spurensicherung

Das Hoffnungsvolle und Verschüttete retten

Ein Interview mit Bini Adamczak zu den Revolutionen von 1917 und 1968 und dem Begriff der Beziehungsweisen

| Interview: Jens Kastner

Bini Adamzcak (*1979) lebt in Berlin und arbeitet als Autorin und Künstlerin zu politischer Theorie, queerfeministischer Politik und der vergangenen Zukunft von Revolutionen. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution: In Deinen vorherigen Büchern zu Geschichte und Zukunft des Kommunismus kommt der Anarchismus kaum vor. Jetzt hat es ein Anarchist, Alexander Berkman, sogar auf den Titel Deines neues Buches geschafft. (1) Hat hier der Wechsel einer Perspektive oder einer Haltung stattgefunden, oder ist das nur Zufall?

Bini Adamczak: Vor einigen Jahren hat Philippe Kellermann ein leider viel zu wenig beachtetes Buch herausgebracht mit dem sprechenden Titel „Anarchismus, Marxismus, Emanzipation“. (2) In ausführlichen Gesprächen befragt er darin Marxistinnen oder Kommunistinnen zu ihrem Verhältnis zu anarchistischer Geschichte, Bewegung und Theorie. Die Unterhaltung mit mir eröffnete Kellermann mit einer fast gleich lautenden Frage. Ich will die umfassende und (selbst)kritische Diskussion, die in dem Bändchen unter der Überschrift „Dekonstruktion von Anarchismus und Kommunismus“ veröffentlicht ist, hier nicht wiederholen, nur so viel: „Gestern Morgen. Die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft“ (3) endet mit einer autobiographischen Notiz aus den 1990er Jahren, die um das umkringelte A kreist. Von daher ist es vielleicht nicht ganz so verwunderlich, dass „Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution“ mit den Erfahrungen von zwei Anarchist*innen – Berkman und Goldman – beginnt. Der Zusammenhang ist aber systematischer. Im letzten Kapitel von „Gestern Morgen“ habe ich versucht, anhand der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands von 1921 und des Putsches gegen die sozialistische Regierung in Chile 1973 ein Dilemma der Revolution zu skizzieren: Diejenigen Revolutionärinnen, die einer revolutionären Ethik folgen, an die Solidarität oder Vernunft ihrer Gegnerinnen appellieren, militärische Vorteile zugunsten einer offenen Auseinandersetzung ungenutzt lassen oder allgemein einen Bürgerkrieg als zu hohen Preis für die Emanzipation ansehen, werden von ihren autoritären Widersachern, die nicht auf solche Skrupel Rücksicht zu nehmen brauchen, niedergeschlagen. Diejenigen Revolutionärinnen hingegen, die alles auf den Sieg setzen und meinen, selbst noch die grässlichsten Mittel würden durch den sozialistischen Zweck gerechtfertigt, können sich zwar gegen ihre Konkurrentinnen durchsetzen und gegen die bewaffnete Konterrevolution behaupten, sie verlieren aber das, wofür sie eigentlich gekämpft haben. Die einen sind uns – zu Recht – sympathischer als die anderen, zumal die Leninistinnen, die gerade die Konterrevolution besiegt haben, gegenüber den Kronstädterinnen selbst als Konterrevolutionäre auftreten. Aber keiner der beiden Wege führt zu dem ersehnten Ziel. Die einen unterliegen im Kampf, die anderen scheitern an ihren eigenen Maßstäben. Dieses revolutionäre Dilemma von Scheitern und Niederlage, ist der Ausgangspunkt von „Der schönste Tag im Leben …“. Das ganze Buch versucht die Frage zu beantworten, wie unter den konkreten historischen Bedingung des soeben gestürzten Russischen Reiches, zwischen 1917 und 1921, ein Ausweg aus dem Dilemma der Revolution hätte gefunden werden können.

GWR: Du hast gleich zwei Neuerscheinungen vorgelegt, beide handeln u.a. von der Oktoberrevolution, beide beginnen mit Gefühlslagen: In „Beziehungsweise Revolution“ schilderst Du die Traurigkeit von Revolutionären darüber, dass die Revolution vorbei ist. In „Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman“ ist es das Glück, das Berkman bei seiner Ankunft im postrevolutionären Russland empfindet, mit dem das Buch beginnt. Welche Rolle spielen Emotionen und Affekte für das (Nach-)Wirken von Revolutionen?

