Das Ergebnis der 26. Nationalratswahl am 15. Oktober 2017 in Österreich ist aus emanzipatorischer und antirassistischer Sicht eine Katastrophe (vgl. GWR 423, S. 2). Die rechtskonservative ÖVP hatte im Wahlkampf Positionen der extrem rechten FPÖ übernommen und bekam 31,5 % der abgegebenen Stimmen. Die rechtsnationalistische FPÖ bekam 26 % und hat nun mit der ÖVP eine Regierung gebildet. Das 183-seitige Regierungsprogramm der Rechtskoalition unter Kanzler Kurz beleuchtet für die GWR Anja Svobodovna. (GWR-Red.)
Rechtsextreme Rhetorik à la Innenminister Kickl, der behauptet, dass „diejenigen, die in ein Asylverfahren eintreten, auch entsprechend konzentriert an einem Ort zu halten“ (1) seien, ist bereits in den ersten Wochen eine Konstante in der neu angelobten ÖVP/FPÖ-Regierungskoalition in Österreich. Das seit Mitte Dezember 2017 veröffentlichte Regierungsprogramm (2) zeigt die ideologische Basis der Politik, auf welcher solche Rhetorik gedeiht. Es gibt einen ersten Ausblick auf die zu erwartende Realisierung in den nächsten Jahren.
In den mit leeren Schlagwörtern betitelten Kapiteln ‚Staat und Europa‘, ‚Ordnung und Sicherheit‘, ‚Zukunft und Gesellschaft‘, ‚Fairness und Gerechtigkeit‘ und ‚Standort und Nachhaltigkeit‘ präsentiert die Regierung ihren Schritt-für-Schritt-Plan hin zu ihrem rechtsautoritären Staat. So diffus diese Bereiche auch klingen mögen, die Inhalte sind klassisch eine Mischung aus neoliberal-kapitalistischem und rechts-autoritärem Lehrbuch.
Dieser Artikel versucht, einen detaillierteren Überblick über das herrschende Grundprinzip zu verschaffen: Steuersenkungen für Konzerne auf Kosten von Sozialausgaben, legitimiert durch rassistische Hetze und begleitet von Repression.
Der neoliberale Kern …
„Wir fördern Leistungswillen und die Bereitschaft zum unternehmerischen Risiko.“
Die wichtigsten Komponenten des wirtschaftspolitischen Programms sind ein klares Bekenntnis zur EU, zu transnationalen Handelsabkommen (inkl. CETA und TTIP) und Maßnahmen zur sogenannten Steigerung der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit in den Bereichen Steuer-, Bau- und Mietrecht. Das bedeutet konkret einerseits Steuersenkungen für Unternehmen durch die Reduktion der Abgaben- und Körperschaftssteuer, andererseits ‚Marktkonformität‘ von Mietpreisen, welche auf Lasten besonders von sozial schwächeren Mieter*innen gehen.
Die Änderungen bezüglich Wohnen beinhalten unter anderem:
Der Zugang zu geförderten Gemeindewohnungen wird erschwert: Eine durchgängig fünfjährige Meldung ist für den Antrag erforderlich, was die Situation besonders für Neuzugezogene erschwert. Bei einmaligem Verlust der Wohnung droht der Verlust des Rechts auf einen erneuten Antrag. Zudem soll die Anhebung des Mietzinses möglich sein, wenn nach regelmäßiger Evaluierung von Förderungswürdigkeit im sozialen Wohnbau festgestellt wird, dass bestimmten Kriterien nicht mehr entsprochen wird.
‚Anpassungen der Mieten an Marktpreise‘, auch in Vierteln, in denen die Mietpreiserhöhungen bis jetzt nicht erlaubt waren.
‚Marktkonforme Mietzinsbildung‘ bei Neubauten und Generalsanierungen.
Familienmitglieder können Mietverträge zu ähnlichen Konditionen nach dem Tod des Mieters oder der Mieterin nur noch unter beschränkten Konditionen übernehmen. Diese sogenannte Bekämpfung des „Mietadels“ erlaubt somit Mietpreiserhöhungen z.B. bei einem Sterbefall.
Förderungen für Eigentumswohnungen und somit für jene, die sich Eigentumswohnungen leisten können.
Kürzere Mietverträge als drei Jahre sollen möglich werden.
