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Die libertäre Seite Martin Luther Kings

Buchbesprechung

| N.O. Fear

Buchbesprechung

Martin Luther King: „Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen.“ Reden, Edition Nautilus, Hamburg 2016, 106 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-96054-021-2.

In diesen Wochen, in denen vielfach an die Ermordung Martin Luther Kings durch einen weißen Rassisten in Memphis am 4. April 1968, vor fünfzig Jahren, erinnert wird, steht die Radikalisierung des späten Martin Luther King während seines letzten Lebensjahres allzu selten im Mittelpunkt. Mit „Radikalisierung“ ist dabei eine deutliche Hinwendung zu libertären Inhalten gemeint, auch wenn sie noch immer in die zuweilen pathetisch-religiöse Sprache des Baptisten-Pastors gehüllt war. Davon zeugt ein Band der Edition Nautilus aus dem Jahre 2016 mit einem Vorwort des Anarchisten Ilija Trojanow, der fünf der letzten Reden und Predigten Kings wieder gibt, vom August 1967 bis hin zu einem Tag vor seiner Ermordung, als er am 3. April 1968 in der Mason Temple Church in Memphis zur Intensivierung des laufenden Müllarbeiterstreiks der Schwarzen in der Stadt aufrief.

Wer sich hier an gelegentlich schwärmerischen Beschwörungen der Utopie des amerikanischen Traums oder symbolischen Gleichnissen aus der Bibel nicht stört und den realen Gehalt der Reden Kings wahrnehmen kann, wird über deren Radikalität überrascht sein. King hatte seit einiger Zeit entschieden den Vietnamkrieg der USA verurteilt und versuchte, die Armut vor allem der schwarzen Bevölkerung in den Slums der nördlichen Städte durch Streik- und Boykottkampagnen sowie eine erneuerte Form des zivilen Ungehorsams zu bekämpfen. Seine Reden zeugen bereits über den Müllarbeiterstreik in Memphis hinaus von den Aufrufen und Vorbereitungen zur geplanten „Poor People’s Campaign“, die mit einer Demo von 50.000 Menschen sowie einem dauerhaften Zeltcamp von 3000 verarmten Schwarzen in Washington D.C. im Sommer 1968 enden sollte. Die Ermordung Kings brach dieser Strategie das mobilisierende Rückgrat; in den Schwarzenvierteln von Washington und anderen Städten kam es unmittelbar zu Riots. Die Zeltstadt in Washington fand danach trotzdem statt, geleitet von Ralph Abernathy und Coretta King, vom 12. Mai bis zur gewaltsam-polizeilichen Räumung am 24. Juni 1968. WRI-Aktivist Bayard Rustin hatte eine „Economic Bill of Rights“ verfasst, die aber im Gegensatz zu den Gesetzen 1964 gegen die Segregation und 1965 für das Wahlrecht für Schwarze nicht verabschiedet wurde; aber der Ablauf des Zeltcamps war von internen Streitereien, Fraktionierungen und einer Stimmung der Demoralisierung geprägt, so dass bei der Räumung Ende Juni nur noch 500 Aktive präsent waren. (1)

Die Riots Schwarzer in den nördlichen Städten der USA waren in Watts/Los Angeles 1965 ausgebrochen, direkt nachdem die US-Bürgerrechtsbewegung mit ihren gewaltfreien Aktionen im Süden der USA entscheidende Siege und Durchbrüche erzielt hatte. King schätzte die Riots wie folgt ein: „Die Unruhen stellen keinen Aufstand dar, denn Aufstände sind organisierter und länger als nur für ein paar Tage durchzuhalten. Unruhen hingegen brechen aus, wenn Bitterkeit sich entlädt; sie sind deshalb auch schnell wieder vorbei“ (S. 20).