Bini Adamczak: Revolutionen werden von Wünschen und Träumen nach einem Ende von Leid und Unterdrückung, von Sehnsüchten und Hoffnungen auf ein gutes Leben motiviert und angetrieben. Zugleich setzen sie diese Begierden in zuvor ungesehenem Ausmaß frei und produzieren auch völlig neue. In Revolutionen explodiert die Phantasie, weil Möglichkeiten, die zuvor als irrsinnig erschienen, in sinnliche Nähe rücken. Die Erfahrung kollektiver Solidarität scheint über die Grenze des individuellen Lebens hinaus zu treiben. Die Aussicht auf Gerechtigkeit, auf righting wrongs, aber auch auf Ausgleich, auf Rache entwickelt eine ungeheure Kraft. So groß die Hoffnung, so groß aber auch häufig die folgende Enttäuschung. Manche Historikerinnen haben diesen Zusammenhang sogar zu einer Notwendigkeit verklärt. Wenn wir aber genauer hinsehen, können wir aus den affektiven Atmosphären, die vergangene Revolutionen durchquert haben, auch etwas über das mögliche Gelingen zukünftiger Revolutionen lernen. Die Traurigkeit von Revolutionärinnen nach der Revolution etwa, die ich postrevolutionäre Depression (PRD) nenne, gibt Aufschluss auf eine sehr paradoxe Konzeption des Verhältnisses von Revolution und Sozialismus, von Übergang und Utopie. Die Analyse der PRD bringt einen Revolutionsfetisch ans Licht, der die Revolution von einem Mittel zu einem Zweck verkehrt. Damit wird dieses Begehren nach Revolution aber zu einem Hindernis für das Gelingen der Revolution. Wenn wir eigentlich die Revolution selbst begehren, dann können wir nicht wünschen, dass sie erfolgreich ist, denn dann käme sie ja zu einem Ende.

GWR: Die öffentliche Thematisierung von Gefühlen, sowie auch die Einsicht, dass dies für emanzipatorische Veränderungen unumgänglich ist, wird ja vor allem mit den Revolten von 1968 verbunden. Das Erstaunliche an der Revolutionswelle von 1968 sei gewesen, schreibst Du, dass es sie überhaupt gegeben habe. „Wie konnte die Tradition eines freiheitlichen Sozialismus aktualisiert werden, nachdem die äußere Konterrevolution von Faschismus und Nazismus die sozialistischen Akteurinnen ermordet, ihre Institutionen zerschlagen, ihre Publikationen verbrannt hatte? Ohne personelle wie institutionelle Entnazifizierung? […] Sie kam zu einem großen Teil von außen.“ (4) Wo war dieses Außen und wie kam es nach Innen?

Bini Adamczak: Nazismus und Faschismus haben weltweit, vor allem aber in Europa sozialistische Traditionen gewaltsam abgebrochen. Zudem hat der Stalinismus den Kommunismus nicht nur diskreditiert, sondern auch antiautoritäre Alternativen zu ihm zerschlagen. Nicht nur auf dem Terrain der Sowjetunion, sondern auch international, etwa in Spanien. Unter diesen Bedingungen entsteht in den späten 1960er Jahren dennoch eine weltweite emanzipatorische Bewegung, die auch an die Russische Revolution, an verschüttete Traditionen anknüpft. Diese Bewegung konnte nur aus der Peripherie kommen, aus den trikontinentalen Kämpfen, aus den antikolonialen Befreiungskriegen. Die Demonstration am 2. Juni 1967 in Berlin, die zum Fanal für die westdeutsche Studierendenbewegung wurde, hatte weder einen bildungspolitischen noch einen vergangenheitspolitischen Anlass. Sie richtete sich gegen den Besuch des persischen Schahs. Es war eine Demonstration internationaler Solidarität.

