wir sind nicht alleine

Soziale Bewegungen in Thessaloníki

Ein Reisebericht

| Peter Oehler

Wenn man in der Mittagszeit durch die sommerliche City von Thessaloníki flaniert, dann stellt man nicht nur fest, dass es heiß ist, sondern auch, dass die Cafés und Bars voll sind, insbesondere um die Platía Aristotélous. Von Krise keine Spur?

Wobei ja Leute ohne Job sowieso Zeit haben, deswegen können sie auch mittags im Café sitzen; und ein einziger Kaffee ist auch nicht teuer. Wobei das ja ein oberflächlicher Blick ist, und sich Armut meist nie so direkt zeigt. Aber wenn man sich die verschiedenen sozialen Einrichtungen hier vor Ort genauer anschaut, so wie ich das bei meinem mehrwöchigen Aufenthalt in Thessaloníki diesen Sommer gemacht habe, wie sie sich auf unterschiedlichen Gebieten für ihre armen Mitmenschen einsetzen, dann kann man ein Gefühl für das Ausmaß der existenziellen Krise in Griechenland bekommen.

Βesetzte Häuser

Yfanet liegt in Kato Toumba, einem südöstlichen Stadtteil von Thessaloníki. Diese recht heruntergekommene alte, große Fabrik stammt vom Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde in den 1960er Jahren aufgegeben und 2004 besetzt. Seitdem wird sie als soziales Zentrum benutzt. Die Fabrik und das Gelände gehören dem Kultusministerium, das hier eigentlich ein Museum bauen will. Aber dank der Krise fehlt das Geld hierfür. An einem Dienstagabend besuche ich Yfanet. Ein Typ erzählt mir einiges und führt mich durch die düsteren Fabrikhallen. Es gibt ein von überwiegend jungen Leuten betriebenes Projekt, den „Bike Park“, der in einer der größeren Hallen untergebracht ist: Ein aus Halfpipes und anderen Elementen zusammengesetzter Fahrrad-Parkour, der nachts in den schwach beleuchteten Räumen recht gespenstisch wirkt. Andere Hallen werden für Veranstaltungen benutzt, zum Beispiel wurde hier diesen Sommer das Theaterstück Endspiel von Samuel Beckett aufgeführt. Es finden regelmäßig öffentlich zugängliche Versammlungen in der gemütlich eingerichteten Bibliothek statt. Ich nehme an diesem Abend an einer teil, wobei ich nur wenig verstehe von der Diskussion der 15 Anwesenden. Freitag abends ist immer die Bar geöffnet und es finden Konzerte statt.

Die Leute von Yfanet waren auch an der Durchführung des „No Border Camps“ beteiligt, das im Juli 2016 auf dem Campus der Aristoteles Universität Thessaloníki stattgefunden hat. Mittlerweile gibt es aber kaum noch Aktivitäten bezüglich Flüchtlingen.

Von Vio.Me, dieser von den ArbeiterInnen besetzten chemischen Fabrik, hatte ich schon in der GWR und anderswo gelesen. Ich habe sie also besucht. Im Vio.Me-Büro unterhalte ich mich mit Spiros, der mir auch das Firmengelände zeigt. Nachdem in 2011 kein Lohn mehr an die ArbeiterInnen gezahlt worden ist, haben sie sich zur Besetzung und Weiterführung der Fabrik entschieden. Die ursprüngliche Besitzerin, die Firma Filkeram Johnson AG, ist längst pleite, so dass eigentlich der griechische Staat hauptsächlich die Forderungen an Vio.Me hält. Die lediglich 25 ArbeiterInnen, die Vio.Me betreiben, und die hierfür gerade mal 400 Euro im Monat erhalten (was ungefähr der Höhe des Arbeitslosengelds entspricht), hoffen, dass man diese Fabrik quasi als öffentliches Eigentum unangetastet lässt, also der Liquidator nicht zum Abtransportieren des Mobiliars kommt. Ein wichtiges Standbein sieht man darin, dass Vio.Me sehr gut in soziale Netze, auch gewerkschaftliche, eingebunden ist. Mittlerweile werden alle chemischen Maschinen für die Produktion eingesetzt. Sie sind alt, aber die Vio.Me-Produkte machen auf mich einen guten Eindruck. Die Produkte werden u.a. über Kooperativen sowie auf Festivals direkt angeboten. Man kann sie auch in Deutschland beziehen, um seine Solidarität zu zeigen. (1)

