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Krieg gegen Rojava

Erdoğans Traum von einem neuen Osmanischen Reich

| Bernd Drücke

Kommentar

Im Sommer 1993 habe ich als Teil einer Menschenrechtsdelegation erstmals das türkisch-kurdische Kriegsgebiet bereist. (1) Damals war der Krieg zwischen der türkischen Armee und der Kurdischen Arbeiterpartei PKK eskaliert. Mehr als 4.000 kurdische Dörfer auf türkischem Staatsgebiet wurden zu dieser Zeit durch die türkische Armee zerstört, zigtausende Menschen getötet. Während die Kohl-Regierung beteuerte, in diesem Konflikt würden keine deutschen Waffen eingesetzt, belegten auch Fotos des von einem Panzer aus NVA-Beständen zu Tode geschleiften behinderten Kurden Mesut Dünder das Gegenteil. Bei der Reise durch das Kriegsgebiet konnten wir überall Waffen aus deutscher Produktion sehen, die die Bundesregierung dem Krieg führenden NATO-Partner verkauft hat.

Heute ist die Situation ähnlich. Die Türkei hat am 20. Januar 2018 zusammen mit islamistischen Söldnern der „Freien Syrischen Armee“ einen Krieg angefangen (2) und den bis dahin selbstverwalteten kurdischen Kanton Afrin auf syrischem Territorium u.a. mit deutschen Leopard-2-Panzern überrollt.

Am 27. März 2018 schrieb uns der gerade aus der Afrin/Sheba-Region zurückgekehrte Arzt und GWR-Autor Michael Wilk: „Die Lage der Geflohenen ist extrem: Tausende sind auf offenem Feld Wind und Wetter ausgesetzt. Viele Frauen sind schwanger. Kinder sind ohne Obdach. Alle Häuser der kurdischen Bevölkerung der Region sind überbelegt. Es mangelt an Zelten, Nahrung, Trinkwasser und medizinischer Versorgung. Der Kurdische Rote Halbmond und die regionale kurdische Selbstverwaltung leisten hervorragende Arbeit, sind aber völlig überlastet. Ein Hilfskonvoi aus Quamishlo, Kobane und anderen Städten Rojavas ist durchgekommen, aber selbst über 40 Lastwagen und Ambulanzfahrzeuge sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Internationale Unterstützung ist dringend erforderlich! Spendet an z.B. medico international und Heyva Sor a Kurdistanê e. V. Mehrere hunderttausend Menschen sind vor der türkischen Aggression und den fundamental-islamistischen Söldnern geflohen. Die Regierungen der westlichen Welt schwiegen. Deutsche Waffen töteten und verletzten. Russland und die syrische Regierung intervenierten nicht und gaben den Luftraum für die Bombardierung frei. Die USA, deren Verbündete – die Einheiten der kurdischen YPG – den IS effektiv bekämpfen, ließen die mörderischen Angriffe der türkischen Armee zu. Jetzt warten die Opfer dieser Verbrechen dringend auf Hilfe!“

Währenddessen werden die Ziele des türkischen Autokraten sichtbarer. Erdoğan träumt von einer Wiederauferstehung des Osmanischen Reiches unter seiner Führung. Der Möchtegern-Sultan droht damit, auch die anderen kurdischen Kantone auf (bisher noch) syrischem Territorium zu besetzen und die kurdische Selbstverwaltung Rojavas zu zerschlagen. Am 9. März ließ er im türkischen Parlament von einem kleinen Mädchen das berüchtigte Gedicht von Ziya Gökalp vortragen: „Die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme. Die Moscheen unsere Kasernen, die Gläubigen unsere Soldaten.“

Der Duisburger Politikwissenschaftler und GWR-Autor Ismail Küpeli kommentierte das auf Twitter treffend: „Erdoğan war 1999 für vier Monate in Haft, u.a. weil er dieses Gedicht vortrug und davor noch sagte: ‚Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind.‘ Der Zug ist inzwischen wohl am Ziel angekommen.“

Erdoğan geht es auch darum, die Kurden zu unterwerfen und so seinen Kultstatus bei türkischen Nationalisten und Islamisten zu manifestieren. Nach der Einnahme von Afrin wurden die Geschäfte und Wohnungen der Stadt geplündert. Türkische Truppen und verbündete syrisch-arabische Milizionäre zerstörten die Kaveh-Ahangar-Statue im Stadtzentrum. Auch das soll die Kurden erniedrigen, denn der Schmied Kaveh steht in der kurdischen Mythologie für den Kampf gegen Despotismus.

