Der Hispanist und Literaturwissenschaftler Dr. phil. Martin Baxmeyer (Jg. 1971) forscht an der Uni Münster zur anarchistischen Literatur des Spanischen Bürgerkriegs. Er ist Autor von "Das ewige Spanien der Anarchie" (edition tranvia) und mit Bernd Drücke und Luz Kerkeling Herausgeber von "Abel Paz und die Spanische Revolution" (Verlag Edition AV). Zur Leipziger Buchmesse im März 2018 erscheint im Verlag Graswurzelrevolution sein Buch über die anarchistische Ärztin "Amparo Poch y Gascón. Biografie und Erzählung aus der Spanischen Revolution". (1) GWR-Redakteur Bernd Drücke sprach mit ihm u.a. über die Geschichte der Spanischen Revolution, den Anarchosyndikalismus und die aktuellen Entwicklungen in Katalonien. Die Radio Graswurzelrevolution-Sendung wurde am 10. Januar 2018 im Studio des Medienforums Münster produziert. Erstmals öffentlich zu hören waren in der am 21. Januar im Bürgerfunk auf Antenne Münster ausgestrahlten Sendung auch neue, GEMA-freie "Lebenszeichen"-Aufnahmen des Liedermachers Baxi (2).
Voraussichtlich zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 2018 wird eine um weitere Fragen und Antworten ergänzte Fassung des Interviews in dem von Bernd Drücke im Unrast Verlag Münster herausgegebenen Buch "Anarchismus Hoch 4" veröffentlicht. (GWR-Red.)
Graswurzelrevolution: Warum gibt es die im Dezember 2017 in einer stark limitierten Auflage erschienene neue Baxi-CD „Lebenszeichen“ nicht im Handel?
Martin Baxmeyer: (lacht) Weil das Lieder sind, die ich eigentlich alle auf einer regulären, dritten Platte veröffentlichen will. Da will ich gerne mit anderen Musikern zusammen spielen. Also, ich will die Lieder für eine Bandversion ein bisschen bearbeiten, dass sie auch mal im Radio laufen können. Die „Lebenszeichen“-CD ist das Basisgerippe für die ruhigeren Songs.
Die habe ich 2017 zusammen gestellt, weil erstens ein Freund von mir, Martin Firgau vom deutsch-chilenischen Duo Contraviento, mir eine Liveaufnahme geschenkt hat, und zweitens, weil ich vor zwei Jahren einen schweren Unfall hatte, wo keinesfalls sicher war, ob ich jemals wieder öffentlich auf einer Bühne sitzen würde. Da war die CD eine Möglichkeit, musikalisch am Leben zu bleiben, für mich und andere. Deswegen heißt die CD auch „Lebenszeichen“.
GWR: Baxi, wann können wir damit rechnen, dass das „Scheiblein Drei“ erscheint?
Martin Baxmeyer: Das weiß ich noch nicht. Die „Lebenszeichen“-CD war ein schöner Schritt in die richtige Richtung. Die dreht jetzt auch so ihre Kreise. Ich habe sie eigentlich nur an Leute verschenkt, von denen ich wusste, dass sie verrückt genug sind, Spaß an meiner Musik zu haben. Dann wurden die Kreise immer weiter. In absehbarer Zeit würde ich gerne die dritte Scheibe machen.
GWR: Deine bisher letzte CD war „Mal den Teufel an die Wand“ (3). Sie erschien 2001 als Nachfolgerin Deiner 1998 ebenfalls vom DIY-Label Falling Down Records veröffentlichten Schallplatte „Der Einzelfall“. Platte und CD sind noch im Handel erhältlich.
Ich möchte mit Dir über die Entwicklungen in Spanien reden, zunächst aber auf Deine Publikationen eingehen. Du bist ja nicht nur Liedermacher und Kabarettist (4), sondern auch Autor. Wie bist Du auf das Thema Deiner Doktorarbeit „Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs 1936 bis 1939 und ihr Spanienbild“ gekommen? Wie bist Du zum (Thema) Anarchismus gekommen?
