memorial

In memoriam Ekkehart Krippendorff

Von der Friedensforschung zur Staats- und Militärkritik

| Lou Marin

Ekkehart Krippendorff, geb. 1934 in Eisenach, hat den Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs als acht- bis elfjähriger Junge noch bewusst miterlebt. Ekkehart war ein urgermanischer, typischerweise in Nazifamilien verliehener Vorname: "Teutscher als mit zwei KK und dem T am Ende ging es kaum" (Lebensfäden, S. 459, im Folgenden LF). Die Scham darüber war für ihn eine Antriebsfeder, in seinem weiteren Leben einen ganz anderen Weg einzuschlagen. Er wurde zum Mitbegründer der kritischen Friedensforschung und publizierte auch für AnarchistInnen unverzichtbare Werke zur Staats- und Militärkritik. Sein gesamtes weiteres Leben lang blieb er unbeugsamer Kriegsgegner - eine beeindruckende Konsequenz, mit seiner Kindheitserfahrung produktiv umzugehen.

Als Junge war er durchgängig systemkonform, in seinem jugendlichen Erleben gab es nur den Krieg und etwas anderes als der Endsieg war unvorstellbar. 1944 war er im NS-Jungvolk und trug Uniform, bei Ausflügen sang er die brutalsten und hässlichsten Nazi-Lieder mit – später, als ihm der Wortlaut bewusst wurde, den er da grölte, hatte er vor Scham stundenlange Weinkrämpfe. Anfang 1945 wurde er gar noch zum „Volkssturm“ eingezogen. Eine Panzerfaust durfte er zwar nicht selbst bedienen, war aber bei Übungen dabei und „phantasierte“ sich lebhaft in die Situation hinein. Kritikfähigkeit entwickelte Ekkehart erst nach der Befreiung. Er und seine Jugendfreunde waren ideologisch verblendet; Hitler hatte die Jugend gewonnen, bis zum bitteren Ende:

„1959 kam Bernhard Wickis Film ‚Die Brücke‘ in die Kinos, und obwohl die Jungs dort um die fünf Jahre älter sind als ich es damals war, hat dieser Film die damalige Situation in allen atmosphärischen Einzelheiten und Einstellungen mit unheimlicher Genauigkeit getroffen: Genauso waren wir, genauso war ich, genauso war es.“ (LF, 39)

Die erste Infragestellung der verinnerlichten NS-Ideologie kam unmittelbar mit dem Einmarsch der US-Armee im Dorf Schwanebeck, nahe des ausgebombten Halberstadt: „Wann immer der endlos scheinende Zug ins Stocken geriet, warfen uns die Soldaten lässig Kaugummis und auch wohl schon mal ein Stück Schokolade zu. (…) Da schmolz mein Feindbild wie Butter an der Sonne. Ich muss unbewusst gespürt haben: Das waren unsere Befreier und keine triumphierenden Sieger.“ (LF, 42f.).

Von den Anfängen der „Friedensforschung“ bis zu „Staat und Krieg“ (1985)

Erst in seinen Amerika-Jahren wurde Ekkehart Krippendorff erneut mit dem Krieg konfrontiert, diesmal in Form des Vietnamkrieges der US-Armee, deren ursprüngliches Bild ihm doch in so freundlicher Erinnerung blieb. Direkt nach seiner Rückkehr nach Europa, im Oktober 1963, nahm Krippendorff in Wien an einer noch von der New Yorker „Peace Research Society“ organisierten Tagung teil und lernte dort den norwegischen Friedensforscher Johan Galtung kennen.

„Als er [Galtung] im Herbst 1964 durch Berlin kam, lud ich einige Studierende zu mir nach Hause ein und ließ ihn seine Vorstellungen zu dieser aufregend und faszinierend klingenden neuartigen Disziplin ‚Friedensforschung‘ entwickeln; er hat uns alle angesteckt – und damit wurde, das dürfte kaum zu hoch gegriffen sein, die Friedensforschung in Deutschland begründet.“ (LF, 54)

1968, mitten in der Revolte, publizierte der Verlag Kiepenheuer & Witsch eine neue wissenschaftliche „Gelbe Reihe“ – in dem Rahmen war Jürgen Habermas für die Sammelbände der „Abteilung Soziologie“ zuständig (LF, 54). Dort gab Krippendorff einen ersten Sammelband „Friedensforschung“ heraus. (1) Die „Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung“ (DGFK) wurde gegründet, Galtung entwickelte seinen Begriff der „strukturellen Gewalt“. Die Friedensforschung wurde zwar nie zu einem universitär eigenständigen Fach, aber es entstand, so Krippendorff, „ein großes moralisch-politisches Potential“, das dann bei der Auseinandersetzung um die Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Westeuropa Anfang der Achtzigerjahre und bei der dagegen entstehenden massenhaften Friedensbewegung zum Tragen kam:

„Jetzt zahlte es sich aus, dass es eine Friedensforschung gab. Die kleine Gemeinde ihrer akademischen Pioniere war plötzlich gefragt und wir hatten auch etwas zu sagen“ (LF, 57). Der baden-württembergische Ministerpräsident Späth setzte das Buch „Friedensforschung“ 1983 auf den Index, von Bayern aus (Kultusminister Hans Maier) wurde erfolgreich die Auflösung der DGFK betrieben.