Die Politik der deutschen Regierung ist doppelzüngig: Während Merkel den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei in ihrer Regierungserklärung am 20. März 2018 erstmals öffentlich als „inakzeptabel“ kritisierte, geht die Unterstützung des Regimes durch den deutschen Staat weiter. Kurdische Vereine, der Mezopotamien-Verlag (3), Öcalan-Bilder, Fahnen und Symbole kurdischer Organisationen werden kriminalisiert (vgl. GWR 427), Afrin-Solidaritäts-Demos oft behindert. Bundesinnenminister Seehofer möchte sogar das kurdische Newroz-Fest als generell „PKK-nah“ kriminalisieren. Das ist ähnlich makaber und haarsträubend wie die Tatsache, dass auch nach dem Beginn des Kriegs die deutsche Regierung Rüstungslieferungen in Millionenhöhe an den NATO-Partner Türkei genehmigt hat. In den ersten fünfeinhalb Wochen der von türkischer Seite zynisch als Operation „Olivenzweig“ bezeichneten Invasion wurden 20 Exportgenehmigungen für deutsche Rüstungsgüter im Wert von 4,4 Millionen Euro erteilt.

Türkische Friedensaktivist*innen fordern, dass der Waffenhandel mit der Türkei sofort beendet werden soll. Sie äußerten dies gegenüber einer Delegation der War Resisters‘ International (WRI), die zwischen dem 19. und 25. März 2018 die Türkei besucht hat. (4) Die WRI ist die Internationale der Kriegsdienstgegner*innen, der neben 90 anderen antimilitaristischen und pazifistischen Organisationen in 45 Ländern auch Graswurzelrevolution und DFG-VK angehören.

„Der Krieg in Afrin und die Unterdrückung in der Türkei, insbesondere in den kurdischen Regionen, wird durch die Waffen ermöglicht, die vor allem aus Deutschland, Spanien, Italien und Russland importiert werden. Solange Länder fortfahren, Waffen zu verkaufen, werden diese für Unterdrückung und die Verletzung der Menschenrechte benutzt werden. Ein wichtiger Schritt, dies zu verhindern, wäre, den Rüstungsexport in die Türkei sofort einzustellen“, so ein befreundeter Graswurzelrevolutionär aus ?zmir. Die WRI-Delegation zeigte sich nach dem einwöchigen Besuch entsetzt über die andauernde Verschlechterung der Menschenrechtssituation.

Seit Beginn des Kriegs ist es für Menschenrechtsaktivist*innen in der Türkei gefährlich, Begriffe wie „Frieden“ in den Mund zu nehmen und die Rückkehr zu einem Friedensprozess mit der kurdischen Bevölkerung zu fordern. Menschenrechtsorganisationen erhalten täglich Anfragen von Männern, die in diesem Krieg nicht dienen wollen. Trotz der Angst vor Repression gibt es öffentliche Aktivitäten gegen den Krieg.

Unsere Aufgabe ist es, alle Antimilitarist*innen zu unterstützen und uns solidarisch gegen Repression zu stemmen. Die Grundrechte gelten für alle. Für einen sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen! Stoppt die Verbrechen gegen die Menschheit! Stoppt den Krieg!

Bernd Drücke

(1) Siehe: Bernd Drücke: Serxwebun! Gesellschaft, Kultur und Geschichte Kurdistans, Edition Blackbox, Bielefeld 1998 undhttps://www.youtube.com/watch?v=94YMg9V6HG8

(2) Siehe: http://www.graswurzel.net/427/afrin2.php und http://www.graswurzel.net/427/afrin.php

(3) Vom 8. bis 10. März 2018 wurden die Räumlichkeiten des Mezopotamien-Verlages und des unter gleicher Adresse firmierenden Musikvertriebs Mir Multimedia in Neuss durchsucht. Mindestens sieben LKW-Ladungen Material wurden von der Polizei abtransportiert. Redaktion und Verlag Graswurzelrevolution unterstützen zusammen mit vielen Menschenrechtsorganisationen und Verlagen eine Solidaritätserklärung mit den Kriminalisierten. Siehe: https://anfdeutsch.com/aktuelles/solidaritaet-mit-mezopotamien-verlag-weitet-sich-aus-3186

(4) Weitere Infos: https://de.Connection-eV.org/article-2612