Martin Baxmeyer: Ui. Das ist ein Riesenbatzen. Das reicht weit, weit zurück. (lacht) Deswegen bleibe ich lieber mal beim Thema meiner Doktorarbeit. Das war ein klassischer Weg. Der hat angefangen mit einem Thesenpapier. Ich habe seinerzeit im Grundstudium ein Referat halten wollen zu der Darstellung Spaniens in verschiedenen literarischen Medien, von professionellen bis nicht so professionellen Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Ich bin damals zum ersten Mal über die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs gestolpert. Als ich das sah, war ich völlig überrascht, was zum Teil für wirklich scharfe nationalistische Töne in diesen Texten angeschlagen wurden. Denn die anarchistische Bewegung, nicht nur in Spanien, sondern generell, ist ja eigentlich von ihrem ideologischen Verständnis her strikt antinationalistisch oder eben internationalistisch. Das soll die Gemeinschaft nicht nur der Proletarier aller Länder werden, wie in der marxistischen Ideologie, sondern aller Menschen der Welt. Das ist eine weitreichende, internationalistische Utopie, die von Nationalstaaten, nationalen Grenzen herzlich wenig hält. Und auf einmal hatte ich reihenweise Texte vor mir, die ganz andere Töne anschlugen.
Das hat mich dann sehr interessiert, und dann habe ich schon als Student versucht, das weiter zu verfolgen. Ich habe meine Examensarbeit zu dem Thema geschrieben. Ich habe mich schamlos zu dem Zweck in Spanien in die Archive eingeschlichen. Ich habe denen da breitspurig verkündet: „Ich schreibe schon längst an meiner Doktorarbeit. Gebt mir mal das Zertifikat her.“ Das Schöne an Spanien ist, das interessiert die einen feuchten Kehricht. Da sind die gelassen. Da steht zwar riesig „Verboten für “ auf der Tür, aber einen Spanier kümmert das nicht. Dann habe ich viel in Madrid, Barcelona und in Salamanca, vor allem im Archivo General de la Guerra de España, gearbeitet. Das heißt inzwischen anders. Aus dieser Examensarbeit ist dann tatsächlich dieses Monstrum an Doktorarbeit erwachsen, mit 596 Seiten, die eigentlich nur Verrückte lesen wollen. Aber tatsächlich ist dieses Buch national wie international, das ist für mich völlig überraschend, enorm rezipiert worden. Mittlerweile werden, so großkotzig sich das jetzt anhört, Baxmeyer-Thesen international diskutiert (lacht), zum Teil auch fürchterlich kritisiert. Aber das macht ja Spaß. Da muss ich nicht drüber weinen. Das ist genau das, was ich erreichen wollte.
GWR: Dein neues Buch „Amparo Poch y Gascón. Biografie und Erzählung aus der Spanischen Revolution“ ist schon fast fertig. Wenn alles klappt, erscheint es zur Leipziger Buchmesse im März 2018 im Verlag Graswurzelrevolution.
Martin Baxmeyer: Martin Baxmeyer: Das war eine klassische Labour of Love. Ich habe im Zuge meiner Promotion viel Zeit in den Archiven verbracht, in Spanien, aber auch in Amsterdam, in Paris, in Bochum zum Beispiel in der Bibliothek des Ruhrgebiets, die sehr gute Bestände zum internationalen Anarchismus hat. Und ich habe literarische Quellen gesucht, weil sich meine Arbeit eben in erster Linie auf literarische Texte bezog.
Dabei bin ich über Erzählungen gestolpert, die in der Zeitschrift der anarchafeministischen Organisation Mujeres Libres (Freie Frauen) veröffentlicht wurden, von einer gewissen Doktor Salud Alegre, zu Deutsch „Doktor Fröhliche Gesundheit“. Ein Pseudonym, das mir überhaupt nichts sagte. Und diese literarischen Texte und Erzählungen gehörten zum Schönsten, was ich in fast vier Jahren Recherchearbeit gefunden habe. Die waren ganz ungewöhnlich, lebensbejahend, relativ satirisch, giftig, aber unheimlich freundlich und bunt. Es machte einen ungeheuren Spaß, sie zu lesen.
Weil ich aber damals auf der Suche nach den nationalistischen Veränderungen des Spanien-Bildes war, konnte ich mit diesen Texten leider nichts anfangen, denn da änderte sich gar nichts. Die waren quasi noch lupenrein der anarchosyndikalistischen Vorkriegsideologie verhaftet und reproduzierten so bestimmte utopische Gedanken und politische Forderungen, die man vorher auch schon gefunden hätte. Und so bleiben die Sachen liegen. Irgendwie habe ich mir gedacht, nee, das geht so nicht. Ich habe dann relativ schnell herausbekommen, wer die Autorin dieser Texte war, das war eine junge Ärztin aus Saragossa, aus Aragón, namens Amparo Poch y Gascón. Und dann habe ich mich auf ihre Spuren gesetzt. In Spanien ist ihr Werk wieder durch verdienstvolle Arbeiten einer großartigen Kollegin von mir entdeckt worden, Antonina Rodrigo. Sie hat auch eine Biographie über Poch y Gascón geschrieben, die 2002 veröffentlicht worden ist.