GWR: Der Inter- oder gar Transnationalismus von 1968 ist ja durchaus umstritten. Du schreibst, dass der internationale Charakter der Revolte die „Bedingung der Möglichkeit von 1968“ (5) war. Ähnlich wie in Berlin gingen dem Pariser Mai die Proteste gegen die Kolonialherrschaft in Algerien voraus. Das ist, denke ich, sehr wichtig hervorzuheben. Vor allem deshalb, weil dieser Zusammenhang sonst so gerne ausgeblendet oder gar geleugnet wird. Der Historiker Gerd Koenen etwa schrieb 2001 von der „projektiven Identität mit den Kämpfern gegen den US-Imperialismus“ (6), die in erster Linie dazu gedient hätte, die deutschen Schuldgefühle wegen des Nationalsozialismus zu kanalisieren. Warum war es Dir ein Anliegen, hier noch einmal Stellung zu beziehen?

Bini Adamczak: Diese kritische Analyse hat einen wahren Kern. Rudi Dutschke etwa meinte, auch Deutschland müsse einen anti-imperialistischen Kampf gegen die Besatzungsmächte führen und die RAF verglich in manchen Bekennerschreiben die US-amerikanischen Angriffe auf Hanoi mit der Bombardierung auf Dresden und setzte im gleichen Atemzug Auschwitz mit beiden so grundverschiedenen Kriegshandlungen gleich. Das ist spätestens seit dem antinationalen oder antideutschen turn in der Linken in Deutschland immer wieder thematisiert worden. Im besten Fall allerdings nicht in Form einer denunziatorischen Kritik, die die gesamte Bewegung von 68 oder die Linke im Allgemeinen gleich mit erledigt, sondern in Form einer immanenten Kritik. Das heißt als linke Selbstkritik, die den internationalen oder anationalen Impuls von 68 gegen seine nationalistische Korrumpierung verteidigt. Die globale Revolte überstieg den nationalen Rahmen.

GWR: Götz Aly setze dann noch eins drauf auf die zweifelhafte Interpretation Koenens. Aly sah in 1968 ein neues 1933. Die Studierendenbewegung von 1968 habe aus der Erbmasse der „rechtsradikalen Studentenbewegung der Jahre 1926 bis 1933“ (7)geschöpft; die von den 68erInnen wieder aufgebrachte Idee einer Räte-Demokratie sei dem „ständischen Grundprinzip“ gefolgt, „das sich 1933 bis 1945 in der Reichsapothekenkammer, im NS-Kraftfahrerkorps“ (8) u.a. bahngebrochen habe. Dieser Totalverlust historischen Augenmaßes und diese Umschreibung der Geschichte kamen 2008 relativ gut an. Stattdessen machst Du den wesentlich einleuchtenderen Vorschlag, 1968 auf 1917 zu beziehen. Wie sehen diese Bezugnahmen aus?

Bini Adamczak: Nationalsozialismus und Faschismus sind paradoxe Projekte. Sie inszenieren sich als revolutionäre Bewegung, wollen aber die ökonomischen Beziehungen der Gesellschaft unangetastet lassen. Sie beschwören die authentische Rückkehr zu einer reinen und homogenen Vergangenheit, sind in Bezug auf Kultur und Technik aber tatsächlich völlig eklektizistisch. So wie Identitäre oder Autonome Nationalisten heute Praxen und Codes der Linken kopieren, so haben es schon ihre historischen Vorgänger gemacht: von der roten Fahne, über das Label Arbeiterpartei bis hin zu bestimmten Organisationsformen. Das macht auch Sinn, geht es doch insbesondere in Krisen darum, das revolutionäre Potential in der Gesellschaft nationalistisch so zu kanalisieren, dass es für die bürgerliche Herrschaft nicht gefährlich wird. Wer diesen Zusammenhang nicht kennt, dem kann es schon mal passieren, dass er beim Schauen einer Doku über die DDR ausruft: „Die sehen ja aus wie Nazis“.

Günther Jakob hat, als die geläuterten 68er in der Bundesregierung angekommen waren, gezeigt, wie sich die ideellen Werte der Nazi-Generation auf ähnlichen Wegen weiter vererbt haben wie das materielle Vermögen. Zu kritisieren, dass der beabsichtigte Bruch mit dem Nazismus unvollständig blieb oder dass viele der früheren Rebellen sich nahtlos ins Establishment einpassten, ist allerdings etwas ganz Anderes als die Gegensätze extremismustheoretisch zusammen fallen zu lassen, so dass nur noch der Status Quo übrig bleibt.

