Simon Schaupp: Der kurze Frühling der Räterepublik. Ein Tagebuch der bayerischen Revolution, Unrast Verlag, Münster 2017, 304 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-89771-248-5
Die Bayerische Räterepublik ist ein Kapitel der deutschen Geschichte, bei welchem schulübliche Geschichtsbücher gerne mal die direkte Abkürzung vom Ersten Weltkrieg zur Weimarer Republik nehmen. Es scheint weder so recht in die bundesdeutsche Geschichtsschreibung noch zu dem Selbstverständnis des CSU-Freistaates zu passen, dass das „behäbige Völkchen am Rande der Alpen“ (1) eine – zugegeben kurzlebige – Räterepublik errichtete. So wirklich richtig ist das ja auch nicht, schließlich lässt sich kein „Volk“ ausmachen, welches mit geeinten Kräften und den gleichen Mitteln dasselbe Ziel angestrebt hätte.
Hier kommt das Werk „Der kurze Frühling der Räterepublik. Ein Tagebuch der bayerischen Revolution“ von Simon Schaupp zum Zuge. Anhand drei ausgewählter Persönlichkeiten, welche jeweils einer eigenen Strömung innerhalb des räterepublikanischen Lagers anhängen, zeichnet Schaupp die Chronologie der Räterepublik nach. Als personelle Besetzung dient einerseits Erich Mühsam, der zu diesem Zeitpunkt bereits als libidogetriebener Salonanarchist, Kriegsgegner, Schriftsteller und Berufsrevolutionär Bekanntheit erlangt hat. Andererseits ist da die rebellische Hilde Kramer, welche als kommunistisch geprägte Schülerin den Lebensweg einer KPD-Funktionärin einschlägt. Dazu gesellt sich der sensible Frontsoldat Ernst Toller, welcher frisch in die Heimat zurückkehrt, in die USPD eintritt und einen Teil der bayerischen Roten Armee kommandieren wird.
Simon Schaupp erfindet mit seiner detaillierten chronologischen Erzählung der Abläufe das Rad nicht neu. Viele Inhalte sind bereits in Tollers „Eine deutsche Jugend“, dem „Autobiographischen Fragment“ von Hilde Kramer und in den Tagebüchern Erich Mühsams zu finden. Der besondere Reiz liegt in der Verschränkung der Lebenswege der drei Protagonist*innen und ihren Beziehungen zueinander. Die Biographien weisen über die unmittelbare Zeit der Räterepublik hinaus und gehen auch auf spätere Berührungspunkte und Abgrenzungsmomente ein. Andere Geschichtsschreibungen ergehen sich in anonyme und blutleere Aneinanderreihungen von Ereignissen. Schaupp liefert das Gegenteil: Er macht die Geschichte lebendig und holt sie aus den verstaubten Allgemeinplätzen archivierter anarchistischer Sternstunden hervor. Sein innovatives Vorgehen ist das zentrale Alleinstellungsmerkmal des Buches.
Der Autor teilt das Buch und damit den Verlauf der Geschichte in fünf Abschnitte. Es beginnt mit dem Vorgeplänkel des Friedensstreiks, anschließend wird ein Kapitel lang die Monarchie gestürzt. Es folgen die „Räterepublik, libertär-sozialistisch“ und „Räterepublik, kommunistisch“. Das Ende erfolgt durch die „Niederschlagung“. (2)
Die Handlung ist nicht auf den unmittelbaren Schauplatz der Revolution oder das räterepublikanische Lager begrenzt. Schaupp schaut auch auf die SPD-Realpolitik in Berlin und auf die rechtsradikale Thule-Gesellschaft, welche sich als Vorbotin des Nationalsozialismus in München formiert. Dadurch setzt er die Räterepublik in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang.
Neben den bekannten politischen Gruppen und Parteien wie SPD, USPD und Spartakusbund liefert Schaupp auch die Debatten und Aktionen von weniger bekannten Organisationen. Die strömungsübergreifende Vereinigung Revolutionärer Internationalisten (VRI) und der Bund Sozialistischer Frauen (BSF) seien hier nur stellvertretend genannt. Die Vorstellung des BSF mit seinen internen Debatten ist besonders spannend und erhellend: Soll man als Frau das frisch erworbene Wahlrecht nutzen oder entscheidet man sich doch für den Wahlboykott? Die anfängliche Skepsis, dass hier ein Mann eine Geschichte über Männer für Männer erzählen würde, ist jedenfalls gewichen. Allgemein sind es die feinen Zwiespälte der Revolutionäre, die das Lesen spannend halten: Wie weit darf man die Presse zensieren? Wie staatsmännisch-taktierend muss man handeln? Welches Maß an Herrschaft ist im revolutionären Treiben notwendig?
