Das Elend im Jemen übersteigt jede Vorstellungskraft (vgl. GWR 427). Um es zu beschreiben, muss sich von einem Superlativ zum nächsten gehangelt werden. Die Spitze des Eisbergs sind die über 10.000 Menschen, die seit Beginn des Krieges im März 2015 getötet wurden. Der Koloss unter der Oberfläche setzt sich zusammen aus der opferreichsten Choleraepidemie seit Beginn der modernen Aufzeichnungen und der derzeit verheerendsten Hungerkatastrophe der Welt.
Alle zehn Minuten stirbt im Jemen ein Kind an problemlos vermeidbaren Krankheiten – 1.000 jede Woche. Ursache dieses Elends ist der Krieg, in dem eine von Saudi-Arabien geführte Koalition zur Bekämpfung der Houthi-Rebellen seit mehr als drei Jahren Bomben auf Krankenhäuser, Wasserwerke und Schulen niederregnen lässt. Auf Marktplätze, Wohnviertel, Häfen und Brücken. Auf Beerdigungen, Hochzeitsfeiern und ein Flüchtlingsboot. Hinzu kommt die von den Saudis verhängte See- und Luftblockade, die den Import von Nahrung, Hilfsgütern und Medikamenten nahezu unterbindet.
Die UN spricht von der „größten humanitären Katastrophe der Welt“ und doch könnte der Krieg im Jemen in der Berichterstattung kaum abwesender sein. Wird er doch berichtet, kommen in aller Regel Narrative eines Stellvertreterkriegs: Die Houthi-Rebellen kämpften als Marionette des Iran gegen den regionalen Erzfeind Saudi-Arabien. Desweilen ginge es um einen herbeigeschriebenen Jahrtausende währenden Kampf zwischen Sunniten und Schiiten. In einer George-Bush-Reminiszenz redet der saudi-arabische Außenminister Adel al-Jubeir vom Kampf „zwischen Gut und Böse“ – höchst epische Kategorien scheinen auf dem Spiel zu stehen. Derartige Dichotomien sollen komplexe Zusammenhänge auf vertraute Narrative eindampfen – doch um zum Kern eines Krieges vorzustoßen, taugen sie nicht.
Die Houthis und das Haus Saud
Seit der Gründung Saudi-Arabiens 1932 ist der Grenzkonflikt zum Jemen zentral für die Sicherheitspolitik des Hauses Saud. Bereits der erste Krieg des jungen saudischen Staates wurde 1934 im Konflikt um die Grenzen gegen das Königreich Jemen geführt, in dessen Zuge die Saudis drei jemenitische Provinzen annektierten, die zusammen flächenmäßig der Hälfte des heutigen Jemen entsprechen und in denen ein Großteil der schiitischen Minderheit in Saudi-Arabien lebt – mehr als die Hälfte davon wie die Houthis Zaiditen. Spätestens seit den 1970ern intervenierte Saudi-Arabien aggressiv in innerjemenitische Angelegenheiten, indem Clanführer, Politiker*innen und Medienpersönlichkeiten nach Belieben finanziert oder diskreditiert wurden. Nicht umsonst gelten die Saudis im Jemen als „Königsmacher“ – so spielten sie in den 1970ern auch bei der Machtergreifung des Diktators Ali Abdullah Saleh eine zentrale Rolle, über den Riad in den Jahrzehnten der Diktatur Einfluss geltend machte.
Im Zuge der Wiedervereinigung von Nord- und Südjemen 1990 entwickelten sich aus den tribalistischen Strukturen im von der Zentralregierung in Sana’a marginalisierten Norden verschiedene Aufstandsbewegungen gegen die Herrschaft des korrupten Diktators Saleh – um die Jahrtausendwende auch eine rund um den einflussreichen Houthi-Clan. Nach der Ermordung deren Anführers Hussein gingen die Houthis verstärkt zum bewaffneten Kampf über, der sich in den nächsten sieben Jahren sporadisch in blutigen Zusammenstößen zwischen den Truppen des Diktators Saleh und den über 100.000 Houthi-Kämpfern entlud. 2011 schlossen sie sich den Protesten des Arabischen Frühlings an, in dessen Zuge Saleh gestürzt wurde und dessen Vize Abed Rabbo Mansur Hadi – der gemeinhin als saudische Marionette gilt – die Macht übertragen wurde.