Aber in Deutschland kennt diese Dame eigentlich niemand. So wuchs dann langsam eine deutsche Biographie von Amparo Poch y Gascón, und gleichzeitig habe ich mich daran gemacht, ihre Erzählungen zu übersetzen, was eine sehr schöne Arbeit war, weil das einfach tolle, literarisch unheimlich anspruchsvolle Texte von ihr sind. Ein kleines Werk, ich glaube, es sind zwölf Erzählungen, mehr nicht, aber jede einzelne ist es wert, auch mal literaturwissenschaftlich beachtet zu werden. Das Buch ist eigentlich nur ein Versuch, eine außergewöhnliche Lebensleistung zu würdigen. Amparo Poch y Gascón war beispielsweise Mitglied der War Resisters‘ International (WRI), war während des Spanischen Bürgerkriegs und der keinesfalls gewaltfreien Sozialen Revolution, die sich da abspielte, strikte Gegnerin von Gewalt, hat das auch durchgehalten und eigentlich alle durch ihre Eigensinnigkeit gegen sich aufgebracht. Sie ist in Frankreich im Exil gestorben, in den 1970er Jahren. Das ist eine spannende Person. Die anarchistische Bewegung Spaniens ist nicht gerade arm an spannenden Frauengestalten. Amparo Poch y Gascón gehört sicherlich zu den spannendsten. Die wollte ich einfach ein bisschen bekannter machen.
GWR: Du hast auch das Buch „Abel Paz und die Spanische Revolution“ mitherausgegeben und viele Artikel nicht nur zur Spanischen Revolution veröffentlicht, unter anderem auch in der Graswurzelrevolution. Kannst Du etwas zum Anarchosyndikalismus und zum Spanischen Bürgerkrieg erzählen?
Martin Baxmeyer: Ich kann es versuchen, obwohl jedes Thema für sich schon sehr komplex ist. Den Spanischen Bürgerkrieg hat man mal die „Vorübung“ oder das „Vorzimmer des Zweiten Weltkriegs“ genannt. Am 18. Juli 1936 putscht in der damals spanischen Kolonie Marokko (aufgeteilt zwischen Spanien und Frankreich) das Militär gegen die Zweite Spanische Republik. Die Militärs rechnen damit, dass sie relativ schnell erfolgreich sein werden. Tatsächlich wächst sich dieser Putsch zu einem drei Jahre dauernden Bürgerkrieg aus, der das Land verwüstet.
Im 20. Jahrhundert sicherlich das Schlüsselereignis der spanischen Geschichte, nicht nur deswegen, weil die Rechtskoalition, die sich um die Militärs schart, siegreich aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen ist und das Ergebnis fast 40 Jahre Diktatur unter Francisco Franco waren. Der Spanische Bürgerkrieg ist für die europäische und globale Linke ein so wichtiges Ereignis, weil sich im Bürgerkrieg bis zum Mai 1937 eine gesellschaftliche Veränderung vollzieht, die zum Radikalsten gehört, was es bis zu diesem Zeitpunkt gegeben hat, die sogenannte Soziale Revolution, die eben nicht nur die politischen Entscheidungsstrukturen verändern, sondern die ganzen Besitzverhältnisse, die ganzen Lebensverhältnisse umstürzen will. Da ist eine Reihe von verschiedenen politischen Kräften beteiligt, die wichtigsten waren sicherlich die Anarchisten beziehungsweise die in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo, Nationale Konföderation der Arbeit) organisierten Anarchisten. Die CNT hat, auch wenn da zu Bürgerkriegsbeginn Tausende und Abertausende reingelaufen sind, weil so ein Gewerkschaftsausweis tatsächlich lebenserhaltend sein konnte, zu Beginn des Bürgerkriegs fast zwei Millionen Mitglieder. Sie war zu diesem Zeitpunkt die stärkste anarchosyndikalistische Gewerkschaft weltweit.
GWR: Und das bei damals insgesamt etwa 23 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern in Spanien. Eine unfassbar große gesellschaftliche Kraft.
