Johannes Sternstein lernte ich Anfang der Achtzigerjahre im Rahmen der gewaltfreien Aktionen der beginnenden Friedensbewegung kennen. Unsere Heidelberger gewaltfreie Aktionsgruppe ging zurück auf den Internationalen gewaltfreien Marsch für Entmilitarisierung 1980. Die GSG 1 (Gewaltfreie Stuttgarter Gruppe) wurde 1981 gegründet. Von Anfang an bestanden vielfältige Kontakte.
In den folgenden Jahren der Hochzeit der Friedensbewegung sprossen gewaltfreie Aktions- und Bezugsgruppen wie Pilze aus dem Boden; auf dem Höhepunkt 1983 waren es 20 in Heidelberg, 40 in Stuttgart. Es gab die Stuttgarter Kontaktstelle für gewaltfreie Aktion und verschiedene Regionaltreffen gewaltfreier Aktionsgruppen in Stuttgart, oft im Forum 3, wo sich auch die GSG 1 traf. In diesem Umfeld lernte ich Johannes als Totalverweigerer kennen. Später liefen wir uns öfter am Rande der Treffen der GWR-Regionalredaktion Süd in Stuttgart über den Weg, die im Forum 3 stattfanden. Die GSG 1 war damals ein Begriff, der „Schwarze Drachen“ als regionale Beilage zur GWR leuchtendes Vorbild für andere Gruppen.
Schnell verband ich Johannes mit irre guten Plakatkampagnen. Mitte der Achtzigerjahre zum Beispiel produzierte er für die GWR-Werbung eine Hochkant-Plakate-Serie mit Sprüchen wie „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“ oder „Alles wird gut, wir wissen den Weg!“ – der Spruch stand über einem Plakat mit auf den Horizont zulaufenden Schienen, vom Lokführerhaus aufgenommen. Es war – je nach Interpretation – ein ironisches Auf-den-Arm-Nehmen allzu großer Sicherheit, immer recht zu haben, oder einfach Ausdruck eines großen Selbstbewusstseins, das unseren Ansatz in dieser Zeit begleitete, in der wir das Gefühl hatten, wir werden immer mehr. Für die GWR-Jubiläumsfeste und -kongresse in Niederkaufungen (1992), Köln (1997) und Münster (2002) machte er große Ankündigungsplakate. Das Plakat von 2002, „Trau einer über dreißig“, eine Anspielung auf das 30jährige Bestehen der GWR (1972 gegründet), ist noch auf der GWR-Website abgebildet. (1)
Retter vor der Bleiwüste und genialer Typograf
Ganz intensiv wurde aber meine Verbindung mit Johannes, als wir in Heidelberg Mitte 1988 die Redaktion der Zeitung Graswurzelrevolution übernommen hatten. Wir produzierten aus dem Stehgreif und die ersten Ausgaben waren layoutmäßig – wie soll ich sagen – nicht gerade ansprechend gestaltet: Wir liefen Gefahr, optisch in einer endlosen Bleiwüste zu versinken. Da meldete sich ganz unverhofft Johannes aus Stuttgart Ende 1988, Anfang 1989 wie eine Art Retter in der Not: Er würde gern beim Layout der GWR einsteigen und uns helfen, die Zeitung optisch ansprechend zu machen. Und das führte uns zusammen.
Fortan druckten wir in Heidelberg nur die Satzfahnen der Artikel in Spalten aus, mit denen fuhr ich meist nachmittags zwei Tage vor Druck nach Stuttgart, zunächst in Johannes‘ Graphische Werkstatt im Hinterhof der Hauptstätter Straße, danach, ab 1992 in der Immerhoferstraße. Es war meine schönste Zeit mit ihm. Er layoutete die Spalten auf eine Druckvorlage, produzierte die Überschriften mit riesigen, analogen Satzmaschinen, während ich vordem noch Überschriften mit Letraset geklebt hatte. Wenn er sich da vor die Maschine setzte, sprach ich immer vom Platznehmen im „Cockpit“.
Überhaupt hatte er einen hintergründigen Humor, der mich zu Lachanfällen verführte. Er hatte spezielle, ganz eigene, sozusagen Johannessche „Fachausdrücke“ für typische Graswurzel-Layoutprobleme. Sehr lange und umfangreiche theoretische Artikel, für die die GWR berühmt, aber auch berüchtigt wurde, nannte er zum Beispiel „Koffer“. Und zu dunkel reproduzierte Fotos – damals oft der Fall, weil Farbfoto-Vorlagen viel schlechter gedruckt wurden als Schwarz-Weiß-Fotos – nannte er schelmisch „Briketts“.