2014 starteten die Houthis ausgehend von ihrer Hochburg Sa’da an der Grenze zu Saudi-Arabien ihren Feldzug gen Süden, in dessen Verlauf sie den Großteil der bevölkerten Territorien des Jemen erobern sollten – die urbanen Zentren im Norden und Westen des Landes. In einem Akt größter Heuchelei beider Seiten verbündeten sie sich mit ihrer einstigen Nemesis: dem gestürzten Diktator Saleh. Zusammen mit Saleh-treuen Truppen übernahmen sie überwiegend unblutig die Hauptstadt Sana’a und marschierten erfolgreich auf Aden. Präsident Hadi wurde unter Hausarrest gestellt, konnte jedoch unter dem Schutz einer Burka seinen Wachen entkommen und ins saudi-arabische Exil fliehen, wo er sich mit minimalem Einfluss auf das Geschehen im Jemen bis heute aufhält. Trunken vom militärischen Erfolg forderten die Houthis gar die Rückgabe der drei 80 Jahre zuvor von Saudi-Arabien annektierten Provinzen.
Der Siegeszug der Houthis war der Alptraum des Haus Saud, nicht nur weil die Rebellen an der saudischen Südgrenze rüttelten, sondern vor allem, weil sie unabhängig von der Korruption und dem elitären Klüngel in Sana’a waren – und somit unzugänglich für Riads über Jahrzehnte etablierte Unterwanderung des jemenitischen Politbusiness. Denn seit jeher war es saudische Politik, im Jemen für instabile Verhältnisse sowie für eine schwache, größtmöglich von saudischen Petrodollar abhängige Regierung zu sorgen, die keinerlei Gefahr für das saudische Territorium darstellen würde. Jemenitische Volksbewegungen oder ambitionierte politische Bewegungen in Sana’a wurden stets unterwandert oder offen militärisch bekämpft.
Als die Houthis schließlich Sana’a einnahmen, waren Jahrzehnte der Einflussnahme der Saudis in ihrem „privaten Hinterhof“ Geschichte. Als Exilpräsident Hadi im März 2015 um Unterstützung bat, kam Riad dieser Bitte nur allzu gern nach, hatte es doch nun die Rechtfertigung, um in einer groß angelegten Kampagne gegen die Houthis vorzugehen. Der erbarmungslose Krieg der Saudi-Koalition begann und die Houthis verloren in zähen Kämpfen signifikante Teile ihrer eroberten Gebiete – das endgültige Zurückdrängen in ihre Kernregion im Norden scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
Es geht im Krieg der Saudis gegen die Houthis also um schnöde Machtpolitik: Sicherung der Grenzen der drei riesigen 1934 annektierten jemenitischen Provinzen sowie die Wiedererlangung von Kontrolle über die Politik des Jemen. Um der Weltöffentlichkeit das erbarmungslose Bombardement jedoch zu verkaufen, bemüht Riad unablässig das Feindbild Iran, indem es versichert, die Houthis seien ein iranischer Proxy, mit dessen Hilfe Teheran einen Fuß auf die Arabische Halbinsel zu setzen versucht.
Die Houthi-Iran-Connection
An Paranoia grenzend beschwört Saudi-Arabien das Schreckgespenst eines „vom Iran dominierten Jemen“ herauf, der saudische Angriffskrieg gegen die Houthis wird so zur Selbstverteidigung gegen den Erzfeind Iran umgemünzt. Und westliche Politiker*innen wie Medien übernehmen dieses Narrativ, ohne es zu hinterfragen oder gar zu überprüfen. Ist der „Schurkenstaat“ Iran das eigentliche Ziel, so ist das bittere Elend der jemenitischen Bevölkerung offensichtlich hinnehmbarer.
Sowohl die Houthis als auch der Iran streiten jegliche Zusammenarbeit kategorisch ab. Ohne jeden Zweifel gab es vor dem Krieg jedoch gewisse Verbindungen, die auch weiterhin bestehen. Etwa in Form begrenzter finanzieller Zuwendungen oder indirekter Kooperation bei militärischer Ausbildung – in Gestalt der vom Iran unterstützten libanesischen Hisbollah, die seit 2011 gelegentlich Ausbilder zu Übungen in den Jemen schickt. Diese Unterstützung wird zumeist jedoch übertrieben dargestellt. Sie verblasst gegenüber jenem Support, den Teheran anderen Gruppierungen im Nahen Osten zukommen lässt.