Martin Baxmeyer: Das passt gut zu den Katalanen, weil die CNT ihre Hauptbasis in Barcelona hatte. Barcelona war auch die Drehscheibe. Die Veränderungen erfassten die Produktionsweise, die Lebensweise, erfassten die Art, wie die Leute miteinander umgingen, erfassten die Kleidungsweise, Das war eine ungeheuer umfassende Angelegenheit, die sich relativ spontan und ohne Steuerung von oben entwickelte. Das heißt, das ist wirklich eine Revolution der Basis gewesen. Für jemanden, der fixiert war auf die alte monarchische oder republikanische Ordnung, hat das gewiss ausgesehen wie ein Chaos. Tatsächlich war es eine alternative Form der Ordnung im Entstehen, mit vielen Konflikten und auch mit viel Blut. Das war alles andere als harmonisch, was sich da abspielte. Das spielte sich in einem Krieg ab, wo zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte offene Städte bombardiert worden sind. In der anarchistischen Literatur ist das Entsetzen über diese Bombenangriffe, über diese Flugzeuge mit Händen zu greifen. Wir in Deutschland kennen diese Bilder von zerbombten Städten verdammt gut, das war damals neu, das war ein neues Waffensystem.
Diese Revolution ist aus mehreren Gründen gescheitert: gescheitert ist sie an den politischen Konflikten innerhalb der republikanischen Koalition, an der Weigerung der europäischen Mächte, die Republik mit Waffen zu unterstützen, an der antirevolutionären Politik des stalinistischen Russlands und damit eben der Komintern, also der Kommunistischen Internationale, und natürlich durch die Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg, nachdem die Trägerinnen und Träger der Revolution auch schon während des Bürgerkriegs mit aller Schärfe und Gnadenlosigkeit verfolgt worden sind.
Was sich während des Bürgerkriegs abspielte und auch danach, ist ein politischer Genozid, der in der spanischen Geschichte seinesgleichen sucht und der auf eine perverse Weise zum Modell geworden ist. Das lässt sich zum Beispiel nachweisen für die berüchtigten lateinamerikanischen Diktatoren. Augusto Pinochet in Chile zum Beispiel hat sich stark an Franco und seiner Politik orientiert, die politischen Gegner nicht nur zu besiegen und einzusperren, sondern sie wirklich physisch auszurotten. Einer der Geheimdienstoffiziere von Pinochet hat gesagt: „Das ist so, wie wenn sie Ameisen im Keller haben. Die müssen sie auch alle töten.“ Und das ist die Logik gewesen, die im Spanischen Bürgerkrieg erfolgreich war und schließlich zu einer jahrzehntelangen Diktatur führte. Das hat Spanien ein bisschen im Guten wie im Bösen zu einer Art Traumland für Menschen mit anarchistischen Ideen oder Orientierung werden lassen. Barcelona beispielsweise selber hat das geschickt vermarktet. Vor zehn oder fünfzehn Jahren, als ich da zum ersten Mal war, fing die Stadt an, so ein Stadtmarketingkonzept aufzulegen, das teilweise die alten anarchistischen Parolen und Parolen der Anti-Globalisierungsbewegung benutzte, um Touristen anzulocken. Da kann man ja nun schlecht ein Copyright verlangen. (lacht)
Das ist ein ganz perverses Mischverhältnis. Gleichzeitig war und ist Barcelona ein Alptraum neoliberaler Verwüstungen. Es wird immer schlimmer. Jedes Mal, wenn ich da hinkomme, bin ich aufs Neue entsetzt, was jetzt wieder ruiniert worden ist oder wo wieder neue Konflikte aufgebrochen sind. Aber sozusagen das Erbe, die Erinnerung des Spanischen Bürgerkriegs ist nicht nur in Barcelona, sondern in ganz Spanien ungeheuer gegenwärtig. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts, so 1999 ging das los, da kam eine neue Welle der Aufarbeitung. In diesen Kontext habe ich auch ein bisschen meine Dissertation verorten wollen. Die Aufarbeitung holte Aspekte aus der Vergangenheit hervor, die man bis dahin wohlweislich unter dem Tisch gehalten hatte.
GWR: In Deutschland sind die Nationalsozialisten 1933 an die Macht gewählt worden. Es gab vergleichsweise wenig Widerstand. In Spanien gab es 1936 einen faschistischen Putsch von Franco und den Militaristen. Da hat sich ein großer Teil der Bevölkerung massiv gegen diesen Faschismus gestemmt. Dass es 1936 sogar einen „kurzen Sommer der Anarchie“ in Barcelona und großen Teilen Spaniens gab, dass die Anarchistinnen und Anarchisten in Spanien eine so große Rolle gespielt haben, das ist für viele vermutlich nicht so verständlich. Deshalb nochmal die Frage: Was ist Anarchosyndikalismus, was ist für Dich Anarchie?