Graswurzelbewegungen und Kooperativen

Seit ein paar Jahren kenne ich Filippos Polatsidis, der zusammen mit anderen eine Gruppe namens Per’volarides leitet, die „Gärtner von Thessaloníki“. Bei einer Vortragsreise habe ich ihn hier in Frankfurt am Main persönlich kennengelernt. So lag es nahe, ihn in Thessaloníki zu besuchen. Früher war Filippos selber arbeitslos gewesen, deswegen kann man Per’volarides auch als eine Art von Selbsthilfegruppe betrachten. Per’volarides haben in Kato Toumba einen Raum gemietet. Die Aktivitäten der Gruppe umfassen die Versorgung von 20 bis 25 bedürftigen Familien mit Lebensmitteln, die Bienenzucht, das gelegentliche Abholen von frischem Fisch direkt bei den Fischern, das Abernten von nicht mehr bewirtschafteten Olivenbäumen, generell das Einsammeln von Lebensmittel(spenden) auf Märkten etc. Ferner wird in dem Raum von Per’volarides Tomatensauce, Karottenmarmelade etc. hergestellt, zusammen mit Flüchtlingen aus dem Iran und Afghanistan, worauf Filippos besonders stolz ist. An dem Abend, wo ich zu Besuch bin, helfe ich dabei, den Honig aus seinen Wachswaben mittels einer Zentrifuge zu extrahieren. Diese Gruppe wird finanziell durch Solidarity4all unterstützt, aber es wird auch versucht, mittels Crowd Funding Geld für den weiteren Ausbau der vielfältigen Aktivitäten zu bekommen. (2)

Mikropolis

Zentral gelegen gibt es das Mikropolis, ein alternatives Zentrum in Thessaloníki. Nach eigenen Angaben „ein sozialer Ort für Freiheit“, herrschaftsfrei, basierend auf direkter Demokratie, Solidarität und Freiheit. Im ersten Stock gibt es die Küche Antipina (deutsch: „Gegenhunger“), einen großen, urigen Café(raum), in dem auch Konzerte stattfinden; das Lebensmittelgeschäft Sintrofia mit Lebensmitteln von Kooperativen oder Kleinproduzenten, nach Möglichkeit sozial, fair und ökologisch angebaut bzw. hergestellt; einen Spielbereich für Kinder Microtopos und das „Mikropolis Refugees Solidarity project“. Im zweiten Stock befindet sich die Buchhandlung nebst Bücherei „La otra biblioteca“ sowie der Kopierladen Microcopies. Auf dem Dach des alten Gebäudes befindet sich die große Terrasse. Hier lässt es sich in warmen Sommernächten bei einem kalten Bier gut relaxen.

Bei meinen Einkäufen und Streifzügen durch die Stadt bin ich auf zwei weitere Kooperativen gestoßen. Das Eklektík in der Venizelou Straße ist ein genossenschaftliches Lebensmittelgeschäft nebst einem Café, das nur Lebensmittel aus Kooperativen anbietet. Mitten in den engen Gassen der Altstadt findet sich die Taverne Rediviva. Gegenüber dem Restaurant sitzt man dabei wunderschön auf einer kleinen Terrasse. Der Mann, der mich bedient, erzählt mir etwas über die Entstehungsgeschichte: Fünf Arbeitslose haben sich vor fünf Jahren entschieden, ein „Food Collective“ aufzumachen. Dazu gehört zum einen dieses Restaurant, was sie im Untertitel „Cucina Povera“ nennen, also italienisch „Armenküche“, eine „alternative restaurant cooperative“. Sie stellen aber auch selbst diverse Lebensmittel her, für ihren Restaurantbetrieb und zum Verkauf.