Im Sommer 2014 wollte Teheran die Houthis aus strategischen Gründen explizit davon abhalten, die Hauptstadt Sana’a einzunehmen und Hadi zu stürzen, die Houthis widersetzten sich jedoch. Auch fügten im Juni 2015 tatsächlich vom Iran ausgebildete Truppen im Dhale-Gouvernement den Houthi-Rebellen empfindliche Niederlagen zu. Beide Vorfälle dekonstruieren offensichtlich die These der Houthis als militärische Marionetten des Iran.
Insbesondere lässt sich jedoch der Vorwurf, die Houthis wären massiv vom Iran hochgerüstet, kaum aufrechterhalten – wäre dies nicht zuletzt wegen der umfassenden Seeblockade der Saudis gegen den Jemen praktisch kaum umsetzbar. Es gibt gelegentliche Berichte über Waffenschmuggel etwa über Oman oder Somalia, die an dieser Stelle keineswegs infrage gestellt werden sollen, einzig soll deren tatsächlicher Umfang relativiert werden, da sich konkrete Fälle bei genauer Untersuchung oft nur schwer verifizieren lassen.
Ende Februar 2018 gaben die Regierungen der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands am UN-Sicherheitsrat vorbei eine Erklärung ab, in der sie den Iran wegen einer nicht zweifelsfrei nachgewiesenen Lieferung von Kurzstreckenraketen an die Houthis scharf verurteilten. Eben diese vier Staaten sind seit dem Jahr 2000 jedoch verantwortlich für 86 Prozent der Waffenimporte der treibenden Kräfte der Saudi-Koalition, einer Koalition also, die die UN wegen des systematischen Tötens jemenitischer Kinder auf ihre Schwarzliste der Kinderrechtsverletzer gesetzt hat – ein Paradebeispiel westlicher Heuchelei.
Zu einem Teil gewiss vom Iran, stammen die Waffen der Houthis in erster Linie aus zwei anderen Quellen: Erstens aus dem waffenüberschwemmten Land selbst – weltweit haben nur die USA mehr Schusswaffen pro Einwohner. Zweitens von übergelaufenen Truppenverbänden des gestürzten Diktators Saleh, mit denen die Houthis 2015 eine Allianz schmiedeten – reguläre Waffen des jemenitischen Militärs also und damit auch Kriegsgerät der US-Regierung, da Washington im „War on Terror“ allein seit 2006 Waffen im Wert von über 500 Millionen Dollar an Saleh lieferte.
Das strategische Interesse Teherans an den weiten Wüsten der Arabischen Halbinsel ist begrenzt. Die Einschätzung einer Reihe ehemaliger hochrangiger US-Diplomaten legt nahe, die Houthi-Iran-Connection wäre vielmehr eine Folge des Krieges der Saudis als dessen Ursache. „Die Houthis waren nicht im iranischen Lager, bis sie durch Notwendigkeit dort hineingetrieben wurden“, meint Chas Freeman, der ehemalige US-Botschafter in Riad. Die Houthi-Iran-Connection „hätte so wahrscheinlich überhaupt nicht existiert“, erst das Bombardement der Saudis hat „ironischerweise die Beziehung gefestigt“ – der Krieg im Jemen als selbsterfüllende Prophezeiung.
Mit der „Iranisierung“ des Jemen-Krieges spielt Saudi-Arabien ein geschicktes PR-Spiel. Stieß dies bereits in der Obama-Regierung auf offene Ohren, so ist die von iranophoben Kriegsfalken durchsetzte Trump-Administration nun der engste Verbündete der Saudis. Indem der iranische Teufel in Übergröße an die Wand gemalt wird, konnte die westliche Welt überzeugt werden, es handle sich keineswegs um einen lokalen Konflikt, sondern um einen, der mit der indirekten Bekämpfung eines vermeintlich feindseligen Iran gar globale Kreise zieht.
Abu Dhabi und das „Achte Emirat Südjemen“
Sechs Staaten der Saudi-Koalition – Ägypten, Bahrain, Jordanien, Kuwait, Marokko, Sudan – stehen treu an der Seite der Saudis. Eine Partei schert jedoch zunehmend aus und verfolgt im Jemen eine ganz eigene Agenda: die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE).