Martin Baxmeyer: Wie gesagt, das ist nicht so leicht zu erklären. Anarchosyndikalismus kann man vielleicht noch am leichtesten erklären. Das ist eine Orientierung innerhalb der europäischen Gewerkschaftsbewegung, die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts etabliert und in Spanien 1910 mit der Gründung der erwähnten CNT wirklich einen Riesenschritt nach vorne macht. Es geht darum, wie eine nicht-kapitalistische und nicht-hierarchische Gesellschaft organisiert werden soll, also wie man sie funktionsfähig hält. Die Idee des Anarchosyndikalismus ist, dass die Gewerkschaften die Organisation der Gesellschaft übernehmen. Das haben die orthodoxen Anarchisten, die sehr misstrauisch gegen alle festen Institutionen und Organisationsstrukturen waren, damals skeptisch beschnuppert; man hielt das für so etwas Halb-Reaktionäres.
Die CNT hat sich auf eine ganz interessante Weise organisiert, sie war eher ein loser Dachverband, in dem sich viele kleine Branchensyndikate, also Gewerkschaften hinein organisiert haben. Das ist ein typisch anarchistisches Organisationsprinzip: Eine anarchistische Gesellschaft wird von unten nach oben aufgebaut, nicht von oben nach unten. Das ist nicht, als würde eine kleine revolutionäre Elite dekretieren, oder sie übernimmt die Staatsgewalt. Darum geht es nicht, sondern der Grundgedanken ist, dass Menschen sehr wohl in der Lage sind, auf friedliche und produktive Weise ihre Angelegenheiten selber zu organisieren. Der Anarchosyndikalismus war ein Versuch, diesen Grundgedanken sozusagen innerhalb der Arbeiterschaft zu verankern. Die anarchistische Utopie geht darüber noch hinaus. Da gibt es zig verschiedene Spielarten. Es geht grundsätzlich um ein anti-autoritäres Verständnis von menschlicher Selbstorganisation. Anarchisten haben ein fast schon hinreißend naives Verständnis von der Fähigkeit der Menschen, sich friedlich miteinander auseinander zu setzen. (lacht) Häufig wird da eine Auseinandersetzung mit konkreten Problemen verweigert.
Aber tatsächlich gibt es auch eine Menge Beispiele, wo diese Form anti-autoritärer Selbstorganisation enorm produktiv ist. Und teilweise viel produktiver als bei einer autoritären Organisation. Es gibt zum Beispiel eine Trägerin der Wirtschaftsnobelpreis, obwohl sie gar keine Wirtschaftswissenschaftlerin war, die leider vor wenigen Jahren gestorben ist, Elinor Ostrom, die hat ein ganz wichtiges Buch geschrieben: „Die Verfassung der Allmende“. Allmende bedeutet Gemeineigentum. Sie hat sich mit einem großen Forschungsprojekt angeschaut, wo eigentlich selbstorganisierte Strukturen funktionieren, die nachwachsende Ressourcen verwalten. Und da stellte sich eben heraus: Je näher die Menschen an dieser Ressource sind, desto besser können sie mit ihr umgehen. Je demokratischer der Umgang organisiert ist, desto nachhaltiger ist die Nutzung. Alles Dinge, die die aktuelle Wirtschaftstheorie einfach leugnet. Und das beschriebene Prinzip ist sehr anarchistisch.