Flüchtlingshilfe

Die Geflüchteten sind im Stadtbild von Thessaloníki präsent. Die Zahl der in Nordgriechenland lebenden Flüchtlinge wird auf 7.000 und 25.000 geschätzt. Ihre Lage ist hier entspannter als in Athen oder auf den griechischen Inseln nahe der Türkei. Nachdem das Flüchtlingscamp in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze (ca. 80 Kilometer von Thessaloníki entfernt) vor zwei Jahren aufgelöst worden ist, befinden sich dort auch keine Flüchtlinge mehr. Wozu auch, ist das wegen der geschlossenen Grenze ja eine Sackgasse für Geflüchtete. Um Thessaloníki herum soll es noch einige Flüchtlingscamps geben. Sie werden meist vom Staat betrieben, der für die Betreuung NGOs beauftragt und bezahlt. Allerdings sind einige davon – Softex am Stadtrand von Thessaloníki, von Intervolve betrieben; Refugee Support in Alexandreia, ca. 50 Kilometer westlich von Thessaloníki – diesen Sommer geschlossen worden. Konkret habe ich nur von dem Diavata Refugee Camp nördlich von Thessaloníki gehört, das vom ASB betreut wird. Es heißt, dass die übrigen Flüchtlinge in Apartments untergebracht seien. Im Hafen von Thessaloníki soll es auch ein Flüchtlingscamp geben. Ich habe nicht versucht, in ein Flüchtlingscamp zu gelangen, da man dort als Außenstehender nur auf Einladung einer betreuenden NGO Einlass bekommt.

Ich habe vielmehr in der Stadt geschaut, welche Institutionen sich mit Flüchtlingen beschäftigen. In einem Bürohaus, das in einer Passage an der Ptolemaion Straße liegt, sind mehrere NGOs ansässig, die sich mit Geflüchteten beschäftigen: Oikópolis, Antigoni, Solidarity Now und Naomi. Naomi wird zum Beispiel von der deutschen Diakonie unterstützt und von einer deutschen Pfarrerin geleitet. In der ökumenischen Werkstatt für Flüchtlinge lernen 50 Frauen das Nähen und Schneidern, und es sind noch einmal 50 Frauen, die hier Deutsch lernen. Bei Oikópolis hat man mich gleich an Alkyóne verwiesen, einem Tageszentrum für Flüchtlinge. Es wird mit Hilfe von Oikópolis organisiert und von der Diakonie Katastrophenhilfe finanziell unterstützt. Es ist ökologisch ausgerichtet und bietet hundert Leuten täglich Frühstück und Mittagessen an. In einem der Stockwerke ist das „Warehouse Clothing“ untergebracht, also eine Kleiderkammer, die den Flüchtlingen aber auch Waschmaschinen zur Benutzung anbietet. Sie wird von Adreana, einer jungen Griechin geführt. Hier arbeite ich mehrere Wochen halbtags als Volunteer mit, zusammen mit meist jungen Flüchtlingen aus Syrien und dem Iran. Das Alkyóne ist ein Treffpunkt, an dem sich Ost und West begegnen. Die Flüchtlinge können in einem „Verkaufsraum“ shoppen. In einem hinteren Warenlager werden neu angekommene, gespendete Kleidung und Schuhe gesichtet, sortiert und gegebenenfalls gewaschen oder auch repariert, und dann später im Shop angeboten.

Festivals

Während meiner Zeit in Thessaloníki war ich auf zwei Festivals, das eine eher anarchistisch ausgerichtet, das andere links-ökologisch.

Vom 6. bis zum 8. September fand das Direct Democracy-Festival statt, auf dem Campus der Aristotéles Universität Thessaloníki. Es gab Vorträge und Podiumsdiskussionen über Allmende, die westliche Krise und den Nationalismus, sowie Kommunalismus und Gemeinschaften. Ich habe sie mir aber nicht angehört, da mein Griechisch hierfür noch zu schlecht ist. Aber die Dokumentarfilme waren für mich interessant, da sie mit englischen Untertiteln gezeigt worden sind: „Songs of the [greek] Underground“ von Bill Mousoulis; „Dreaming of life“ von Morteza Jafari, der die Flüchtlingssituation Ende 2015 auf Lesbos und im Lager Idomeni eindrücklich dokumentiert; „Golden Dawn: A Personal Affair“ von Angélique Kourounis, in dem die Parteimitglieder und Anhänger sich überraschend offen äußern. In einer langen Reihe haben sich jeden der drei Abende zwölf Stände platziert, darunter Yfanet und Vio.Me. Es gab einen Stand von Mikropolis mit Lebensmitteln von Sintrofia, bedruckten Stoffen aus der Flüchtlingsarbeit sowie Büchern aus der Buchhandlung. Ein Stand gegen den Goldabbau in Skouries mit entsprechenden T-Shirts im Angebot. Außerdem Büchertische mit linken und anarchistischen Büchern. Wer halbwegs Griechisch kann, weiß, wer sich hinter den Autoren verbirgt: Πέτρος Κροπότκιν (Pjotr Alexejewitsch Kropotkin), Βίλχελμ Ράιχ (Wilhelm Reich), Έμμα Γκόλντμαν (Emma Goldman), Ντανιέλ Γκερέν (Daniel Guérin), Ερρίκο Μαλατέστα (Errico Malatesta), Νόαμ Τσόμσκι (Noam Chomsky) und Μιχαήλ Μπακούνιν (Michail Alexandrowitsch Bakunin). Zusätzlich gab es eine Fotoausstellung mit dem Titel „Loneliness“ der Fotografie-Gruppe jpeg micropolis mit Bildern über Flüchtlinge. Jeweils ab 23 Uhr war Livemusik mit mehreren Bands angekündigt. Lautstarke Musik mitten in der Nacht ist hier auf dem weitläufigen Unigelände ohne störende Nachbarn kein Problem.