Während Riad bei der Entsendung von Bodentruppen zögerlich ist, hat Abu Dhabi seit geraumer Zeit im großen Stile Truppen im Jemen. So spielen die Emirate seit gut zwei Jahren die Führungsrolle im Kampf gegen Al-Qaida im Südjemen, ebenso bei der Rückeroberung von Aden von den Houthis im Juli 2015, und verantworten zusätzlich die Ausbildung Zehntausender jemenitischer Truppen. Darüber hinaus importierten die VAE Hunderte bestens ausgebildeter Söldner aus Südamerika, um im Jemen für sie zu kämpfen – über ein Programm, das von Erik Prince ins Leben gerufen wurde, dem Kopf der verrufenen US-Söldnerfirma Blackwater. Die VAE betreiben im Südjemen außerdem ein Netzwerk aus Dutzenden Foltergefängnissen, in denen Tausende Terrorverdächtige „verschwinden“ und dort in Arbeitsteilung von den „VAE gefoltert und von den USA verhört“ werden, wie die Associated Press in einem herausragenden Investigativbericht jüngst aufdeckte. Die Emirate haben im Südjemen regelrecht eine parallele Sicherheitsstruktur etabliert.
Der Grund für diesen Alleingang liegt in den Ambitionen der Emirate, zu einer globalen Energiesupermacht aufzusteigen. Hierzu verfolgen die VAE über die Kontrolle strategisch wichtiger Knotenpunkte auf energierelevanten Handelsrouten den Aufbau überregionaler Strukturen im Nahen Osten und darüber hinaus, um so ihren Handel mit fossilen Rohstoffen nach Europa und Nordamerika zu konsolidieren und weiter auszubauen.
Abu Dhabi drängt sich im Eiltempo in die Energie- und Sicherheitsinfrastruktur der Region hinein; von Eritrea und Somaliland bis nach Zypern und Libyens Bengasi. Im Jemen manifestieren sich diese Ambitionen an drei Fronten. Erstens bei der Rückeroberung der Perim-Inseln von den Houthis, einem Nadelöhr am südlichen Ende des Roten Meers. Zweitens bei der im Golf von Aden liegenden Insel Sokotra, die die VAE mehr und mehr in ihre ureigene Tourismus- und Militärkolonie verwandeln. Und drittens bei den erfolgreichen Bemühungen der Emirate, die Kontrolle über ein Netz strategisch wichtiger Häfen im Jemen zu erlangen: einzig der größte Industriehafen des Landes in Hodeïda steht noch nicht unter der Kontrolle der Emirate. Doch auch Hodeïda wird seit letztem Dezember von den Kampfjets der VAE heftig umkämpft. Die Eroberung scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
Während alle wesentlichen Konfliktparteien zumindest offiziell stets an der territorialen Unversehrtheit des Jemen festhielten, gewinnen die sezessionistischen Kräfte zur Abspaltung des Südjemen mehr und mehr an Einfluss – mit massiver Unterstützung der Emirate, die zu diesem Zweck aktiv mit südjemenitischen Provinzeliten und deren bewaffneten Arm, den Separatisten des Southern Transitional Council, kollaborieren. Dieser Bruch der VAE zu den Saudis und ihrem Protegé Hadi zeigte sich Ende August 2017 in seiner ganzen Absurdität, als die Emirate dem international anerkannten Präsidenten des Jemen die Einreise nach Aden verweigerten, Hadis Heimatstadt – ein denkwürdiges Symbol für die Kräfteverhältnisse im Land.
Abu Dhabi schert sich nicht um den Konflikt mit den Houthis. Der Kampf gegen die Rebellen war von Anfang an nur der Vorwand, um militärisch einen Fuß in den Südjemen zu bekommen. Nicht das Kernland im Norden, sondern die Kontrolle über die rund 2.000 Kilometer jemenitischer Küste im Süden des Landes – allen voran deren Häfen – sind für die VAE von Interesse. Nach Milliardeninvestitionen in die Infrastruktur und die Bewaffnung separatistischer Milizen im Südjemen holen die VAE nun die sezessionistische Ernte ein. Den Emiraten schwebt mittelfristig eine Vasallenprovinz vor – eine Art „Achtes Emirat Südjemen“ – welche den Aufstieg der VAE zur globalen Energiesupermacht ermöglichen soll.