Die Bezugnahmen von 68 auf 17 hingegen sind unübersehbar. Das zeigt sich schon am Umfang der Publikationen: den Nach- und Raubdrucken wie an den ausführlichen westmarxistischen Diskussionen zur Sowjetunion. Die ganze Linke nach 68 ließ sich in Bezug zur Russischen Revolution ordnen. Mit der Frage „In welchem Jahr ist die Russische Revolution gescheitert?“ ließ sich ziemlich präzise bestimmen, welcher Fraktion jemand angehörte.

GWR: Die Beziehungen von 1968 zu 1917 waren ja gestörte, also widersprüchliche Bezugnahmen: Nicht nur der Stalinismus und die Leninsche Staatsfixiertheit hatten den Marxismus-Leninismus für viele diskreditiert. Auch innerhalb der marxistischen Theorie gab es Verschiebungen, etwa vom Fokus auf Ausbeutung hin zu einem auf Entfremdung. Welche Brüche zwischen 1917 und 1968 scheinen Dir die wesentlichen zu sein?

Bini Adamczak: Ich verstehe die beiden großen Revolutionswellen des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der ersten modernen Revolution, der französischen. Aus ihrer Parole „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ fokussierte 1917 auf Gleichheit, 1968 auf Freiheit. Die eine Revolution war mehr von Produktivitätsparadigma geprägt – es ging um Fortschritt, Disziplin, ein Ende der Armut -, die andere mehr vom Konsumtionsparadigma, sie setzte also eher auf Differenz, Lust, Selbstbestimmung.

GWR: Anders als viele andere Sozialtheorien fokussierst Du sehr stark auf Geschlechterverhältnisse. Die Revolten von 1968 hätten eine „differentielle Feminisierung“ (9) der gesamten Gesellschaft ausgelöst. Das Private wird politisch, die heterosexuelle Arbeitsteilung wird in Frage gestellt, Du sprichst auch von einer „hedonistischen Mentalität“ (10), die sich entwickelt. Was heißt „differentielle Feminisierung“?

Bini Adamczak: Die Orientierung an Gleichheit äußerte sich 1917 in der Utopie einer Welt ohne Geschlecht. Tatsächlich ging es aber darum, ein Geschlecht für alle zu realisieren: das Geschlecht männlicher Arbeiter.

Deswegen spreche ich für diese revolutionäre Sequenz von „universeller Maskulinisierung“. Diese „Gleichheit mit den Männern“ geriet ab 68 unter scharfe Kritik. Aber die Versuche, an ihre Stelle eine universelle Feminisierung zu setzen, blieben vereinzelt. Gemessen an der vorhergegangenen Epoche kommt es jetzt zwar zu einer Verweiblichung – das Private dringt stärker in die Öffentlichkeit ein, Arbeitsverhältnisse werden feminisiert – aber was wir heute sehen ist vielmehr eine Ausdifferenzierung von Geschlecht. Nicht kein Geschlecht, nicht ein Geschlecht, sondern viele.

GWR: Der Begriff der Beziehungsweisen, der im Titel neben der Revolution steht, bezieht sich gar nicht bloß auf die Bezugnahmen auf die frühere Revolution. Du beschreibst damit gesellschaftliche Verhältnisse überhaupt. Was meinst Du mit Beziehungsweisen?

Bini Adamczak: Von Marx stammt die Formulierung, eine Gesellschaft sei keine Summe von Individuen, sondern von Beziehungen. Viele Sozialtheorien gehen von diesem naheliegenden Gedanken aus. Aber ihn weiter zu verfolgen, auszufüllen, weiterzuentwickeln, ist gar nicht so einfach. Viele Linke sprechen von den „Verhältnissen“, gegen die wir kämpfen, aber oft könnten sie genauso gut „Zustände“ oder „Schweinesystem“ sagen.

Für die Kritik macht das vielleicht nur einen geringen Unterschied. Ich denke aber, dass es gerade im Hinblick auf die Veränderbarkeit dieser Welt sinnvoll ist, eben ihre Verhältnisse, ihre Beziehungen in den Blick zu nehmen um zu fragen: Wie beziehen wir uns aufeinander? Wie wollen wir uns aufeinander beziehen?

GWR: Der dritte Teil des Beziehungsweise-Buches ist der Theorie gewidmet. Du plädierst darin u.a. dafür, den Kapitalismus als Beziehung zu verstehen, „weder als geschlossenes System, noch als Antagonismus unverbundener Klassenblöcke, sondern als Gefüge von ineinandergreifenden Beziehungsweisen, lebendiger wie dinglicher.“ (11)

Worin besteht der Vorteil einer solchen Sichtweise?