Er stand also mitunter, sich seine langen Haare raufend, vor der Aufgabe, mal wieder einen Koffer mit mehreren Briketts layouten zu müssen. Dann aber ließ er erst seiner Fantasie freien Lauf.
Er lebte seine besondere Liebe für Typografie aus. Die GWR-Ausgaben, in denen riesige Anfangsbuchstaben der Titel die Seiten prägten und in das Schwarz der Buchstaben gar noch Zitate aus dem Artikel gesetzt waren, gehören m.E. optisch zum Schönsten, was die GWR an Layout zu bieten hatte. Ich las dann die gelayouteten Seiten nochmal Korrektur, denn die Satzfahnenschnipsel konnte er schon mal verwechseln und falsch zusammenkleben – ihm kam es zuerst auf die Gesamtkomposition an. Die fertigen Seiten filmte er und produzierte so die spiegelbildlich verkehrten Druckfolien, die dann in Frankfurt in der Druckerei direkt auf der Druckmaschine befestigt wurden. So verbrachten wir viele Nächte zusammen.
Maren Witthoeft beteiligte sich im Laufe der Jahre immer stärker im Atelier. Erwähnen möchte ich hier die redaktionellen und grafischen Arbeiten von Johannes und Maren für die Reihe der jährlichen Graswurzelkalender, sowohl inhaltlich wie optisch wahre Kleinode. Johannes hatte sich dafür auch um den Vertrieb gekümmert. Sie erschienen durchgängig von 1986 (mitunter auch bei Weber-Zucht) bis 1999. Und als beide zusammen Kunstwerke vollbrachten wie etwa das Layout des offiziellen Kataloges des neuen Paul-Klee-Museums in Bern, wurde mir erst klar, dass ich es hier mit zwei GrafikerInnen zu tun hatte, deren Arbeiten bis weit in die internationale Kunstszene hinein geschätzt wurden.
Von der Zeitungs- zur Buchgestaltung
Langsam zog er sich aus dem Gesamtlayout jeder Ausgabe zurück und ermutigte uns, es selbst zu machen. Ende der Neunzigerjahre versuchten wir dann einfach, sein Layoutkonzept im Grunde zu kopieren, mit ständig erweiterten Abweichungen natürlich. Und Bernd Drücke in der Münsteraner Graswurzelrevolution-Redaktion erinnert sich heute: „Die geklebten GWR-Ausgaben plus Fotos habe ich in den späten Neunzigern und frühen Nuller-Jahren immer mit Overnight nach Stuttgart geschickt, wo Johannes die Vorlagen bearbeitet und danach an Caro-Druck (Frankfurt/M.) weitergeschickt hat.“
Das direkte Bildschirmlayout setzte dann dieser Beteiligung Johannes‘ am Layout der GWR ein Ende. Dafür begannen wir im Kollektiv des Buchverlags Graswurzelrevolution auf seine Künste zurückzugreifen und er entwickelte Layoutvorlagen für die Titelbilder unserer Bücher. Und immer wieder gestaltete er selbst noch Buchtitel für uns, zuletzt noch das Titellayout des 2017 erschienenen Buches von Sebastian Kalicha: „Gewaltfreier Anarchismus & anarchistischer Pazifismus“.
Unser Gestalter innerhalb des Buchverlags schreibt über Johannes: „Ich habe viel von ihm über das Buchlayout gelernt und mir so manches von ihm ‚abgeguckt‘. Vor vielen Jahren war ich mal im Atelier und er hat mir gezeigt, wie er Bilder für den Druck vorbereitet und bearbeitet. Meine ersten Layoutversuche habe ich mir von ihm ‚absegnen‘ lassen, sein Urteil und seine Ratschläge waren mir sehr wichtig. Ohne ihn würden unsere Bücher nicht so ansprechend aussehen. In den letzten Jahren haben wir immer mal wieder telefoniert und uns über die Arbeit und auch ein bisschen über das Leben ausgetauscht. Das war immer angenehm. In Erinnerung wird mir bleiben, dass es so schien, dass ihn so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte.“
In der Tat, Johannes war die Ruhe selbst. Dafür habe ich ihn bewundert, während ich doch selbst äußerst stressanfällig war. Ich bin sehr froh, dass wir ungefähr denselben Musikgeschmack hatten, denn noch 2015, kurz bevor 2016 sein Gehirntumor diagnostiziert wurde, haben wir es geschafft, uns trotz des großen räumlichen Abstands anlässlich einiger Art-Rock-Konzerte zu treffen.
Ich bin heute so dankbar, dass ich ihm da noch ein paar Mal lebensfreudig begegnet bin.
Johannes Sternstein starb am 11. März 2018 im Alter von nur 51 Jahren.
Lou Marin