Vom 14. bis zum 17. September fand zum siebten Mal unter dem diesjährigen Motto „Peace is the Way“ das Greenwave Festival im Parko XANTh statt. Mehrere Organisationen waren mit der Durchführung betraut, unter anderem auch Oikópolis und Alkyóne. Deswegen bin ich auch gefragt worden, ob ich nicht beim Aufbau des Festivals mithelfen könnte. So habe ich zusammen mit rund 25 Leuten an dem Aufbau mitgearbeitet, was fast vier Tage gedauert hat. Dazu gehörte der Aufbau zahlloser Stände, der Bühne sowie die Bereitstellung von Tischen und Stühlen für „Producer“ und Gäste. Entlang des Mittelgangs waren diverse Organisationen in den Hauptständen zur Selbstdarstellung untergebracht, neben Oikópolis, Alkyóne auch Antigoni, Naomi, die Heinrich-Böll-Stiftung, Praksis etc. Es gab einen Bar-Bereich für Speisen und Getränke, wobei die vegane Küche diesmal ein Schwerpunktthema gewesen ist. In der Grünanlage entlang kleiner verschlungener Wege waren die sogenannten „Producer“ untergebracht, mehr als 100 (Klein-)Anbieter, die Seifen, Schmuck, Kunsthandwerk, gebrauchte Bücher und Schallplatten sowie zumeist ökologische Lebensmittel angeboten haben. Darunter auch Rediviva und Vio.Me. Zwischendrin verteilt gab es Podien für Vorträge und dann Livemusik diverser Bands auf der Bühne.

Die diversen Kooperativen, die es hier gibt, die vielen Klein-ProduzentInnen, die versuchen, abseits vom etablierten Markt Neues zu probieren, also unabhängig von Hierarchie und Herrschaft zu wirtschaften, möglichst fair und ökologisch, erinnern mich an die Entwicklung der ökologischen Betriebe und Naturkostläden in Deutschland-West in den 1970er bis in die 1990er Jahre hinein. Von dieser Aufbruchsstimmung ist bei uns ja trotz etablierter Biobranche leider nichts mehr zu spüren. Aber hier in Griechenland schon, vielleicht auch gerade weil viele dieser Aktivitäten durch die anhaltende Krise erst motiviert und entstanden sind.

Demonstrationen

Ich bin während meines Aufenthalts in Thessaloníki bei zwei Demos mitmarschiert. Treffpunkt war immer der an der Egnatía Straße zentral gelegene Galerius-Bogen. Die erste Demonstration war anlässlich der Thessaloniki Trade Fair und deren Eröffnung durch Alexis Tsipras am 9. September. Es ist üblich, dass der Ministerpräsident bei seiner Eröffnungsrede seine zukünftige Politik vorstellt. Die als Antwort darauf traditionell jährlich stattfindende Demo ist mit einigen Tausend Menschen eine der größten in Thessaloníki. Diverse Gruppierungen machen mit, zum Beispiel laufen Leute von Yfanet, Vio.Me, den Organisatoren vom Direct Democracy-Festival mit, sowie Gruppen gegen den Goldabbau in der Chalkidikí mit Transparenten wie „Save Skouries“ und „SOS Halkidiki“. Der Marsch durch die Innenstadt kommt auch am Eingang des Messegeländes vorbei. Hier kommt es kurzzeitig zu einem Gerangel zwischen DemonstrantInnen und Polizei, mit Tränengas. Ansonsten verläuft die Demo friedlich.

