie deren Fortsetzung und Weiterentwicklung? Letzteres legt Wagner nämlich nahe, wenn er schon in der Einleitung darauf hinweist, dass Rechte in den letzten Jahren verstärkt viele Aktionsformen der Linken seit 1968 übernommen hätten: Störaktionen und Provokationen, Blockaden und Skandalisierungen. Hinzu kommen Überschneidungen wie antibürgerliche Haltungen oder bestimmte Spielarten eines gegen die USA gerichteten Antiimperialismus, die Wagner ausführt.
Mit dieser Parallelisierung ist das Buch nicht mehr länger nur eine Geschichte der Neuen Rechten, sondern läutet gewissermaßen eine neue Runde im Kampf um die Bedeutung der Revolten der „1968er Jahre“ ein. Wagner distanziert sich von den Interpretationen um das Jubiläumsjahr 2008, in denen ehemalige Protagonisten wie Gerd Koenen und vor allem Götz Aly versucht hatten, die 68erInnen in eine Reihe mit dem nationalsozialistischen Aufbruch zu stellen. Rudi Dutschke war Aly als „hitlerhaft“ erschienen, in Anlehnung an Hitlers „Mein Kampf“ hatte er die Auseinandersetzungen von 1968 als „Unser Kampf“ betitelt. Ein auch nur annähernder Verlust historischen Augenmaßes und analytischer Schärfe ist Wagner nicht nachzusagen. Er argumentiert vorsichtig, wägt ab, versucht zu verstehen. Aber die Vorsicht geht schlicht zu weit.
Sie führt dazu, dass kaum mehr durchdringt, dass der transnationalistische Aufbruch gegen den Autoritarismus, der 1968 kennzeichnet, mit den völkischen Gesellschaftsmodellen und ethnisierenden Exklusionen der Neuen Rechten nicht vereinbar ist. Die Revolten von 1968 sind ohne die antirassistischen Kämpfe in den USA, die Dekolonisierung, den Kampf gegen alte Nazis und Notstandsgesetze in der BRD und die feministische Forderung, auch das Private als politisch zu betrachten, nicht zu denken. Auch wenn es zweifellos hier und da Schnittmengen mit rechten Ansätzen und ÜberläuferInnen von links nach rechts gibt, dieser Gegensatz muss viel stärker betont werden. So wie das die Neue Rechte ja auch tut.
Konkret äußert sich die übertriebene Vorsicht sowohl in den ganz abgedruckten Gesprächen als auch in jenen, die in den Text eingeflochten sind.
Wenn etwa der neurechte Verleger und Publizist Götz Kubischek auf die Frage nach der Gewaltbereitschaft der Rechten antwortet, die Deutschen seien ein „altgewordenes, defensives Volk“ (193), dann benennt Wagner das nicht als essenzialisierenden Schwachsinn, sondern spricht von einer Antwort „mit Bedacht“ (193). Oder wenn die rechte Publizistin Ellen Kositza behauptet, die „Verfügungsgewalt der Frau über ihren Körper“ (244) gehöre zu den „anthropologischen Gewissheiten“ der Rechten, zwei Sätze vorher aber noch klarstellt: „Für mich ist Abtreibung nach wie vor Mord.“ Mit der Widersprüchlichkeit wird sie ebenso wenig konfrontiert wie mit dem fundamentalen Antifeminismus der Neuen Rechten.
Mangelnde Distanz
So stellt sich an vielen Stellen des Buches der Eindruck ein, dass Wagner sich seinem Gegenstand, den Neuen Rechten, ausliefert. Er gibt sich als Beobachter, referiert Positionen, kommentiert sehr zurückhaltend. Das ist einerseits vielleicht eine Voraussetzung, Verständnis überhaupt zu ermöglichen. Die Positionen müssen dargestellt werden. Andererseits aber bricht ihm die Distanz weg, lässt sich zwischen den referierten und der eigenen Position des Autors oft nicht mehr unterscheiden.
Das geht bis zur expliziten Zustimmung. Dem Lektor des rechten Antaios-Verlages, Benedikt Kaiser, widerspricht Wagner nicht, wenn dieser behauptet, die Linke hätte sich von ihrer Kapitalismuskritik verabschiedet. Im Gegenteil, Wagner findet auch, dass es eine „auf Sprachkorrekturen reduzierte Politik“ (295) in der Linken gebe.
Im Schlusskapitel vertritt Wagner die – allerdings auch von vielen Linken geteilte These -, die neue Stärke der Neuen Rechten gehe darauf zurück, dass sich die Linke nurmehr mit solchen neuen Sprachnormen statt mit der sozialen Frage beschäftigt habe. Da stehen die vermeintlich zweitrangigen kulturellen Differenzen mit ihren kleinlichen Kinkerlitzchen wie den Binnen-I- und Sternchenschreibweisen den angeblich wirklich wichtigen Dingen wie Armut und Ausbeutung entgegen, lanciert von Leuten, denen es zu gut geht und die keine Ahnung mehr haben von den Nöten der einfachen Leute. Schon in den 1990er Jahren hätten Zeitschriften wie „Texte zur Kunst“ „häufig verschraubte linke Diskurse“ (118) gepflegt. Die waren schon damals vom Schriftsteller Rainald Goetz als überheblich kritisiert worden – wie Wagner zustimmend herausstreicht.