Krippendorff aber gingen die Erklärungen für den Rüstungswettlauf, die sich auf den Kalten Krieg und die Blockkonfrontation bezogen nicht weit genug Sie hielten sich an Symptomen auf und stellten das „institutionalisierte Militär-Gewalt-Regiment“ (LF, 59) nicht in Frage. Nach Seminaren und Vorlesungen zur Untersuchung der Rolle des Militärs bei der historischen Herausbildung des modernen Staates veröffentlichte Krippendorff 1985 bei Suhrkamp sein Buch „Staat und Krieg“ (2), in vielerlei Hinsicht sein libertärstes Werk. In sein Erkenntnisinteresse mischten sich nun auch literarische Bezüge:

„1983/84 arbeitete ich an ‚Staat und Krieg‘ über die pathologischen Konsequenzen, die die Macht über Menschen für die Mächtigen selbst haben. Mitten in dieser Arbeit sah ich im Fernsehen einen kurzen Ausschnitt des ‚König Lear‘. (…) Da hatte ich blitzartig meine eigentliche wissenschaftliche Hypothese in einer der Politologie unerreichbaren Tiefendimension verstanden – ‚Macht macht dumm‘ – und Shakespeare hatte mir dazu verholfen.“ (LF, 102)

Im Epilog des Buches zitierte Krippendorff seitenlang aus den libertären Schriften Tolstois:

„Ein jeder Staatsbeamte kommt in seiner Karriere umso besser fort, je mehr Patriot er ist; ebenso macht auch das Militär seine beste Karriere im Kriege, der wiederum durch den Patriotismus hervorgerufen wird“ (Tolstoi zit. nach Krippendorff: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft, S. 409).

Staats-, Militär- und Herrschaftskritik gehörten von nun an zu Krippendorffs ständig verwendetem Begriffsinstrumentarium, das er mit literarischen Belegen, seien sie von Erasmus, Shakespeare, Jean Paul, Jonathan Swift oder eben Tolstoi bereicherte.

Doch die akademische Friedensforschung zog bei dieser Radikalisierung ihrer Disziplin nicht mit:

„Während ‚Staat und Krieg‘ – PazifistInnen und nicht zuletzt AnarchistInnen entdeckten es bald als wichtige wissenschaftliche Untermauerung ihres politischen Engagements – mit großer Zustimmung aufgenommen wurde, fanden meine Argumente in der akademischen Friedensforschung kaum Resonanz.“ Dort war „von allem Möglichen in szientifistischer Terminologie die Rede (‚Schwierigkeiten bei der Realisierung des begonnenen Abrüstungsprozesses‘, ‚Technikentwicklung und Rüstungsdynamik‘, ‚Regionale Konfliktkonfigurationen‘ etc.), nicht aber von einer gerade in Brand gesteckten Welt.“ (LF, 60)

Was uns in der „Graswurzelrevolution“ anbetraf, so hatten wir den strukturellen Zusammenhang von Staat, militärisch-industriellem Komplex und Krieg längst und immer wieder thematisiert (2), doch Krippendorffs Buch brachte diesen theoretisch-praktischen Ansatz in breite, bürgerlich-friedensbewegte Kreise hinein und dafür waren wir dankbar. Die Grünen als Partei führten gerade ihre parlamentarische Integrationsdiskussion um die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols, da kamen für sie solche Inhalte denkbar ungelegen und sorgten dafür, dass wenigstens die restlichen Achtzigerjahre bis noch einige Zeit nach dem Mauerfall eine Beteiligung der Bundeswehr an Auslandskriegen aus Rücksicht auf die friedensbewegte Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung undenkbar schien, bis dann die auch von Linken mit betriebene Diskussion um deutsche Militäreinsätze gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien („Kosovo-Krieg“) 1999 und in Afghanistan 2001 alle Dämme brach.

