Ulf Kadritzke: Mythos "Mitte". Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage. Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2017, 104 Seiten, 7,90 Euro, ISBN 978-3-86505-746-4
Als mein Jahrgang im Jahr 1994 in einer „Satire auf das kommerzielle Fernsehen“ einen Politiker einer neuen Partei „Extreme Mitte Deutschlands“ in der Schulaula auftreten ließ, war das als Scherz gemeint. Nur kurz darauf führte der Soziologe Wilhelm Heitmeyer den bereits aus dem Jahr 1959 stammenden Begriff „Extremismus der Mitte“ wieder in die politische Diskussion ein. Mit dem „Extremismus der Mitte“ hatte 1959 Seymor Martin Lipset die These untermalt, dass vor allem die Mittelschicht für den historischen Faschismus zugänglich war. Etwa ein Jahrzehnt später sang der libertäre Liedermacher Baxi (vgl. Interview in GWR 426) entsprechend „Und wir rücken langsam in die Mitte und die Mitte die marschiert nach rechts“ (leider immer noch unveröffentlicht, obwohl brandaktuell).
Die beiden kulturellen Thematisierungen fokussieren die politische „Mitte“, wobei der soziologische Sprachgebrauch schon darauf hinweist: Es geht um einen Rechtsextremismus, der sich in einer vermeintlich sozialen „Mitte“ entwickelt. Was eine politische „Mitte“ ist, liegt immer auch im Auge der Betrachtenden – Mitte, das klingt so schön diplomatisch, nicht-extrem oder auch nicht-radikal und ist nicht nur eine Frage der Selbstwahrnehmung, sondern auch, wie der oder die Einzelne die Gesellschaft wahrnimmt: Wenn ich davon ausgehe, dass die breite Mehrheit so denkt wie ich, dann fasse ich das als normal, also „so Mittel“ auf. Und so kommt es auch, dass sich von Bankmanager*innen bis hin zu prekär Beschäftigten alle auch sozial in der Mitte wähnen – man ist nicht nur politisch „nicht extrem“, man möchte sich auch sozial in der Mitte der Gesellschaft verorten.
Soweit, so vielleicht noch nachvollziehbar. Problematisch wird es, wenn die Soziologie diesem Mitte-Begriff des Alltagsverstands folgt (vgl. S.62). Und das tut sie, selbst in kritischen Veröffentlichungen, andauernd. Das ist problematisch, weil dieser Mitte-Diskurs tatsächliche soziale Klassenzugehörigkeiten vergessen lässt und zu einer „eilfertige[n] Vermischung von sozialstruktureller und politischer Mitte“ (S.52) führt. Schauen wir uns beispielhaft die immer wieder gerne gestellte Frage nach der Wählerschaft der AfD an: Soweit nicht fernab von Statistiken behauptet wird, die Prekären würden diese wählen (tatsächlich wählen diese zunehmend überhaupt nicht), finden wir Verwirrung darüber, dass eine soziale „Mitte“ politisch extrem werden kann – dabei ist das, wie historische Analysen zur Wählerschaft der NSDAP zeigen, gar nichts Neues. Deshalb hat das auch schon die Soziologen der Weimarer Republik interessiert – und sie waren dabei weiter als es die Soziologie heute ist. Ulf Kraditzke macht dies in seinem Büchlein deutlich anhand der Untersuchungen der zeitgenössischen Soziologen Theodor Geiger, Carl Dreyfuss, Hans Speier sowie Siegfried Kracauer. Allesamt gelten die genannten als Koryphäen einer „Angestelltensoziologie“. Und damit ist ein wesentlicher Kurzschluss in der „Mitte“-Debatte, wie sie auch heute geführt wird, benannt: Die vermeintliche „Mitte“ sind die lohnabhängigen Kopfarbeiter*innen. Die Weimarer Soziologie zeigt deutlich auf, dass das eine rein ideologische Konstruktion ist – sie basiert auf einem schon damals überkommenen Begriff eines selbstständigen Mittelstands, der heute erst recht keinen realen Hintergrund mehr hat. So betont etwa Carl Dreyfuss 1933, die Angestellten würden „vor der Klassenzugehörigkeit unter das Obdach dieser fiktiven sozialen Schicht“ fliehen (S.30), Hans Speier verweist im gleichen Jahr (veröffentlicht erst 1977) „die These vom neuen Mittelstand ins Reich der Ideologie“ (S.33) und mit Siegfried Kracauer versteht Kraditzke die Sehnsucht der Angestellten danach, „Mitte“ zu sein, als eine „in der Hierarchie der betrieblichen Funktionen wurzelende Fremdheit gegenüber dem […] Proletariat“ (S.39). Kurz: Die „Mitte“, und das wussten die Weimarer Soziologen besser als die heutigen, ist eine mentale Identität, keine Klasse.
Wenn heutige Forschungen diesen feinen Unterschied‘ nicht mehr machen, so wiederholen sie einen Fehler, den man auch marxistischen Sozialwissenschaftler*innen machen kann: „Man soll nicht Bevölkerungsmassen als eine Schicht, Klasse oder Stand bezeichnen, weil man ihnen eine geschichtskonstruktiv geforderte Funktion im gesellschaftlichen Lebensprozeß zuschreiben möchte“ (Geiger, zit. n. S.43). Kurz: weil man von Angestellten andere politische Reaktionen als von „Handarbeitern“ erwartet, forscht man eine „Mentalitätskluft“ herbei (S.80) und übersieht dabei, Bourdieu herbeirufend und Marx vergessend, dass „Ausprägungen der konkreten Klassenverhältnisse und […] Milieus […] sich zum Teil dramatisch unterscheiden“ (S.81).
Die kritische Soziologie hat tendenziell die sozialen Differenzen in der Produktion und Reproduktion vergessen und jagt nun Phantome, so Kraditzke, die „einem Denken in Kategorien der kulturellen Differenz“ (S.58) entspringen – „auf der Suche nach [diesen, T.B.] Differenzierungen“ geraten die „übergreifenden Klassenverhältnisse aus dem Blick“ (S.59).
Fazit, und das sei allen Modernisierungsansätzen von Klassendiskussionen (etwa der Klassismus-Theorie) ins Stammbuch geschrieben: „Die […] Klassenstruktur […] erschließt sich nach wie vor nur über die kapitalistischen Produktionsverhältnisse“ (S.72) – und die, so scheint es, lassen leider nach wie vor sowohl die Soziologie als auch die aktivistische Linke immer noch ziemlich kalt.