Die Blutspur der USA
Den USA kommt im Jemen eine Doppelrolle zu: Einerseits steht und fällt der Krieg der Saudi-Koalition buchstäblich mit dem US-Support, andererseits kämpft Washington unter dem Schirm des „War on Terror“ im Jemen seit Langem seinen ganz eigenen Krieg.
Barack Obama verkaufte den Saudis während seiner acht Jahre im Oval Office Rüstungsgüter in Höhe von 115 Milliarden Dollar – so viel wie kein anderer der 13 US-Präsidenten in den 85 Jahren diplomatischer Saudi-US-Beziehungen zuvor. Allein 20 Milliarden davon wurden 2015 genehmigt, dem Jahr in dem der Jemen-Krieg ausbrach. Donald Trump zog nach nur wenigen Wochen im Amt mit seinem Vorgänger gleich, als er im Mai 2017 Rüstungsdeals im Wert von 110 Milliarden Dollar mit den Saudis vereinbarte, die in der nächsten Dekade gar auf bis zu 380 Milliarden anwachsen können. Die US-Regierung gibt den Saudis die Mittel für schwerste Kriegsverbrechen in die Hand. Neben Waffenlieferungen sind die Luftbetankungen durch die USA von entscheidender Bedeutung, ohne die es den saudischen Kampfjets unmöglich wäre, quer über die riesigen Wüstengebiete hinweg ihren Bombenkrieg zu führen. Hinzu kommt US-Support auf vielen weiteren Ebenen, etwa logistische Unterstützung, Geheimdienstinformationen, Truppenausbildung, Entsendung von Militärberatern und mit am wichtigsten: die politische und diplomatische Rückendeckung. Ohne den Freifahrtschein aus dem Weißen Haus hätte die Saudi-Koalition die drei Jahre andauernde Vernichtung des ärmsten Lands der Arabischen Welt politisch nicht überlebt.
Um diese umfassende Unterstützung zu verstehen, muss allen voran ein Punkt berücksichtigt werden, um den sich für die Saudis im Nahen Osten letztendlich alles dreht: der Iran; insbesondere der so wichtige Iran-Nukleardeal von 2015, den die Saudis um jeden Preis verhindern wollten und am Ende wutentbrannt über dessen Zustandekommen waren. Obamas Entscheidung, den Krieg der Saudis überhaupt erst zu ermöglichen, ist als Geste der Wiedergutmachung zu verstehen, als Beschwichtigung eines aufgebrachten Hauses Saud. Die Bevölkerung des Jemen war der Bauer auf Obamas Schachbrett, der für den Abschluss des Iran-Deals geopfert wurde. Komplizenschaft in Kriegsverbrechen als Geste der Wiedergutmachung – so zynisch wie nur Geopolitik sein kann.
Seit gut zwei Jahrzehnten sind die USA auch selbst im Jemen aktiv, der nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zu einem der Kerngebiete des „War on Terror“ erklärt wurde. 2002 begann Washington sein Drohnenprogramm im Jemen, wobei nach konservativen Schätzungen in mindestens 302 Angriffen bis zu 1.341 Menschen getötet wurden. Nur ein Drohnenschlag wurde hiervon unter George Bush autorisiert, alle anderen unter Friedensnobelpreisträger Obama und schließlich unter Trump.
Im September 2011 tötete eine US-Drohne den in New Mexico, USA, geborenen Anwar al-Awlaki. Barack Obama, Professor für Verfassungsrecht, agiert in Personalunion als Ankläger, Richter und Henker eines US-Bürgers. Wenige Tage später tötete eine Hellfire-Rakete aus einer von Obamas Drohnen eine Gruppe Jugendlicher in der Shabwa-Provinz, die sich zum Barbecue versammelt hatten. Unter den Toten des Blutbads: Anwar al-Awlakis Sohn, der US-Amerikaner Abdulrahman al-Awlaki. Erbsünde im 21. Jahrhundert. Ende Januar 2017 befehligte schließlich Trump den ersten „Anti-Terroreinsatz“ seiner Amtszeit: 30 US Navy SEALs stürmten unterstützt von mehreren Kampfhubschraubern das Dorf Yakla im Jemen und töteten 31 Menschen, darunter mindestens zehn Kinder. Unter den getöteten Kindern befand sich ein achtjähriges Mädchen, das nach einem Schuss in den Hals elendig verblutete. Ihr Name: Nawar al-Awlaki, US-Amerikanerin, Schwester von Abdulrahman, wie ihr Bruder fünf Jahre zuvor von den USA ermordet. Der Mord an den unschuldigen Kindern der Awlaki-Familie ist die Blutlinie, die Trumps Präsidentschaft mit der seines verhassten Vorgängers Obama verbindet.