Der starke Zusammenhang zu den Wahlkampfspenden von Großindustriellen, insbesondere von Immobiliengesellschaften, ist unübersehbar. Forderungen der Industriellenvereinigung an die Regierungsparteien wurden teilweise wortwörtlich in das Regierungsprogramm übernommen. (3)
Unter dem Verweis auf ‚Freiheit‘ wird der Begriff der Freiheit als ‚Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben‘ durch eine Freiheit als ‚Marktfreiheit‘ ersetzt. Motto: „Wir sind Weltmeister im Regulieren und im Einschränken von Freiheit und Selbstverantwortung.“
Das neoliberale Argument, gespeist von den klassischen Verweisen auf ein proklamiertes Ausufern von „Sozialschmarotzertum“, führt zu den im Folgenden beschriebenen Kürzungen des Sozial- und Gesundheitssystems.
… finanziert durch Kürzungen im Sozialbereich
„Wir schützen unseren Sozialstaat vor Missbrauch“
Die wichtigsten Einschnitte verteilen sich über die Bereiche Arbeit, Gesundheit und Bildung. Sie beinhalten massive Kürzungen von Sozialleistungen und die Beschneidung von Rechten. Der Argumentation der Regierung nach sollen diese Kürzungen durch Steuerverbesserungen, z.B. Senkung der Einkommenssteuer, ausgeglichen werden. Jedoch kommen diese Steuerverbesserungen nicht allen Menschen zugute, welche von den Kürzungen betroffen sind. Von Armut Betroffene und Personen mit prekärem, legalem Status sind disproportional von den Verschlechterungen betroffen.
Im Folgenden liste ich die wichtigsten Teilaspekte auf.
Im Bereich Arbeit und Mindestsicherung sind folgende Änderungen geplant:
Einführung des Zwölfstundentags / der Sechzigstundenwoche. Die geplanten Änderungen sind erstmal auf freiwilliger Basis geplant.
Arbeitslosengeld NEU und Mindestsicherung: Die Notstandshilfe, welche bisher nach dem Arbeitslosengeld griff und Menschen nicht auf die niedrigere Mindestsicherung absinken ließ, wird mit der Mindestsicherung zusammengelegt, welche zugleich gekürzt wird. Nach dem Verlust des Arbeitslosengeldes (nach einem Jahr) muss auf die Mindestsicherung umgestiegen werden. Um diese beziehen zu können, müssen zudem alle Vermögen bis auf 4000 Euro aufgebraucht sein. Das gesamte Haushaltseinkommen darf inklusive der Mindestsicherung 1500 Euro nicht überschreiten (ungeachtet der Anzahl der Kinder).
Zudem sind Verschärfungen für Richtlinien darüber, welche Arbeit bei Arbeitslosigkeit angenommen werden muss, geplant. Bei mangelnder Teilnahme an Kursen des Arbeitsmarktservice soll eine Person verpflichtet werden können, gemeinnützige Arbeit zu leisten, um die Mindestsicherung nicht zu verlieren. (4)
Streichung der Aktion 20.000: Der staatliche Mechanismus zur Schaffung von gemeinnützig wertvollen Arbeitsplätzen, welche an über 50-Jährige mit Schwierigkeiten Arbeit zu finden, gegeben werden, wird gestrichen. Diese Änderung wurde bereits endgültig beschlossen.
In den Bereichen Gesundheit/Bildung/Familie/Soziales sind die wichtigsten Punkte des Programms:
„Bekämpfung von Sozialmissbrauch“ auch im Bereich Gesundheit, z.B. durch Präventionen von E-Card-Missbrauch.
„Medizinische und soziale Beratung vor geplanten Schwangerschaftsabbrüchen“ wird angestrebt, was einen massiven Rückschritt des Rechts auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper von Frauen darstellt.
Stopp des von der letzten Regierung für 2018 geplanten Nichtraucherschutzgesetzes.
Wiedereinführung von Studiengebühren (welche nachträglich steuerlich absetzbar sind, sofern Personen regulärer Arbeit innerhalb Österreichs nachgehen sollten).
Massive Beschneidung der Rechte der Österreichischen Hochschüler*innenschaft (ÖH): Änderungen sollen nur noch Beratung und Interessensvertretung von Studierenden, statt wie bisher politische Arbeit und breite Interessensvertretung ermöglichen.