In Spanien war das Besondere, dass die anarchistische Bewegung seit 1868 mit großen Schwankungen präsent geblieben ist. Im 20. Jahrhundert nahm sie sehr an Stärke zu. Deren Ziel war ausdrücklich die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft nach diesen Kriterien. Das heißt, als der Bürgerkrieg kam und auf einmal die staatlichen Autoritäten wegen des Putsches zusammenbrachen, waren die Anarchistinnen und Anarchisten alles andere als unvorbereitet. Ich habe beispielsweise in Salamanca Zeitschriften von den Gewerkschaften, wie gesagt, immer so kleine Branchensyndikate, studiert. Eine war in Barcelona für Strom, Wasser, Gasversorgung usw. zuständig. „Luz y fuerza“ hießen die: Licht und Stärke. Und das war beeindruckend, denn diese Gewerkschaft bereitete sich darauf vor, die Produktionsmittel zu übernehmen und eigenmächtig zu verwalten. Um das zu können, mussten sie natürlich wissen, wie die Maschinen eigentlich funktionieren, wie laufen die Transaktionen, wo liegen die Leitungen. Das wussten die Arbeiter natürlich schon, aber um gut vorbereitet zu sein und mit der Zeit gehen zu können, schickte die Gewerkschaft auf eigene Kosten Mitarbeiter zu großen internationalen Technikmessen. Das machten nämlich nicht die Chefs der Firmen, das machte die. Und als dann auf einmal die Möglichkeit kam, die Betriebe tatsächlich zu übernehmen, waren sie perfekt vorbereitet. Bis zur Zerstörung der großen Elektrizitätswerke in Barcelona durch Bombardements durch Franco lief die Versorgung mit Strom, Wasser und Gas perfekt und ohne Probleme, obwohl weit und breit kein Chef mehr zu sehen war und es eine reine Arbeiterselbstverwaltung war. Man muss fairerweise dazu sagen, dass es nicht immer so wunderschön funktioniert hat. Aber daran kann man wirklich sehen, dass eine Revolution für die Anarchistinnen und Anarchisten der 1920er und 30er Jahre nicht irgendetwas Fernes und Geträumtes war. Oder irgendein Identitätsentwurf, den sie dann spazieren führten. Das war eine konkrete Perspektive, auf die sie tagtäglich hingearbeitet haben. Sonst hätte es diese Soziale Revolution, so kurzlebig und unvollständig sie auch immer gewesen sein mag, nie geben können.
GWR: Kannst Du erzählen, was in Katalonien und vor allem in Barcelona in den letzten Monaten passiert ist? Es gab da ja extreme Umwälzungen.
Martin Baxmeyer: Die letzten Monate kann man eigentlich fast schon nicht mehr zusammenfassen. Im Großen und Ganzen ist die Situation systematisch eskaliert worden, dadurch, dass die separatistischen katalanischen Parteien, ein relativ breites Parteienbündnis, nach der Finanzkrise 2008/ 2009 die große Chance gewittert haben, endlich den alten Traum eines katalanischen Nationalstaats zu realisieren, und die spanische Zentralregierung in Madrid gleichzeitig mit dem Schikanieren der katalanischen Region Punkte sammeln wollte. Der Gedanke der katalanischen Separatisten war, ihr Projekt eines katalanischen Nationalstaats einerseits über das berühmte Referendum am 1. Oktober 2017 demokratisch abzusichern. Es sollte tatsächlich die Bevölkerung darüber bestimmen, ob sie wünscht, nicht mehr ein Teil Spaniens zu sein. Im Jahr 2009 hatte es schon mal ein solches unverbindliches Referendum gegeben. Das hatte zwar eine Zustimmungsquote von über 90% für die Trennung von Spanien, aber nur eine Wahlbeteiligung von 27% der Bevölkerung. Es hatten also wirklich nur die Nationalisten abgestimmt. Da bastele ich Dir auch hübsche Zustimmungsraten!
Andererseits war den politisch Verantwortlichen in Katalonien natürlich von vorneherein klar, dass der Weg zu einem katalanischen Nationalstaat nur über Brüssel, nur über die EU ginge. Dieses Kalkül ist in zweierlei Hinsicht gescheitert: Zum einen ist die demokratische Unterstützung weggebrochen oder weggebröckelt. In den Wahlen, die Spanien nach der Absetzung der katalanischen Regionalregierung am 21. Dezember 2017 durchgesetzt hat, haben zwar immer noch die separatistischen Parteien gewonnen, sie haben aber eine kleine Mehrheit. Sie haben 70 Sitze von 135. Diese Mehrheit existiert nur auf dem Papier. Denn acht von diesen 70 Abgeordneten können ihre Sitze gar nicht einnehmen, weil sie entweder im Gefängnis sitzen oder flüchtig sind, weil Spanien sie wegen Rebellion verfolgt.
Das heißt, das Regionalparlament ist ein Parlament am Gängelband von Madrid. Madrid kann jederzeit bestimmen, wie die Mehrheitsverhältnisse im katalanischen Parlament sein werden. Madrid könnte zum Beispiel auch politische Konkurrenten zu dem ehemaligen Präsidenten, der jetzt in Brüssel sitzt, Carles Puigdemont, einfach aus dem Gefängnis entlassen, um ihn parteiintern unter Druck zu setzen. Madrid sitzt also am Hebel. Die katalanischen Kräfte sind eigentlich extrem geschwächt. Und es hat sich außerdem herausgestellt, dass sich das Kalkül, sich als eine linksliberal-alternative, kleine Nation der Europäischen Union anzudienen, zu einem Zeitpunkt, wo die Europäische Union von allen Seiten von populistischen, rechtspopulistischen, nationalistischen Regierungen unter Druck gesetzt und in ihrem Bestand gefährdet wird, einfach unfassbar naiv war. (lacht) Carles Puigdemont ist, nachdem Mariano Rajoy die Regierung gestürzt, die Guardia Civil da reingeschickt und einen Haftbefehl erlassen hat, direkt zum großen Bruder in Brüssel gelaufen. Es ist aber albern zu glauben, dass er da nur sitzt und weint. Selbstverständlich macht er da Lobbyarbeit. Selbstverständlich versucht er, politische Kräfte auf sich zu ziehen, um vielleicht doch noch die Chance zu erhalten, als gefeierter Präsident eines neuen, unabhängigen Kataloniens zurück zu kommen. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich.