Über den Goldabbau durch die kanadische Firma Eldorado Gold in Skouries in der Chalkidikí findet man in den deutschen Medien nur noch wenig. Bei meinem Besuch der Mönchsrepublik Áthos bin ich mit dem Bus hier vorbeigekommen. In den umliegenden Städten habe ich immer wieder Transparente gegen den Goldabbau gesehen. Diese Umweltsauerei bewegt ebenso viele Menschen im hundert Kilometer entfernten Thessaloníki. Im Archäologischen Museum Thessaloníki kann man im „Goldsaal“ auch nachlesen, dass der Goldabbau in der Chalkidikí eine lange Tradition hat. Problematisch sind vor allem die heutzutage hier geplanten Abbaumethoden. Ich habe mich mit Frosso, einer Aktivistin, die in der Sozialen Klinik der Solidarität (KIA) mitarbeitet, die sich aber auch gegen den Goldabbau engagiert, getroffen. Sie erzählt mir, dass geplant ist, Gestein zu sprengen, um aus dem herumwirbelnden Staub Gold zu gewinnen. Problematisch ist der hohe Anteil an Asbest, der dadurch in der Luft überall hin verbreitet wird. Auch sollen in einem riesigen Becken die Rückstände gelagert werden. Da die Membran aber nicht dicht ist, gelangt giftiger Abfall ins Meer, wird dadurch über kurz oder lang den Fischfang zerstören. Am 19. September bin ich bei einer Demo gegen Eldorado Gold mitmarschiert, bei der etwa 500 Leute dabei sind. Ich laufe bei der 25-köpfigen Gruppe der KIA mit. Durch die Kriminalisierung der GoldabbaugegnerInnen durch den griechischen Staat stehen mehrere Gerichtsverhandlungen an, so dass es in den folgenden Tagen zu weiteren Demonstrationen gekommen ist.

Engagierte Popen

Bei meinem Aufenthalt in Thessaloníki habe ich die Bekanntschaft mit zwei sozial engagierten Popen gemacht. Ich hatte von beiden schon vorab über Bekannte in Frankfurt gehört.

Es gibt diese Geschichte, dass „Father“ Athenagoras, als er zum Priester geweiht wurde, zu seinem Erzbischof sagte, dass er nach Afrika gehen wolle, um den Armen dort zu helfen. Der Erzbischof sagte ihm darauf, er solle hier bleiben, denn sie hätten in Thessaloníki ihren eigenen Typ von Afrika. So ist Vater Athenagoras Pope in Deudropotamos geworden, einem ärmlichen Stadtteil im Westen. Es wird überwiegend von Roma und Sinti bewohnt. Es heißt, die Gegend sei gefährlich wegen drogenabhängigen und alkoholisierten „Zigeunern“, die unberechenbar gewalttätig sein können. Die orthodoxe Kirche Agios Nektarios ist das imposanteste Gebäude im Stadtteil. Vater Athenagoras predigt hier und hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich um die Leute in dieser Gegend zu kümmern.

