Es ist kein Geheimnis gewesen, dass der Filmproduzent Harvey Weinstein brutal, sexistisch, gewalttätig und übergriffig war. Schon 2004 - also vor 13 Jahren - erschien ein Artikel über die Weinstein-Brüder in der Vanity Fair, in dem das alles ausführlich und im Detail geschildert wurde. Allerdings gab es damals keinen Skandal: Sind nicht geniale Männer irgendwie so, unberechenbar halt? Die Figur des skrupellosen, wütenden weißen Mannes, der seine Ideen ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse und Gefühle andere Menschen verfolgt und gerade deshalb Großes vollbringt, ist unserer kulturellen Vorstellung sehr vertraut.
Berichte von Frauen darüber, dass Weinstein sie belästigt, bedroht und gedemütigt hat, gibt es sogar schon seit 1990. Journalistinnen haben das immer wieder recherchiert und aufgeschrieben, aber die wichtigen Medien waren nicht bereit, die Story zu drucken. Warum ist ausgerechnet jetzt das Fass übergelaufen? Warum haben die Zeitungen die Geschichte nun endlich gebracht, anstatt sie wie sonst in die Schublade zu legen? Warum haben Schauspielerinnen wie Gwyneth Paltrow und Angelina Jolie jetzt öffentlich gemacht, dass auch sie von Weinstein belästigt wurden, anstatt wie bisher zu schweigen? Wo war der Punkt, an dem es kippte und der amerikanische Mainstream begann, sich von Weinstein abzuwenden, anstatt weiterhin alle Augen zuzudrücken?
Natürlich spielen hier viele Faktoren eine Rolle. Aber einer davon ist sicher, dass feministische Debatten sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr in den Mainstream vorgearbeitet haben. Von der Sängerin Beyoncé, die bei Auftritten ein großes „Feminist“ auf die Bühne projizieren ließ, über die Schauspielerin Emma Watson, die als öffentliche Protagonistin für UN-Frauenprojekte auftrat bis zu den Women’s Marches im Januar 2017 – den größten Demonstrationen, die es jemals in Amerika gegeben hat, größer als die gegen den Vietnamkrieg – , als sich der weltweite Protest gegen Rechtspopulismus unter dem Banner der Frauenbewegung auf den Straßen versammelte (vgl. GWR 416). Ohne Feminismus, so wird immer klarer, gibt es keine linke oder auch nur liberale Politik mehr.
In Zeiten, in denen sich Nazis und rechte Nationalisten unter dem Banner des Antifeminismus und des Hasses auf freie Frauen versammeln, ist Linkssein mit sexistischen Macho-Vorzeichen nicht mehr denkbar. Die Weinsteins waren bekanntlich Unterstützer und großzügige Spender für Hillary Clinton, die ja speziell auf dem „Frauenticket“ gegen Trump angetreten war. Soeben erst erschien ihr Buch „What happened“, in dem es unter anderem auch darum geht, wie und warum sie „als Frau“ gegen Trump gescheitert ist. Klar, dass sich Clinton umgehend von Weinstein distanzierte. Ähnlich wie ihr ging es vielen: Ob sie wollten oder nicht, sie mussten Weinstein jetzt verurteilen. Das ist natürlich einerseits eine gute Nachricht, zeigt es doch, dass Feminismus etwas bewirkt hat. Andererseits ist dieser Mechanismus natürlich auch unbefriedigend: Die Mehrzahl der Distanzierungen von Weinstein hatten eben etwas Scheinheiliges. Nicht nur angesichts der Tatsache, dass sein Verhalten Frauen gegenüber ja kein Geheimnis und seit Jahren bekannt war. Sondern auch, weil nicht in allen Fällen klar war, wer sich aus wirklicher Überzeugung distanzierte, und wer nur, weil der Zeitgeist nichts anderes mehr zuließ.
Umso wichtiger war es, dass unter dem Hashtag #metoo („ich auch“) zehntausende Frauen, und nicht nur in den USA, umgehend angefangen haben, das Thema der sexualisierten Gewalt weiter zu besprechen. Der aktuelle Vorschlag kam von der Schauspielerin Alyssa Milano am 15. Oktober, und innerhalb weniger Tage ging das um die Welt. So wurde verhindert, dass der „Fall Weinstein“ als Einzelfall behandelt wurde, und eine Debatte über fehlgeleitete Männlichkeitsbilder und strukturelle Verhältnisse geführt.
Allerdings:
Für Feministinnen hat das Ganze natürlich etwas vom ewig grüßenden Murmeltier. Exakt derselbe Hashtag war ja bereits vor zehn Jahren von der Schwarzen Bloggerin Tarana Burke verwendet worden. In Deutschland haben wir das Thema vor vier Jahren unter dem Hashtag #aufschrei bereits ausgiebig verhandelt (vgl. GWR 377). Dass es immer noch Leute gibt, die überrascht sind, wie viele Frauen sexualisierte Gewalt und Belästigungen erlebt haben, ist nicht nur zum Haareraufen, sondern langsam auch ein bisschen albern.