Martin Luther Kings Strategie: massenhafter Ziviler Ungehorsam gegen Armut

Martin Luther King ist es hoch anzurechnen, dass er sich in seinen letzten Lebensjahren nicht nur mit dem Vietnamkrieg, sondern auch mit den elenden ökonomischen Lebensbedingungen der Schwarzen in den Slums der nördlichen Städte konfrontierte und versuchte, angemessene Strategien des zivilen Ungehorsams zu entwickeln, die eine Alternative zu den perspektivlosen Riots darstellen konnten. Dazu gehörte eine klare Verurteilung der Regierungspolitik sowohl nach innen (Armut, Rassismus) wie nach außen (Vietnam):

„Gleichzeitig gegen die eigene Bevölkerung und eine andere Nation Krieg zu führen, das ist der Gipfel an politischem und gesellschaftlichem Bankrott“ (S. 18).

Nach dieser klaren Verurteilung des Systems stieg King in seinen letzten Reden tief in die Ursachenanalyse der Armutsprobleme ein und er fand im konkreten Kontext der USA zu heute noch weithin gültigen Aussagen über Riots allgemein. Auslöser waren für ihn eindeutig der institutionalisierte staatliche Rassismus, der Kapitalismus und die brutale Polizeigewalt. So nimmt er die schwarzen Riot-Jugendlichen zunächst verständnisvoll in Schutz:

„Es steht fest, dass die Ausschreitungen durch Polizeiaktionen verschlimmert wurden, die darauf angelegt waren, Menschen zu verletzen oder gar zu töten.“ Doch nur eine „Handvoll Schwarzer benutzte Schusswaffen, und zwar hauptsächlich zum Einschüchtern, nicht zum Töten, alle anderen aber hatten eine andere Zielscheibe: den Besitz“ (S. 51). Die Riots seien gegen das Eigentum geführt worden, „weil Eigentum die weiße Machtstruktur verkörpert, gegen die sie vorgehen und die sie zerstören wollen.“ Es sei zu Plünderungen gekommen, aber die Polizei habe Hunderte von Anrufen von Schwarzen bekommen, „die die entwendeten Waren zurückgeben wollten. Jene Leute suchten das Erlebnis des Nehmens, der Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts der Macht, dargestellt durch das Eigentum. Im Nachhinein war der Besitz nicht mehr wichtig“ (S. 51). Davon unterscheidet King die Brandstiftungen, „die viel gefährlicher waren als die Plünderungen“ (S. 51).

Wenn aber die schwarzen Jugendlichen, so King weiter, selbst bei den Riots eher Eigentum als Menschen angriffen, „so heißt das, dass die Gewaltlosigkeit als eine Macht im Leben der Schwarzen für die Zukunft nicht abgeschrieben werden sollte. (…) Tatsache ist, dass bei allen Märschen, die wir organisiert haben, einige Elemente mit ausgesprochen gewalttätigen Tendenzen dabei waren. Es war für uns eine Routine, in unseren eigenen Reihen, jeweils vor den Märschen Hunderte von Messern einzusammeln, für alle Fälle. Und in Chicago erlebten wir letztes Jahr [1966], wie ein paar äußerst gewalttätige Individuen sich der gewaltlosen Disziplin willig unterwarfen. (…) Ich bin überzeugt, dass sogar äußerst gewalttätige Naturen durch gewaltlose Disziplin gelenkt werden können, wenn die Bewegung sich wirklich bewegt, wenn die Leute konstruktiv handeln und über einen wirkungsvollen Kanal ihrem sehr berechtigten Zorn Luft machen können“ (S. 54). Und: „Ziviler Ungehorsam kann sich die Militanz zunutze machen, die andernfalls bei Ausschreitungen vergeudet wird. (…) Ziviler Ungehorsam wurde im Norden noch nie auf breiter Basis praktiziert. Der massive Schulboykott der Schwarzen im Norden war die Ausnahme. Er erschütterte das Bildungswesen in seinen Grundfesten, dauerte aber nur Tage“ (S. 24). Und King empfiehlt, dass „so etwas allwöchentlich stattfände und gleichzeitig in Fabriken und an den Fabriktoren in großem Stil Sitzblockaden organisiert würden“ (S. 25), gleichzeitig forderte er den Verbraucherboykott von Coca-Cola und von Firmen der Weißen, deren „Einstellungspraktiken diskriminierend“ (S. 95) sind sowie das Umleiten der Einkommen Schwarzer auf eigene Banken der Schwarzen, das er „eine Bank-in-Bewegung“ (S. 95) nennt.