Karrierismus als Ursache des Niedergangs der Friedensforschung

Auch nach „Staat und Krieg“ war ihm wissenschaftlich fundierte Militärkritik wichtig. Davon zeugen ein Uniprojekt „Militärrituale“ oder die Bände „Militärkritik“ (1993) und „100 Tage Militär“ (2000). (3) Er suchte auch das strategische Gespräch mit antimilitaristisch Bewegten, unterstützte etwa die Initiative „Für eine Bundesrepublik ohne Armee“ (BoA) in den Neunzigerjahren. Dabei kam es mitunter auch zu Konflikten, wenn bündnistheoretische Erwägungen des Radikaldemokraten Krippendorff, die auf Legitimation in die Gesellschaft hinein setzten, auf anders geartete, aktivistisch-antimilitaristische Ausrichtungen trafen, wie etwa auf einer Konferenz der War Resisters‘ International 2002 in Dublin, wo er sich mit seiner Forderung, Kriegsdienstverweigerer sollten sich freiwillig dem Zivildienst anbieten, den Ärger von GegnerInnen des Kriegsdienstzwangs und BefürworterInnen der Totalen Kriegsdienstverweigerung zuzog, weil sie meinten, trotz Freiwilligkeit spiele das Regierungskonzepten für soziale Zwangsdienste in die Hände. (4)

Ekkehart Krippendorff zeichnete eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstkritik aus, wenn ihn historische Erfahrungen und Argumente überzeugten. So kritisierte er im Rückblick, er habe in der Einleitung zu seiner „Friedensforschung“ von 1968 im Hinblick auf bewaffnete Befreiungsbewegungen von der „unter bestimmten Bedingungen gegebenen progressiven Funktion von Gewalt“ (LF, 66) gesprochen. Davon kurierten ihn erstens „meine späte Beschäftigung mit der großen Figur Mahatma Gandhis und seiner Lehre von der Gewaltfreiheit“ und zweitens:

„Die Erfahrung mit fast allen erfolgreichen Befreiungsbewegungen hat mich eines Besseren belehrt, das ich inzwischen auch systematisch zu begründen gelernt habe: Kein guter Zweck wird durch die schlechten Mittel (Gewalt, Krieg) geheiligt, er wird vielmehr deren erstes Opfer“ (LF, 66).

Den Niedergang der akademischen Friedensforschung, die Spaltungen besonders nach Nine-Eleven 2001, die „selbst Freundschaften irreparabel beschädigt“ hatten, „indem die Einen nun einer menschenrechtlich-moralischen Rechtfertigung militärischer Interventionen, und zwar eben auch mit deutschen Soldaten, das Wort redeten“ (LF, 63) und die anderen, wie Krippendorff, ihrer Ablehnung militärischer Gewalt treu blieben, führte er u.a. auf akademisches Karrieredenken zurück: Gerade den jüngeren FriedensforscherInnen dieser Zeit sei es „unausgesprochen und vielleicht auch unbewusst um ihre wissenschaftliche Zukunft“ (LF, 64) gegangen. Es gebe in der BRD nun mal keinen expliziten Lehrstuhl für „Friedensforschung“ und:

„Für bekennende PazifistInnen war eine Universitätskarriere, sofern einige Wenige nicht in den optimistischen siebziger Expansionsjahren eine feste Stelle bekommen hatten, so gut wie ausgeschlossen.“ Die jüngeren FriedensforscherInnen entfernten sich in den Neunzigerjahren und im 1. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts daher nicht zu weit vom realpolitischen Konsens, „und der wollte deutsche militärische Beteiligung am Spiel der internationalen Politik“. (LF, 64)

Die deutsche Friedensforschung im Sinne Krippendorffs ist daher heute kaum noch existent, das zeigte sich nicht zuletzt an ihrer Irrelevanz bei den Fragen der internationalen Militärinterventionen 2011 in Libyen oder in Syrien.

Lou Marin

(1) Ekkehart Krippendorff (Hg.): Friedensforschung, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1968. (Neue Wissenschaftliche Bibliothek ; 29)

(2) Vgl. z.B. bereits als Zusammenfassungen jahrelanger Diskussionen innerhalb der anarchistischen gewaltfreien Aktionsgruppen die Aufsätze von S. Münster: Exterminismus und Revolution, sowie von Knut Klausewitz: Staat und Krieg, in: Wege des Ungehorsams. Jahrbuch für gewaltfreie & libertäre Aktion, Politik und Kultur 1984, Verlag Weber, Zucht & Co, Kassel 1984, S. 19-60. Aus den gleichen Zusammenhängen entstand dann eine Rezension des Krippendorff-Buchs von Günter Saathoff und Johann Bauer in der damaligen Zeitschrift "Antimilitarismus-Information".

(3) Ekkehart Krippendorf: Militärkritik, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1993; Ekkehart Krippendorff, Markus Euskirchen, Arend Wellmann: 100 Tage Militär. Exemplarischer Tätigkeitsbericht über das älteste und größte Gewerbe der Welt, Donat-Verlag, Bremen 2000.

(4) So ein antimilitaristischer Teilnehmer dieser WRI-Konferenz dem Autor dieses Textes gegenüber.