Wiedereinführung von Ziffernnoten in Volksschulen.
Stärkerer Fokus auf „Wertevermittlung“ in Kindergärten, fokussiert auf „islamische Kindergärten“, welche „in letzter Konsequenz bei Nichterfüllung“ der vorgegebenen Werte geschlossen werden sollen. (5)
Kürzung von Familienbeihilfe für nicht in Österreich lebende Kinder.
Erneut wurde argumentiert, dass der neu vorgeschlagene „Familienbonus“ die Kürzungen ausgleichen soll. Dieser kommt jedoch hauptsächlich besserverdienenden Familien zu Gute und bringt kaum Zuschüsse für ärmere Familien.
… legitimiert mit Rassismus
„Wir wollen unsere Heimat Österreich als lebenswertes Land mit all seinen kulturellen Vorzügen bewahren.“
Quer durch alle Kapitel des Regierungsprogramms ziehen sich die Begriffe Migration, Sicherheit, Terrorismus wie ein roter Faden, mit dem die oben angeführten Änderungen als notwendig dargestellt werden. Zusätzlich zu der Verfestigung des rassistischen Feindbildes, sind auch viele konkrete Änderungen im Asyl- und Migrationsbereich geplant, welche Grundrechte von Personen im und nach dem Asylverfahren grundlegend zertrümmern:
Bei Asylantragstellung Abnahme von Bargeld (für die „Deckung der Grundversorgungskosten“) und Handy („zur Erhebung der Reiseroute und bei Unklarheit von Identität“).
Während des Asylverfahrens nur noch Sachleistungen statt bisherigem 40 Euro Taschengeld.
Durch die Einführung der Mindestsicherung Light (greift, wenn nicht fünf der letzen sechs Jahre in Österreich verbracht wurden), erhalten anerkannte Geflüchtete nur noch 365 Euro im Monat.
Da das Haushaltseinkommen inklusive der Mindestsicherung 1500 Euro nicht überschreiten darf, um diese beanspruchen zu können, sind besonders Familien mit vielen Kindern betroffen.
Die Unterkunft während des Asylverfahrens in Privatunterkünften soll verboten werden. Stattdessen soll die eingangs zitierte „konzentrierte“ Unterbringung z.B. in Kasernen mit Ausgangssperre und Lagern in weniger besiedelten Gebieten wie z.B. am Stadtrand, als potentielle Optionen präsentiert werden. (6)
Gemeinnützige Arbeit für Personen im Asylverfahren soll verboten werden, da keine „integrationsfördernden Maßnahmen“ gesetzt werden sollen.
Die Konsequenzen für Personen im Asylverfahren sind dramatisch, die Vorschläge sind entwürdigend. Die Teilnahme an sozialem Leben wird de facto verunmöglicht.
… und mit Repressionskonsequenzen für alle
„Wir werden wachsam sein, um gegen potenzielle Gefährder einschreiten zu können“
Die rassistische Argumentationslinie findet sich auch im letzten fundamentalen Teil der vorgeschlagenen Neuerungen.
Durch die Beschwörung von terroristischer Gefahr wird die Beschneidung von Datenschutz und stärkere Überwachung durch z.B. höheren Datenaustausch legitimiert.
Einige der im Regierungsprogramm genannten oder angedeuteten Punkte sind:
Der Ausbau elektronischer Überwachung (durch z.B. Gesichtsfelderkennung),
Bundestrojaner zum Auslesen von Smartphones, Chats etc.
„Individualisierungspflicht“ von IP-Adressen und Speicherung von Daten vereinfacht,
Digitale Überprüfung von Personen, die einen Asylantrag stellen,
Ausbau von Befugnissen zur Datenübermittlung zwischen Behörden.
Zudem ist es besorgniserregend, dass alle Ressorts mit Kompetenzen zur Überwachung von FPÖ nominierten Minister*innen geleitet werden und somit auch Bundesheer, Polizei und Bundeskriminalamt, sowie Verfassungsschutz und alle Geheimdienste unter dem Kommando einer extrem rechten Partei stehen. (7)
Die EU und die Funktion von Rassismus
Die Liste an Plänen im Regierungsprogramm ist lang. Entsprechende Beschlüsse werden bereits gefällt oder zumindest medial vorbereitet. Selbst wenn einige der geplanten Änderungen in Konflikt mit (noch) geltenden Gesetzen und Richtlinien stehen, scheint das ihrer Verwendung keinen Abbruch zu tun.