Was die Sache zu einem Schaustück von Realpolitik macht, ist die Tatsache, dass Rajoy, der Ministerpräsident Spaniens, gar kein Interesse daran hat, die Katalonien-Krise schnell beizulegen. Denn die konservative Regierung Spaniens sieht sich momentan mit den größten und weitreichendsten Korruptionsvorwürfen und auch juristischen Verfolgungen der spanischen Geschichte konfrontiert. Eigentlich fast die gesamte konservative politische Elite, wie auch die sozialdemokratische, ist der Korruption angeklagt. Vier Exminister, Rajoy übrigens selber auch, zahllose Regionalverordnete man kann die Anklagen wirklich nicht mehr zählen. Dazu kommt die Situation, dass die konservative Volkspartei, Partido Popular, in Spanien keine absolute Mehrheit hat. Das sind die nicht gewohnt, die regieren eigentlich immer durch. Das geht diesmal nicht. Was ist das, was Rajoy macht? Er hält still, er tut eigentlich nichts. Die Krise in Katalonien war dann etwas, wo auf einmal alle spanischen Parteien, auch die Oppositionsparteien, zusammen rückten. Und das war das Schönste, das er haben konnte.
Deswegen vermute ich, dass Rajoy dafür sorgen wird, dass die Krise in Katalonien weiter am Köcheln bleibt. Das heißt, dass die Provokationen unzweideutig auch von den Katalanen ausgingen, von den separatistischen Kräften in Katalonien, aber die konservative Regierung in Spanien war über diese Situation alles andere als unglücklich.
So hat jeder aus reinen Partikularinteressen eine Situation heraufbeschworen, wo jetzt in Barcelona beispielsweise Leute, Bekannte haben mir das erzählt, die im Oktober 2017 und darüber hinaus nicht damit einverstanden waren, dass Katalonien sich von Spanien löst, sich teilweise nicht mehr über die Straße trauten.
Der soziale Bruch, die Polarisierung der Atmosphäre ist nicht so sehr zwischen Katalanen und Spaniern, die haben immer Probleme miteinander gehabt, sondern innerhalb der katalanischen Bevölkerung. Man bräuchte jetzt wirklich verantwortungsvolle Politikerinnen und Politiker, die versuchen, diese Polarisierung etwas zu entschärfen. Die sehe ich nicht. Ich sehe nur einen Haufen Partikularinteressen, die relativ kurzfristig und kleingeistig sind. Das finde ich extrem bedrohlich.
GWR: An dem Referendum am 1. Oktober 2017 haben sich nur um die 40 Prozent der Bevölkerung in Katalonien beteiligt. Wie siehst Du jetzt die Perspektiven für emanzipatorische Bewegungen? Solche gibt es ja auch in Spanien und gerade in Barcelona. Es gibt beispielsweise die CNT und eine stärkere, ebenfalls anarchosyndikalistische CGT. Beide sind relativ stark, zumindest im Vergleich zu ähnlichen Gewerkschaftsinitiativen in Deutschland wie etwa der anarchosyndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union (FAU).
Wie lässt sich der Konflikt in Katalonien auflösen?
Martin Baxmeyer: Die Position von emanzipatorischen Bewegungen ist durch die Polarisierung enorm geschwächt worden. Zu den anarchistischen Gruppen: Die CNT ist dreimal gespalten und spielt in Spanien keine ernsthafte Rolle mehr. Die CGT war vorher schon geschwächt, weil durch die große Finanzkrise 2008/2009 den Gewerkschaften paradoxerweise die Leute weggelaufen sind, teilweise aus dem simplen Grund, weil man die Mitgliedsbeiträge nicht mehr zahlen konnte, weil die Situation in Spanien so krass war, dass die Familien das Elend, was der Staat angerichtet hatte, auffangen sollten und es nicht konnten.