Eine angeblich unverständliche Sprache wird damit letztlich zum Symbol für die Kluft zwischen dem Establishment und den einfachen Leuten, die von Wagner wie von seinen rechten GesprächspartnerInnen gleichermaßen moniert wird. Angeblich waren es die „intellektuellen Eliten“ (Wagner) (295), die solch eine „höfische Sprache“ eingeführt haben, wie Wagner den Dramaturgen Bernd Stegemann (wieder zustimmend) zitiert. Es müsse aber darum gehen, dass die Linke sich auf die Klassenfrage besinnt und sich bemüht, „auch von Nichtakademikern verstanden werden“ (297) zu können.
Sprachnormen: Elitenbefehl oder emanzipatorische Minderheitenpolitik?
Dass die Thematisierung der Klassenfrage und geschlechtergerechte Schreibweisen sich gar nicht ausschließen müssen, darauf kommt Wagner nicht. Denn er sieht letztere nicht als Effekt von Minderheitenpolitiken, die darauf zielen Ausschlüsse zu verhindern, sich einzuklagen und sich sichtbar zu machen. Sogenannte Sprachkorrekturen werden nicht als Teil linker Inklusionspolitik begriffen. Sondern als Instruktion einer „kulturellen Elite“. Damit werden erstens all jene Strömungen der Linken diskreditiert, die die soziale Frage auch als Frage symbolischer Herrschaft begreifen.
Einer Herrschaft also, die auch in unhinterfragten Dar- und Vorstellungen zum Ausdruck kommt, in stereotypen Bildern und eben auch in Sprache. Und zweitens wird ein Bild von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen gezeichnet, das doch sehr fraglich ist – nicht nur, weil die rechte Journalistin Kositza es im Buch auf den Punkt bringt: „Critical Whiteness und Gendermainstreaming wird universitär getragen. Das ist heute Staatsdoktrin.“ (245) Der queere Feminismus erscheint hier nicht nur als hegemonial, was wohl keiner empirischen Überprüfung standhalten dürfte. Er ist für die Redakteurin der neurechten Zeitschrift „Sezession“ zugleich der Inbegriff des Abgehobenen und Elitären. Es gebe, so Kositza, „gar kein reales Leben, auf das diese Überlegungen gegründet sind“. (247)
Es bleibt unklar, wie weit Wagner hier argumentatorisch mitgeht, er lässt das alles so stehen. Der Ansicht aber, dass die mit dem Poststrukturalismus in den öffentlichen Raum eingezogene Political Correctness fruchtbare politisch Auseinandersetzungen erschwert, schließt er sich explizit an. Dass der Kampf der Neuen Rechten gegen die „kulturellen Eliten“ gerade da ansetzt, muss ihm nicht gesagt werden. Wagner zitiert in der Einleitung selbst die Anti-Establishment-Strategie der Neuen Rechten mit den programmatischen Worten des Berliner AfD-Politikers Georg Pazderski, der „wieder politisch inkorrekt sein“ will. (26)
Kulturelle Elite und Establishment
Apropos Elite und Establishment: Sicherlich sind die Effekte von „1968“ am ehesten im Bereich des Kulturellen zu suchen, im weiten wie im engen Sinne des Begriffs, das heißt in den Umgangs- und Beziehungsformen wie auch in den Meinungsspalten des Feuilleton und in den Künsten. Aber ob diese Effekte die Rede von einer „kulturellen Elite“ rechtfertigen, die vom „Denken von 68“ dominiert wird, ist doch eher zu bezweifeln. Darüber hinaus muss letztlich betont werden, dass eine solche „kulturelle Elite“, wenn es sie denn gäbe, recht wenig gemeinsam hat mit dem „Establishment“, gegen das die Revolten von 1968ff. sich richteten: eine konsolidierte bürgerliche Demokratie zwar, in der aber der Antikommunismus zur Staatsdoktrin geworden war und in der alte Nazis in den Schulen, dem Verwaltungsapparat und der Justiz frei walten durften; eine Zivilgesellschaft, die sich weigerte, über Auschwitz zu reden; ein Eherecht, durch das die Erwerbstätigkeit von Frauen vom Einverständnis der Ehemänner abhing; ein Wertekosmos, der die Prügelstrafe für Kinder ebenso rechtfertigte wie die militärische Intervention in Vietnam.
Wagners Buch kontrastiert all dies nicht mit dem Anti-Eliten-Diskurs der Neuen Rechten, sondern parallelisiert es eher. Und weil ihr Antifeminismus, ihre menschverachtende Haltung zur Migrationspolitik und ihr historischer Revisionismus kaum vorkommen, hat Wagner den Versuchen der Neuen Rechten, sich zur legitimen Stimme der einfachen Leute und ihrer diffusen Haltungen gegen „die da oben“ zu machen, letztlich nichts entgegenzusetzen.
Mit dem letzten Kapitel „Die uneingelösten Versprechen von 1968“ wird der Eindruck noch verstärkt, dass diese Versprechen nun nicht mehr von Neo-Hippies oder Grünen, Autonomen oder anderen Linken, sondern eben von der AfD und anderen Neurechten repräsentiert werden. Das ist nicht nur faktisch kaum zu halten. Sondern genau gegen diesen Eindruck gilt es, von links Stellung zu beziehen – und zu kämpfen.