Von liberaler Seite oft genannt sind internationale und EU-weite Abkommen zu Asyl- und Flüchtlingspolitik, welche eine rechtsextreme Migrationspolitik mit einem Bekenntnis zur EU und europäischen Werten unvereinbar machen sollen.
Das Regierungsprogramm ist ein gutes Beispiel für den Falschschluss hinter solchen Annahmen.
Die neoliberalen Regierungspläne zusammen mit dem Bekenntnis zu einer „richtige[n], ihrem Grundgedanken entsprechende[n]“ EU, erinnern auf unbewusst pointierte Weise an den Kern und das Wesen der EU. Geschaffen als gemeinsamer Wirtschaftsraum wird sie immer zuallererst ein Projekt der Förderung europäischer ökonomischer Interessen auf Kosten marginalisierter Regionen bleiben.
Dadurch und in der Gewissheit, dass die EU-weite Migrationspolitik ebenfalls eine der Ausgrenzung und Internierung ist, kann sich das Bekenntnis zur EU nahtlos in das rechte Regierungsprogramm einfügen.
Wenn die Regierungspläne in der Grundlogik ‚Steuersenkungen für Konzerne auf Kosten von Sozialausgaben, legitimiert durch rassistische Hetze und begleitet von Repression‘ analysiert werden, erhalten auch Aussagen wie jene des Innenminister Kickls zu „Konzentration“ eine zusätzliche Bedeutung.
Neben der faschistischen tritt auch die tagespolitisch strategische Bedeutung von rassistischer Hetze deutlich hervor.
Strategisch, weil Aufmerksamkeit von viel kritisierten Änderungen zum Beispiel im Bereich Mindestsicherung durch polarisierende Themen wie Migration abgelenkt werden kann.
Strategisch, weil sich aufbauende Kritik aus den Reihen von FPÖ-Wähler*innen durch denselben Mechanismus von der Ausrufung von Bedrohungsszenarien und hart durchgreifenden vermeintlichen Lösungen beschwichtigen lässt. Strategisch, weil Rassismus die hegemonial weiße Nation mithilfe eines migrantischen Feindbildes vereint.
Anja Svobodovna
(1) https://derstandard.at/2000072175894/Asylwerber-konzentriert-halten-Was-bewegt-FPOe-Politiker-zu-diesen-Aussagen
(2) Das Regierungsprogramm ist im Volltext hier verfügbar: https://www.bundeskanzleramt.gv.at/documents/131008/569203/Regierungsprogramm_2017%E2%80%932022.pdf/b2fe3f65-5a04-47b6-913d-2fe512ff4ce6
(3) Klare Überlappungen (inkl. wortwörtliche Zitate) zwischen Regierungsprogramm und dem Forderungskatalog der Industriellenvereinigung an die Regierung können unter folgenden Links nachgelesen werden: https://www.die95prozent.at/aufgedeckt-regierungsprogramm-von-bonzen-und-immobilienhaien-abgeschrieben/
(4) Ausführlichere Artikel zu den geplanten Änderungen an der Mindestsicherung: https://mosaik-blog.at/schwarz-blau-regierungsprogramm-gemeinheiten-mieten-mindestsicherung-abtreibung-zwangsarbeit/
http://reflektive.at/regierungsprogramm/mindestsicherung-viel-laerm-um-peanuts
(5) Ausführlicher zu Kindergärten: http://reflektive.at/regierungsprogramm/elementare-luecken-in-der-elementarpaedagogik/#more-239
(6) https://derstandard.at/2000071489594/Strache-will-Asylwerber-in-Wien-in-Kasernen-unterbringen
https://derstandard.at/2000070661775/Gudenus-will-Asyl-Massenquartiere-am-Stadtrand-von-Wien
(7) Detaillierter Artikel zu den Änderungen im Bereich IT und Datenschutz: https://mobil.derstandard.at/2000070494894-2000070496531/regierungsprogramm-oevp-fpoe-kurz-strache-ueberwachung
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Kritisches Magazin mit weiter Bandbreite an feministischen Artikeln zu unterschiedlichen, unter anderem tagespolitischen Themen. Siehe Artikel von Lea Susemichel auf dieser Seite.
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