Schärfte der Präsidentschaftskandidat Trump in vermeintlicher Opposition zur Kriegstreiberin Hillary Clinton noch sein Profil als Nicht-Interventionist, der sich aus den Abenteuern der USA in Middle East zurückziehen wolle, eskaliert Präsident Trump nun jeden einzelnen Krieg, den er von seinem Vorgänger geerbt hat. Insbesondere im Jemen verfolgt er eine Politik der verbrannten Erde und beordert Drohnenschläge wie im Blutrausch: in den ersten zwölf Monaten autorisierte Trump im Jemen fast ebenso viele Angriffe (129) wie „Drohnenkönig“ Obama in den gesamten acht Jahren seiner Präsidentschaft (162) und tötete dabei bis zu 235 Menschen. Die renommierte Anwaltsvereinigung Reprieve UK spricht von „Exekutionen im industriellen Maßstab“. Auf der anderen Seite eskaliert Trump den Krieg der Saudis im Jemen, indem er gewisse Beschränkungen und zaghafte Strafmaßnahmen der Obama-Ära rückgängig macht. Trump ist der engste Verbündete, den das Haus Saud seit Jahrzehnten im Weißen Haus hatte. Die Leidtragenden dieser unheilvollen Allianz sind die Kinder, Frauen und Männer im Jemen.
Der Jemen reißt auseinander
Die Aussichten für den Jemen könnten kaum düsterer sein. Verschiedenste mächtige Akteure reißen aus eigenen machtpolitischen Interessen an diesem so wunderschönen Land und sind kurz davor, es in Gänze auseinanderzureißen. Zu den hier genannten Playern kommen weitere: Großbritannien ist eng in Logistik und Geheimdiensttätigkeiten der Saudi-Koalition eingewoben. Frankreich, Italien, Spanien, Kanada, Australien und die Schweiz haben wie Deutschland vor allem monetäre Interessen am Fortbestand des Krieges. Der Sudan hat Tausende Truppen im Land. Auch Russland ist dabei, sein Gewicht in die jemenitische Waagschale zu werfen, um seinen Anspruch als Großmacht im Nahen Osten weiter zu untermauern. Nicht zu vergessen Al-Qaida, dessen Jemen-Ableger als gefährlichste Filiale des globalen Terror-Franchise gilt und die mit dem „Al-Qaida Emirat Jemen“ 2015/16 für über ein Jahr ein Gebiet der Größe Syriens unter Kontrolle hielt. Auch der Islamische Staat ist mit tödlichsten Anschlägen im Jemen aktiv.
Der Jemen mit seinem Netzwerk aus ineinandergreifenden Konflikten ist der Inbegriff der inflationär gebrauchten Floskel, es könne keine militärische Lösung geben. Das Land braucht Friedensverhandlungen unter dem Schirm der UN – unter Einbeziehung aller relevanten Akteure. Diese Prozesse benötigen Geduld und Zeit. Doch die Bevölkerung des Jemen hat keine Zeit. Angesichts der historischen Cholera- und Hungerkatastrophe läuft ihr die Zeit buchstäblich ab. Auf internationalen Druck hin muss das absurde Bombardieren des Jemen durch die Saudi-Koalition umgehend beendet und die zermürbende See- und Luftblockade mit sofortiger Wirkung vollständig aufgehoben werden. Schwerkranke müssen aus dem Land heraus- und Nahrungsmittel und Medikamente im großen Stile hineingelassen werden.
Jakob Reimann
Jakob Reimanns Text knüpft an seinen im März 2018 in der Graswurzelrevolution Nr. 427 erschienenen Artikel "Zwischen Cholera und Hungersnot. Der humanitäre Alptraum des Jemen-Krieges" an. Mehr Infos in Jakobs sechsteiliger Reihe zum Krieg im Jemen: http://justicenow.de/2018-04-23/jemen-der-vergessene-krieg