Ich habe ihn an einem der Abende auf dem Greenwave-Festival getroffen, ein riesiger, freundlicher Mann in weißer Kutte. Er ist umgeben von seinen Schützlingen. Der Grund seiner Anwesenheit auf dem Festival: Am späteren Abend spielt eine Band, bestehend aus jüngeren Leuten, rockig und laut: „Ta Paidia tou Pharou“ („Die Kinder des Leuchtturms“). Das sind Bekannte aus seinem Stadtteil. Er lädt mich ein, ihn in Deudropotamos zu besuchen. An einem Morgen in der folgenden Woche bin ich in der Agios Nektarios. Der vielbeschäftigte Vater Athenagoras ist leider nicht da. Aber ich werde von einer Frau namens Heleni abgeholt, die gut Deutsch spricht. Wir fahren in einem Lieferwagen zu einem einstöckigen Haus am Stadtrand. Kurz hinter der Schule sehen wir zwei Polizisten auf Motorrädern, die zu einem vollbesetzten PKW gehen, um die Insassen zu kontrollieren. Unser Fahrer macht eine Geste, die sagt: Das ist typisch für Deudropotamos. Das kleine Haus, umgeben von einem Garten mit fünf freilaufenden Hunden, ist „Pharos tou Kosmou“, also etwas großspurig „Der Leuchtturm der Welt“. Hier leben die meisten der 15 betreuten Kinder, da deren Eltern entweder im Gefängnis sind oder sich nicht um ihre Kinder kümmern können. Der Jüngste ist fünfeinhalb, geht in den Kindergarten, und ist bereits im Haus. Die anderen kommen nach und nach in der Mittagszeit von der Schule zurück. Wir sitzen in der Küche und unterhalten uns. Einige Frauen arbeiten hier als Volunteers, das heißt, dass sie zum Beispiel mittags für die Kinder kochen. Auffällig ist, dass hier bei Pharos nur Jungs sind, keine Mädchen, da die Roma und Sinti sie mit 12-13 Jahren verheiraten. Vater Athenagoras kämpft bis jetzt erfolglos gegen diese Unsitte.

Papachristos ist ein Pope in schwarzer Kutte und mit Rauschebart. Er lebt in Trilofos, einem Ort außerhalb von Thessaloníki in Richtung Chalkidikí. Aufgrund der Krise kümmert er sich nicht nur um die religiösen Belange seiner „Schäfchen“, sondern auch um ihr Überleben. Deshalb hat er Probleme mit seinen Oberen, da er zu nah bei den Menschen ist. Er hat deshalb die Strukturen, um Bedürftigen zu helfen, auch unabhängig von der Kirche aufgebaut. Es gibt ein Gebäude am kleinen Hauptplatz, die „Koioniko Iatrio Trilofo“, also die Soziale Klinik Trilofos, sowie etwas oberhalb ein zweites. Sonntags wird für rund 200 Leute gekocht. Das Essen wird mittags mit privaten PKWs ausgefahren, da manche Leute zu alt bzw. krank sind, aber auch, damit sie sich nicht zeigen und damit schämen müssten. Papachristos hat hier die Verbindungen aufgebaut, so dass er problemlos Lebensmittel als Spenden vom örtlichen Supermarkt bekommt. Er hat auch Kontakt zu Fischern, die ihn anrufen, wenn sie zu viel Fisch gefangen haben, und den er abholen lassen kann. Oder zu Bauern, bei denen er die Äpfel abernten lassen kann.

An meinem letzten Abend in Griechenland fahren wir zu dritt nach Trilofos. Meine beiden Bekannten, von denen ich überhaupt erst von Papachristos erfahren habe, sind kurzentschlossen heruntergeflogen. Wir werden überschwänglich von Papachristos begrüßt. Mit dabei bei unserem Treffen ist unter anderem Nikolina, eine engagierte junge Griechin, die nicht nur beim sonntäglichen Kochen und Ausfahren mithilft, sondern auch die Kinder von „Pharos tou Kosmou“ in griechischer Literatur unterrichtet. In unserer Runde diskutieren wir hauptsächlich die Frage, wieso doch nur so Wenige bei diesen freiwilligen Aktivitäten – wie Äpfel Ernten – mitmachen. Denn es gibt hier viele Arbeitslose, die eigentlich genügend freie Zeit hätten. Mangelnde Solidarität ist ein generelles Problem bei vielen sozialen Einrichtungen und Selbsthilfegruppen, das habe ich auch bei der KIA und bei Per’volarides zu hören bekommen.

Fazit

Ich habe auf meiner fünfwöchigen Reise viel an solidarischen und sozialen Initiativen, an selbstorganisierten Strukturen abseits kapitalistischer Firmen gesehen, was mir zeigt, dass sich viele Griechen trotz Krise nicht unterkriegen lassen. In Thessaloníki habe ich eine Lebendigkeit gespürt, eine Lebensfreude, die vielen Griechen noch lange nicht vergangen ist, von der ich aber meine, dass es daran in Deutschland eindeutig mangelt: Eigentlich ist Deutschland das Mangelland.

Peter Oehler,

November 2017

(1) Zum Beispiel über den Online-Shop des Kollektivs roots of compassion: www.rootsofcompassion.org.

(2) Siehe chuffed.org/project/solidarity-economy-in-thessaloniki-an-alternative-way