In dieser polarisierten Situation prallen zwei extreme Nationalismen aufeinander, der sich in den letzten 15 Jahren permanent radikalisierende katalanische Nationalismus und der nicht minder radikale, aggressive und engstirnige zentralspanische Nationalismus. Also, man kann heutzutage teilweise die große Tageszeitung El Pais, die meistgelesene Zeitung Spaniens, – was in Deutschland die BILD-Zeitung ist, in Spanien ist es ein seriöses, linksliberal bis sozialistisch angehauchtes Blatt – eigentlich nicht mehr lesen. Die haben nicht nur Schaum vorm Mund, die haben schon blutigen Schaum vorm Mund. Ein großartiger Kollege von mir zum Beispiel, Francisco Rico, einer der wichtigsten Literaturwissenschaftler, hatte einen Kommentar geschrieben, wo er die katalanischen Separatisten mit Nazis gleichsetzte.
Die Atmosphäre ist vergiftet. Da gemäßigte oder sogar antistaatliche, antinationalistische Positionen zu vertreten, ist schwer. Das wird teilweise mit Gewalt beantwortet, sei es mit der Gewalt des Zentralstaats, der die Guardia Civil schickt, sei es mit der Gewalt der Parteigänger eines katalanischen Nationalstaats, die ihren Gegnern einfach einen auf die Mütze hauen. Was die Sache noch schwieriger macht, ist auch, dass es in der anarchistischen Bewegung in Katalonien, die eigentlich strikt antistaatlich, antinationalistisch, internationalistisch sein sollte, nicht ungewöhnlich ist, gleichzeitig Anarchist und katalanischer Separatist zu sein. Das heißt, dass so eine Art Nationalanarchismus in Katalonien eine sehr gängige Position ist. Die Genossinnen und Genossen da tun es meistens mit der Formulierung ab, dass man eben nicht nur Anarchist sei, man sei noch etwas anderes. Das ist richtig, aber da kollidieren zwei grundsätzlich verschiedene politisch-ideologische Vorstellungen ganz gewaltig miteinander. Also brechen auch innerhalb antinationalistischer Bewegungen Konflikte auf, die die Gruppen weitgehend handlungsunfähig machen. Da setze ich keine allzu großen Hoffnungen hinein. Wobei natürlich, kritische Positionen zu vertreten, schon hilfreich sein kann. Zum Beispiel zu sagen: Kinder, was soll denn das nun eigentlich? Sollen wir Europa in immer kleinere Nationen aufbrechen? Oder ist es nicht viel besser, die alte internationalistische Perspektive mal wieder hervor zu holen und sich zu überlegen, ob man nicht lieber auf einem Kontinent oder Planeten leben möchte, auf dem sich alle Menschen frei bewegen können und die Zugehörigkeit zu einer Nation eher eine kulturelle als staatliche oder machtpolitische Frage wäre?
GWR: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Interview: Bernd Drücke
(1) Martin Baxmeyer: Amparo Poch y Gascón. Biographie und Erzählungen aus der Spanischen Revolution, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg, März 2018, 152 Seiten, 13,80 Euro, ISBN 978-3-939-045-32-8. Als Vorgeschmack auf das Buch siehe: Gewaltfrei im Bürgerkrieg. Die anarchistische Ärztin Amparo Poch y Gascón (1902-1968), die Spanische Liga der Kriegsgegner und die Soziale Revolution in Spanien, Artikel von Martin Baxmeyer, in: GWR 410, Sommer 2016, www.graswurzel.net/410/amparo.php
Martin Baxmeyer: Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild, edition tranvia, Berlin 2012, 599 Seiten, 36 Euro, ISBN 978-3-938944-64-6
Bernd Drücke, Luz Kerkeling, Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution, Verlag Edition AV, Frankfurt/M. 2004, 116 Seiten, 11 Euro, ISBN 3-936049-33-5
(2) Siehe: http://projekte.free.de/bankrott/baxi-disko.html Höre: http://projekte.free.de/bankrott/BAXI_Das_Gepaeck.mp3
(3) Siehe Rezension in GWR 263, November 2001, www.graswurzel.net/263/baxi.shtml
(4) Baxi war Mitglied des "Blarzen Schwocks". Siehe: "Wir sind gar nicht anarchistisch!" Ein Interview von Bernd Drücke mit der Kabarettgruppe Der Blarze Schwock, in: GWR 303, November 2005, www.graswurzel.net/303/schwock.shtml