Keiner seiner "Lebensfäden", so schrieb Ekkehart Krippendorff in seiner gleichnamigen Autobiographie, durchziehe seine Biographie so sehr wie das Theater, weder Literatur noch Musik, weder sein Studium noch sein Berufsleben. Von der Bühne her, "vom Schauspiel, aber auch vom Musikdrama, der Oper" (LF, 71) her, setzte er sich mit Leben und politischen Inhalten auseinander. Das Theater war ihm "ein Lebensmittel".
Das hat sicher auch einen bildungsbürgerlichen Hintergrund, er begriff das Theater aber vor allem emanzipatorisch. Zunächst war er gewissenhafter Theaterbesucher nicht nur im Nachkriegs-Westdeutschland, besonders in Düsseldorf und Berlin, sondern auch in New York, London oder Italien – gewissenhaft deshalb, weil für ihn zu jedem Theaterbesuch das vorherige Lesen des Stückes und das Nachbereiten des Gesehenen mittels des Programmheftes gehörte. Ab 1997 und nach seiner Emeritierung war er ebenso gewissenhafter wie leidenschaftlicher Theaterkritiker und veröffentlichte seine Kritiken im „Freitag“, im „Neuen Deutschland“ oder in der „Süddeutschen Zeitung“. Im Gegensatz zur herkömmlichen Theaterkritik galt ihm dabei der Grundsatz: „Erst das Stück, dann seine Bühnen-Verwirklichung.“ (LF, 109)
Mehr als 1000 Seiten Theaterkritiken, aufbewahrt in zehn Ordnern, haben sich bei ihm angesammelt, die ich in den letzten Jahren auf eine Veröffentlichung hin sichten durfte. Im Buchverlag Graswurzelrevolution werden wir – nun leider erst nach seinem Tod – einen Band mit ausgewählten Theaterkritiken von Ekkehart Krippendorff veröffentlichen.
Er liebte die Stücke von „Größen“ wie Brecht, Shakespeare, Goethe, Molière, Tschechow, Ödön von Horváth, Heiner Müller, aber auch die vielen kleinen und großen Off-Theatergruppen wie etwa das Living Theatre mit Judith Malina, das er in New York besuchte, oder etwa auch die Berliner Compagnie, die 1981 aus der Friedensbewegung hervorging. Es ist schwer, aus seinen oft mit Begeisterung vorgetragenen Theatererlebnissen eines beispielhaft herauszuheben. Ich habe mich hier für sein Erleben von Dario Fo, der sich zugleich als Clown und Anarchist begriff, für uns vielleicht am ehesten bekannt durch seine Stücke „Zufälliger Tod eines Anarchisten“ oder „Bezahlt wird nicht!“, und dessen Zusammenarbeit mit Franca Rame entschieden. Es folgen also nun ein Auszug aus Krippendorffs Autobiographie (LF, 100f.) zu Fo/Rame, danach eine Theaterkritik zu einem Auftritt von Dario Fo 2010 in Berlin als Vorabdruck aus Krippendorffs voraussichtlich im Frühsommer 2018 im Verlag Graswurzelrevolution erscheinendem Band mit Theaterkritiken. (Lou Marin)
Ekkehart Krippendorff über Dario Fo und Franca Rame in Italien
Ein strahlender Doppel-Stern aber leuchtete in diesen Jahren [seines Aufenthalts in Bologna und Urbino in Italien 1969-1978] an unserem Theaterhimmel, der erst jetzt langsam aber noch immer leuchtend am Horizont versinkt: Dario Fo mit Franca Rame. Ihm verdanken wir [E. Krippendorff und Eve Slatner] das schönste und faszinierendste Theater überhaupt. Was Brechts viel zitierter „Verfremdungseffekt“ ist, das wurde auch in der Spielweise des Berliner Ensembles nie so schlagend deutlich, wie ihn Dario Fo geradezu natürlich auf der Bühne lebte. Er kommentierte, ständig aus der Rolle fallend, sich selbst und das Stück und konnte, wenn etwa im Saal Unruhe entstand – und die gab es in den unruhigen Zeiten der Siebzigerjahre ständig – sich unterbrechen, um Ruhe bitten, um dann dieselbe Szene noch einmal zu spielen, sodass von Illusionstheater und „Identifikation“, der von Brecht so leidenschaftlich bekämpften traditionellen Zuschauerhaltung, auch nicht im Entferntesten die Rede sein konnte. Bei Dario war man sich zu jeder Sekunde bewusst, dass er Theater, dass er eine Rolle, oder auch mehrere gleichzeitig, spielte und vorführte. Besonders dramatisch sein Stück über den Militärputsch in Chile („Guerra del popolo in Cile“), September 1973, mit dem seine Truppe „La Comune“ schon im Dezember auf Tournee ging – und das „rote Bologna“ war natürlich einer der wichtigsten Spielorte:
Wir befinden uns in einem großen Saal an der Peripherie. Plötzlich, mitten im Stück, geht das Licht aus, Unruhe im Saal, Dario ruft nach einer Taschenlampe, jemand wird ans Telefon geschickt – so könne man doch nicht weiterspielen, unerhört sei das – Unruhe – der Mann kommt zurück: Alle Telefonleitungen sind tot. Für einen kurzen Augenblick sind alle davon überzeugt: Das ist er, der seit Monaten auch in Italien befürchtete Staatsstreich (eine Furcht, die 1972/73 alles andere als unbegründet war). Dann aber geht das Licht wieder an und Dario erklärt alles – das Spiel, das fast ernst geworden wäre und dessen Ernst nun erst recht deutlich geworden war, wird zu Ende gebracht.