Gewaltlosigkeit oder Nicht-Existenz

Viel von dieser Strategie erinnert an die Übernahme von Strategien des zivilen Ungehorsams, etwa in der heutigen Ökologie- und Klimabewegung, auch durch frühere Autonome, die sich darauf nicht als überzeugte Gewaltfreie, aber aus sinnvollen taktischen Gründen einlassen konnten. Insofern hat King hier schon viel an einer strategischen Ausweitung zu einer Massenbewegung des zivilen Ungehorsams vorweggenommen.

Gleichzeitig ließ er keinen Zweifel aufkommen über die problematische Mischung, die ein Riot hervorbrachte:

„Die Slums sind für das organisierte Verbrechen ein sicheres Rückzugsgebiet – mit stillschweigender Duldung, wenn nicht gar Verstrickung der Polizei. Es gehört einfach zum Alltag dazu, es vergiftet die Jugend. (…) Es führt dazu, dass sich eine bedeutende Anzahl von Berufsverbrechern an den Unruhen beteiligt, was die Lage nur weiter verschärft. Wenn sich diese Kriminellen mit denen zusammentun, die in die Armut abgerutscht sind bzw. alles verloren haben – und auch sie gibt es in den Slums zuhauf – dann entsteht daraus eine große unsoziale Kraft“ (S. 18f.).

Das galt nicht nur für die damaligen (und gegenwärtigen) Schwarzenviertel in den US-Großstädten, es kann auch als soziale Zustandsbeschreibung für die französischen Banlieues von heute gelten oder auch als Kommentar zum G-20-Riot in Hamburg letzten Sommer.

King forderte wirksame Strategien für massenhaften zivilen Ungehorsam, um eine Aktionsalternative zum Riot zu entwickeln, die auch für Militante attraktiv sein kann. Bei allem Verständnis blieb für King aber ebenso klar, und das vor allem aufgrund der über allem schwebenden Bedrohung durch die Atomrüstung und den Vietnamkrieg:

„Es gibt in dieser Welt keine Wahl mehr zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit. Es gilt: Gewaltlosigkeit oder Nicht-Existenz. Genau an diesem Punkt stehen wir heute. So auch in der Revolution, in der es um die Menschenrechte geht. Wenn nichts getan wird – und zwar schnell – um die farbigen Völker der Welt aus ihrem seit langem bestehenden Zustand der Armut, der Kränkung und der Vernachlässigung herauszubringen, dann ist die ganze Welt zum Untergang verurteilt“ (S. 89).

Das könnte heute genauso als Kommentar zu Syrien gelten.

Unter explizitem Bezug auf den Anarchisten Paul Goodman und dessen 1960 in den USA erschienenes Buch „Aufwachsen im Widerspruch. Über die Entfremdung der Jugend in der verwalteten Welt“ (dt. Übers.: Darmstädter Blätter, Darmstadt 1960) (S. 29) kommt King zu einem libertären Fazit in der Frage der Kampfstrategien:

„Wir müssen den bewaffneten Aufstand ablehnen, ganz gleich, ob er allein seiner Schockwirkung wegen oder mit Eroberungsabsichten propagiert wird. Genauso müssen wir es aber ablehnen, unterwürfig an eine Regierung heranzutreten, die für unsere Appelle ohnehin unempfänglich ist.“ (S. 22).

N.O. Fear

(1) Siehe den wiki-Eintrag zur Poor People's Campaign von 1968: https://en.wikipedia.org/wiki/Poor_People's_Campaign