Wo immer es möglich ist, lässt Schaupp die Protagonist*innen selbst zu Wort kommen. Ansonsten dominiert eine klare, nüchterne, deskriptive Sprache, die sich manchmal darin verliert jeden noch so kleinen dokumentierten Winkelzug und jedes überlieferte Detail anzuführen. Das kann man als Genauigkeit wertschätzen, aber mögen muss man es nicht.
Eine dezidierte oder allgemeine Kritik an der Gewalt als Mittel sucht man vergebens. Das ist auch nicht Schaupps Anliegen. Die Frage von Gewalt und Gewaltlosigkeit kommt eher zwischen den Zeilen zum Tragen – beispielsweise als innerer Konflikt Tollers, welcher als Kriegsgegner eine militärische Abteilung befehligt. Dennoch ist es auffallend, dass die Gewalt eher missbilligt wird, wenn diese durch das konterrevolutionäre Lager zur Anwendung kommt. Auch nach der sachlichen Darstellung der Mehrheits-SPD kann man kein gutes Wort mehr für sie übrig haben. Die Doppelzüngigkeit der SPD hat geradezu Potential für eine kabarettistische Verarbeitung. Schade und bezeichnend, dass Erich Mühsam seinen „Revoluzzer“ bereits elf Jahre zuvor verfasst hat! (3)
Eine zentrale Kritik nimmt Schaupp direkt in seinem Vorwort auf: Mit der Wahl Mühsams, Tollers und Kramers kommen „nicht die Arbeiterinnen und Arbeiter zu Wort, [ ] sondern die Intellektuellen“ (4). Damit hat er Recht und der Punkt wiegt durch diese Erkenntnis nicht weniger. Es ist jedoch fraglich, ob ein weiteres strömungsübergreifendes Trio der Räterepublik, welches sich dazu noch aus der Arbeiterschaft rekrutiert, ausfindig gemacht werden kann. Mit anderen Worten: Es ist unwahrscheinlich, dass die Quellen von nicht-intellektuellen Räterepublikanern, über vier politische Systeme hinweg erhalten wurden, um die Geschichte so lebendig schreiben zu können, wie Schaupp es tut.
Seit digitale Lesegeräte den physischen Büchern auf den Nachttischen Konkurrenz machen, avanciert die Haptik eines Buches zum Verkaufsargument. Hier punktet das Werk nicht: Der Hochglanz-Kunststoffeinband will nicht richtig in der Hand liegen und einige Seiten sind in der Produktion nicht voneinander abgetrennt worden, sodass man dem Buch beim Umblättern nichtsahnend tiefe Einschnitte beschert. Da ist man vom Hause Unrast bessere Qualität gewohnt. Das Gleiche gilt für das heillos überfrachtete Cover: Ein theoretisch interessantes Konzept, welches in der Praxis optisch nicht punktet. Diesem ästhetischen Fauxpas steht eine ausklappbare historische Karte der Stadt München entgegen, auf der alle wichtigen Schauplätze der Handlung eingezeichnet sind. So können sich Ortsfremde einen besseren Begriff des Raumes machen, was ungemein zum Verständnis beiträgt. Ebenso hilfreich ist das umfangreiche, übersichtliche Personenglossar.
Ohne Geschichte hat Politik keinen Bezugspunkt. Diesen kann man langweilig herunterbeten oder spannend aufbereiten. Letzteres kostet Mühe, doch dieser Mehraufwand ist gut angelegt. Das Werk ist ein Gegenpol zu den Stimmen einiger nordamerikanischer Anarchist*innen, welche fordern „die Männer mit den Bärten“ zu vergessen.(5) Das wäre ein großer Fehler!
Schaupp hat eine fast vergessene Episode deutscher Geschichte ansprechend aufbereitet ohne eigene Wertungen zu deutlich einfließen zu lassen. (6) Sein Buch ist eine gute Grundlage eigene Schlüsse aus dem Aufbau und Niedergang der Räterepublik zu ziehen.
(1) Schaupp S. 11
(2) Es folgt mit dem Epilog gewissermaßen ein sechstes Kapitel, welches nach der Räterepublik spielt und die auseinanderlaufenden Lebenswege behandelt.
(3) "Der Revoluzzer" ist ein Chanson von Erich Mühsam aus dem Jahr 1907. Darin kritisiert er die Politik der SPD. Der Text ist im Internet frei einsehbar. Siehe auch GWR Nr. 235.
(4) Schaupp S. 14
(5) So ein Aufruf von crimeth.inc aus dem Jahr 2010: "Vergesst die Geschichte des Anarchismus als Idee' - vergesst die Männer mit den Bärten!"
(6) Das deutlichste Statement in diesem Kontext ist Schaupps Aussage, dass "es keineswegs die Kämpfe zwischen links und rechts, die der Weimarer Republik das Grab schaufelten, sondern eben dieses Bündnis aus Sozialdemokratie, Reichswehr und rechtsextremen Freikorps, die 1918 eigentlich bereits geschlagen waren". Schaupp S. 282