Dario Fo und Franca Rame waren damals außerhalb Italiens so gut wie unbekannt (nur die amerikanischen Geheimdienste kannten Fo natürlich als Kommunisten und Revolutions-Theatermacher bestens und erteilten ihm noch Mitte der Siebzigerjahre für lange Zeit Einreiseverbot). Lebendigeres, publikumsnäheres und zugleich kritisch engagierteres Theater als dieses ist schwer vorstellbar.
Ekkehart Krippendorff: Der Clown
Dario Fo: „Die Welt, wie ich sie sehe“. Inszenierung: Dario Fo; im Berliner Ensemble (Februar 2010) (1)
Die schlechte Nachricht vorweg: Franca Rame war erkrankt und musste ihrem Lebenspartner die Bühne allein überlassen. Aber was für eine Bühne der daraus machte! Der Abend war gedacht als eine Art Vorspiel zu dem am Berliner Ensemble geplanten aktuellen Stück Dario Fos zur Finanzkrise – und es wurde daraus ein Lehrstück des Vollblut-Theaters, des Komödiantentums aus dem Geiste rebellisch-witziger Volkskultur, wie es auf den öffentlichen Plätzen, zu Markttagen und Messen der Shakespeare-Zeit gezeigt wurde.
Hausherr Claus Peymann hatte sich ein schönes, ein ordentliches Programm mit Lesung übersetzter biographischer Texte und Gesprächen mit den beiden berühmten italienischen Gästen vorgenommen. Er hatte vermutlich nicht den kurzen Abschnitt aus der Nobelpreis-Rede Fos gelesen: „Ich bin nicht mit der Idee zum Theater gegangen, Hamlet zu spielen, sondern mit der Absicht, ein Clown zu sein, ein Hanswurst.“ Denn was geschah, war, dass der geniale, quicklebendige vierundachtzigjährige Theatermann wie selbstverständlich die Bühne übernahm und sie sich auch nicht mehr aus der Hand nehmen ließ, als Peymann gegen den Protest des Publikums kläglich bei dem Versuch scheiterte, sein Programm durchzusetzen – Dario Fo machte einfach weiter.
Welch ein Vulkan an Energie! Wie selbstverständlich er aus der Rolle des autobiographischen Erzählers in die des Komödianten schlüpfte und dann wieder zurück: Brecht, in dessen Theater sich dieses kleine, nein große Theaterwunder abspielte, hätte seine Freude daran gehabt, wie hier ein Schauspieler ohne den ganzen intellektuellen Theorie-Aufwand des Verfremdungs-Theaters ganz natürlich seine Rollen ohne jede Identifikation zeigte und damit unserem vergleichsweise ausgebluteten deutschen Theater eine Lektion über Schauspielkunst erteilte. Fo und Rame sind die möglicherweise letzten DNA-echten Erben der europäischen Komödiantentradition.
Gewissermaßen nebenbei erzählte Fo seine Geschichte des Theaters, die mit der italienischen Gegenreformation beginnt, als die Kirche systematisch nicht nur die besten Philosophen, Intellektuellen und Wissenschaftler vertrieb, sondern auch ihre Schauspielertruppen: Über einhundert soll es in dem damals Zwölfmillionenvolk gegeben haben – das heutige Sechzigmillionen-Italien hat nicht einmal einen Bruchteil davon. Und wohin gingen die exilierten Komödianten? Nach Frankreich vor allem, aber auch nach Spanien, England, Deutschland. Und sie spielten dort notgedrungen nicht nur Texte, sondern mit ihren Körpern, mit Rhythmus, Musik, Tanz und Akrobatik, sie erfanden eine Sprache aus Gestik und Worten jenseits der Schrift, wie sonst konnten sie kommunizieren! Und nicht zuletzt brachten sie Frauen auf die Bühne – eine wahre Kulturrevolution!
Wie Dario Fo diese Theatergeschichte erzählt, wird sie selbst zum Theater – so seine anschauliche Ein-Mann-Schilderung der Turbulenzen einer gewöhnlichen Theatervorstellung oder die Geschichte eines extrem reichen Mannes am Hofe Ludwigs XIV., Besitzer von zwei Dritteln aller Zeitungen, der sich, aufgeplustert wie ein barocker Pfau, entschließt, in die Politik zu gehen (eine solche Figur wäre in Italien natürlich völlig undenkbar und lächerlich…) und der sich dann, von seinem riesigen Mantel getragen, in die Lüfte erhebt – um tief abzustürzen. Und dann die Volte: Überall im Ausland werde er gefragt: „Und Berlusconi?“ Die Antwort: „Ich habe ihn gewählt, ich bin für ihn verantwortlich, weil niemand sonst den Mut hat, es zuzugeben.“ Donnernder Applaus – wie überhaupt jede Szene das ausverkaufte Haus zu Beifallsstürmen hinreißt.
Ein unvergesslicher, einzigartiger Abend im Theater – so alle begeisternd, dass Claus Peymann gar nicht anders konnte, als zu versprechen: Dario Fo – und dann mit Franca Rame – werden baldmöglichst wieder eingeladen. Man wird ihn daran erinnern!
Ekkehart Krippendorff
(1) Diese Theaterkritik erschien ursprünglich in: "Neues Deutschland", 22. Februar 2010.
Buchhinweis
Dario Fo (mit Giuseppina Manin): "Die Welt, wie ich sie sehe. Die Autobiografie", Rotbuch Verlag, Berlin 2008.