Bini Adamczak: Ich beanspruche nicht, eine präzisere oder wahrere Theorie bzw. Kritik des Kapitalismus zu liefern. Aber vielleicht ein besseres theoretisches toolkit für seine Überwindung. Die Linke bleibt hier oft in der Negation stehen: Zerschlagung des Staates, Abschaffung der Grenzen, Aufhebung des Privateigentums!

Die Ware oder der Markt sind aber nicht einfach technische oder ökonomische Institutionen oder Systeme, sondern es sind spezifische Weisen, einander zu begegnen, miteinander zu leben, in eine materielle wie emotionale Beziehung zu treten.

Wir wissen, wie viel Leid diese Beziehungsweisen, zumal in Verbindung mit jenen der Familie oder des Staates bringen. Aber wir sollten vermehrt die Frage stellen, wie gelungene – solidarische – Beziehungen aussehen. Meine Hoffnung ist, dass diese Frage eher dabei hilft, Antworten für die Zukunft zu finden als die eingängige aber ziemlich unbestimmte Parole „Abschaffung des Kapitalismus!“

GWR: Der Anarchist Gustav Landauer, den Du ja auch zitierst, hatte 1912 den Staat als Verhältnis begriffen. Er werde nicht ein für alle Mal geschaffen, sondern „entsteht in jedem Augenblick, durch Dulden und Handeln“. (12)

Landauer leitete aus diesem Verständnis auch seine libertären Revolutionshoffnungen ab: Wenn der Staat aus Beziehungen besteht, müssen und können wir auch andere, neue Beziehungen schaffen. Siehst Du das auch so? Oder anders gefragt: Wie hängen Beziehungsanalyse und Revolutionstheorie zusammen?

Bini Adamczak: Die „Revolutionstheorie“ von 1917 fokussierte vor allem auf den Staat. Dieser sollte erobert werden, um dann mit seiner Hilfe alles zu ändern. Die „Revolutionstheorie“ von 1968 konzentrierte sich mehr auf das Subjekt: alles verändert sich, wenn du dich veränderst. Das führte gerade auch in der Niederlage von 68 zu einer besonderen Aufmerksamkeit für Pädagogik und Selbstfindung.

Historisch führten beide Orientierungen in Sackgassen. Die eine in die „Totalisierung“ des Stalinismus, die andere in die „Atomisierung“ des Neoliberalismus. Die Orientierung auf das Dazwischen, auf Beziehungsweisen, soll helfen, aus diesen Sackgassen herauszufinden. Es geht um Versammlung, Verknüpfung, um die convergence des luttes.

Es geht um das Knüpfen und Stärken nicht hierarchischer, egalitärer, solidarischer Beziehungsweisen, die die indifferenten und konkurenten oder familistischen ersetzen und so auch das Verhältnis von Privat und Öffentlich ganz anders justieren. Damit soll es zugleich möglich werden, aus beiden Revolutionswellen das Gelungene aber Verschwundene, das Hoffnungsvolle aber Verschüttete zu retten.

Interview: Jens Kastner

(1) Bini Adamczak: Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom womöglichen Gelingen der Russischen Revolution. edition assemblage, Münster 2017

(2) Philippe Kellermann: Anarchismus, Marxismus, Emanzipation: Gespräche über die Gegenwart der sozialistischen Bewegungen. Die Buchmacherei, Berlin 2012

(3) Bini Adamczak: gestern morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft. Unrast Verlag, Münster 2007

(4) Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp, Berlin 2017, S. 177

(5) Ebd., S. 183

(6) Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, S. 83.

(7) Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2008, S. 10

(8) Ebd., S. 47

(9) Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp, Berlin 2017, S. 175ff.

(10) Ebd., S. 205

(11) Ebd., S. 246

(12) Gustav Landauer: "Zum Thema: Sozialismus und Wissenschaft" [1912]. In: Ders.: Auch die Vergangenheit ist Zukunft. Essays zum Anarchismus. Herausgegeben von Siegbert Wolf. Sammlung Luchterhand, Frankfurt/M. 1989, S. 172-180, hier S. 178

Das Interview wurde im Dezember 2017 per E-Mail geführt.