Louise Michel: Memoiren. Hrsg. von Jörn Essig-Gutschmidt. Klassiker der Sozialrevolte, Band 27, Unrast Verlag, Münster 2017, 368 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-89771-925-5
Louise Michel (1830-1905), Kommunardin und die wohl bekannteste Anarchistin des 19. Jahrhunderts, ist gewissermaßen eine Sehnsuchtsfigur der Revolte: weiblich, unabhängig, radikal und charismatisch. Schon zu Lebzeiten wurde sie zur Ikone, als „rote Jungfrau“ besungen von Victor Hugo, als unbeugsame Gefangene gemalt von Jules Girardet.
Hinter der Projektion die echte Person zu entdecken, ist niemals leicht. In diesem Fall ist es aber besonders schwer, weil neben den vielen Imaginationen über Louise Michel von ihr selbst kaum eigene Texte überliefert sind. Sie war Aktivistin, nicht Autorin, sie bevorzugte das gesprochene Wort vor dem geschriebenen.
Daher ist es kein Wunder, dass ihre Memoiren, die sie in den 1880er Jahren im Gefängnis verfasste, von besonderem Interesse sind. Sie sind allerdings auch keine ganz einfache Lektüre. Louise Michel schreibt assoziativ, in Geschichten, springt bei der Schilderung von Ereignissen in der Zeit vor und zurück, kurz: Sie liefert alles Mögliche, aber eben genau keine kohärente Erzählung des eigenen Lebens.
Immer wieder standen Herausgeber deshalb vor der Frage, wie sie dieses Material aufbereiten sollen. Frühere Ausgaben haben meist versucht, durch Kürzungen, Umstellungen und ergänzende Zusätze ein halbwegs kohärentes Textgebilde zu schaffen, oft sogar, ohne das zu kennzeichnen. Diese Neuausgabe greift hingegen so wenig wie möglich in den ursprünglichen Text ein, hilft aber mit zahlreichenden erläuternden Fußnoten beim Verständnis des Textes.
Was mehr als notwendig ist, denn Louise Michel schreibt für ein zeitgenössisches Publikum, sie setzt also vieles an Informationen voraus, das man heute gar nicht wissen kann.
Wer von der Lektüre „Memoiren“ im üblichen Sinne erwartet, wird aber nicht nur vom unsystematischen und assoziativen Schreibstil überrascht sein, sondern möglicherweise auch vom Inhalt etwas enttäuscht. Denn das, was viele wohl am meisten von Louise Michel hören wollen – eine Analyse der Ereignisse der Pariser Kommune nämlich – fehlt fast völlig. Das ist einerseits überraschend, andererseits aber vielleicht auch nicht, weil Louise Michel zwar im nachhinein zur berühmtesten Kommunardin stilisiert wurde. Zu jener Zeit selbst war sie aber keineswegs die wichtigste. Anders als viele andere Kommunardinnen, die aus feministischen oder sozialistischen Bewegungen kamen, hat sich Michel eigentlich erst während der Kommune so richtig politisiert. Zur Anarchistin ist sie auch erst später geworden, während der Kommune selbst gehörte sie noch zum Flügel der Blanquisten.
Genauso wie ihr Lebensgefährte aus dieser Zeit, Théophile Ferré, der nach der Kommune hingerichtet wurde. Auch über diese Beziehung – die einzige heterosexuelle Liebesbeziehung Michels, von der wir wissen – erfahren wir in den Memoiren kaum etwas, lediglich einige Hinweise zu den Umständen von Ferrés unglücklicher Verhaftung.
Was ihre persönlichen Beziehungen betrifft, so sind Louise Michels Memoiren vollständig von denen zu Frauen geprägt. An aller erster Stelle steht dabei die Beziehung zu ihrer Mutter, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht. Das Verhältnis muss außerordentlich eng gewesen sein, alles, was Michel über ihre Mutter schreibt, ist von großer Zuneigung und Dankbarkeit geprägt. Aber noch viele andere Frauen spielen Hauptrollen in Michels Erinnerungen: Großmutter und Tanten, die Freundin, mit der sie nach Paris ging, die Schulleiterin, bei der sie ihre erste Anstellung als Lehrerin fand und mit der sie später selbst eine Schule gründete, ihre Schwägerin Marie Ferré, später die Frauen, die mit ihr im Gefängnis waren oder ebenso in die Verbannung nach Neukaledonien geschickt wurden. Insofern ist das Buch auch ein wichtiges Dokument über Frauennetzwerke und ihre Bedeutung zur damaligen Zeit.
Ergänzt wird der Band durch Abschriften von Zeitungsartikeln, Gedichte und Prozessberichte. Auch solche Quellen machen die Lektüre natürlich nicht unbedingt leichter, aber wenn man den Band einfach zum Schmökern heranzieht ohne den Anspruch, jedes Detail sofort zu verstehen, gewinnt man einen wirklich interessanten Einblick in das Leben und vor allem in die Gefühlswelt der „echten“ Louise Michel.