Viele Feministinnen in meiner Timeline haben bei #meetoo deshalb gar nicht erst mitgemacht – ich selbst eingeschlossen. Eine schrieb: „Ich habe nur wenig Lust, maximal unerfreuliche Situationen aus meinem Leben bestenfalls als Sensationseffekt primär für jene Leute hinzustellen, die davon ohnehin keinen Erkenntnisgewinn mitnehmen (wollen), sondern weiterhin in bedauerlichen Einzelfällen denken werden und Übergriffe nicht mal dann erkennen wollen, wenn sie vor ihrer Nase passieren oder – schluck! – von ihnen selbst ausgehen. Und die meiner Erfahrung nach von Gewalterfahrungen wenn überhaupt dann eigentlich vor allem deswegen hören wollen, um zu bewerten ob das denn wirklich so schlimm‘ war, um letztlich bei #notallmen zu landen. Thanks but no thanks.“ Und eine andere: „Ich will nicht die schlechten Dinge, die mir passiert sind, aufschreiben, damit Männer mich bemitleiden.“
Die Genervtheit vieler feministischer Aktivistinnen darüber, das ewig selbe jetzt schon wieder aufwärmen zu sollen, hat der Kampagne aber keinen Abbruch getan. Die Frauenbewegung ist inzwischen stark genug, um Ungleichzeitigkeit aushalten zu können, und es ist gut zu wissen, dass nicht immer alle überall mitmachen müssen. Eine dritte Freundin schrieb auf Facebook: „Bei der berechtigten Frage, was eine Hashtag-Kampagne wieder bringen soll, und ob sie Frauen nicht wieder nur als Opfer darstellt, habe ich an mich selbst von vor 20 Jahren und länger gedacht. Es hätte damals verdammt geholfen. Als ich anfing, mich zu schämen, für die ganzen unerwünschten Blicke, Kommentare und ja, auch häufige Berührungen durch Männer, auch viel ältere, auch welche, die meiner Familie nahe standen. Damals, als ich anfing, darüber zu schweigen, meinen Körper und mein Weiblichsein zu hassen und zu bestrafen, während mir gesagt wurde: Zeig doch was du hast, anstatt es zu verstecken, Männer stehen doch drauf!, hätte es verdammt gut geholfen zu wissen, dass ich mit all dem Hass und der Scham, weil ich ja schuld war, wer sonst, nicht allein war.“
Alles in Butter also? Oder auch nicht: Zwei Tage nach dem Start von #metoo war ich im Kino und sah „Blade Runner 2049“. Eine Dystopie mit allem, was Hollywood aus feministischer Sicht so eklig macht. Ein männlicher Held, drum herum eine Riege von Frauen, deren Zweck hauptsächlich ist, ihn zu spiegeln. Zu erklären, was er macht und warum, ihm Gelegenheit zu geben, seine Zweifel, Ängste und Wünsche auszudrücken. Fast als wolle er eine Illustration zu Luce Irigarays berühmtem feministischen Klassiker „Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts“ sein. Das Buch erschien 1974.
Da ist es fast schon nur ein weiteres ärgerliches Detail, dass die Dystopie der düsteren Zukunft in diesem Film voller busiger, nackter, sexualisierter und objektivierter Frauen ist. Es brachte mich dazu, noch einmal unter einem anderen Aspekt auf #metoo zu schauen: Dass so viele große Medien das Thema jetzt aufgriffen, hatte leider eben auch damit zu tun, dass sexualisierte Gewalt sich gut verkauft, auch wenn man sich von ihr distanziert. Die Kritik an Sexismus kann eben auch ein Vorwand sein, um sie doch wieder zu zeigen. So funktioniert die News-Maschinerie, so funktioniert auch Hollywood. Bilder wirken aber nicht als Negation. Was man bei solchen Filmen und auch bei Berichterstattungen über sexualisierte Gewalt sieht, die kulturellen Bilder, die davon produziert werden, sind Bilder von Frauen, die zum Objekt männlicher Dominanz gemacht werden – ob das nun kritisch gemeint ist oder nicht, ändert nichts daran. Das heißt nicht, dass man über das Problem nicht reden soll. Es heißt nur, dass die Sache kompliziert ist und keine einfachen Lösungen hat.
Und die Moral von der Geschichte?
Ich denke, dass die Aufgabe für feministischen Aktivismus nun sein könnte, deutlich zu machen, dass die Empörung über sexualisierte Gewalt nur die Spitze des Eisberges ist, und dass alle, die von sich behaupten deshalb empört zu sein, noch große Aufgaben vor sich haben. Und zwar nicht nur, weil es sich dabei um ein Massenphänomen, um eine kulturelle Epidemie handelt und nicht um Einzelfälle. Nicht nur, weil wir verstehen müssen, dass Frauenfeindlichkeit nicht nur ein Problem von „Rechten“ oder „Anderen“ ist, sondern im Herzen der so genannten „westlichen Welt“ fest verankert, und auch im Herzen des fortschrittlichen, linken Projekts – wofür Harvey Weinstein steht.
Sondern weil wir verstehen und dann vermitteln müssen, dass wir sexualisierte Gewalt nur dann abschaffen können, wenn wir auch noch ganz viele andere Fragen stellen. Sexismus, die Abwertung von Weiblichkeit, die sich zur Normsetzung des Männlichen entwickelt hat, aus der Verachtung und Gewalt erst folgen können, ist nicht ein isolierter Aspekt unserer Kultur. Er ist ihr Zentrum. Deshalb können wir ihn nicht mit dieser oder jener Maßnahme bekämpfen. Wir müssen alles umkrempeln. Wir brauchen nicht einfach nur Kritik und Buße. Wir brauchen eine Revolution.