Für einen neugebildeten Staat in einer turbulenten Nachkriegssituation sind Fragen der Sprache und Linguistik oft weniger wichtig als die Konsolidierung einer Armee und Verwaltung, die Sicherung der Grenzen, die Gewährleistung der Kommunikation, die Produktion von Grundstoffen wie Getreide, Kohle, Stahl, Strom und so weiter. Dies war der Fall, als 1946 die Föderative Volksrepublik Jugoslawien gegründet wurde.
Im November 1945 fanden Parlamentswahlen statt, bei denen sich die von der Kommunistischen Partei geführte Nationale Front alle Sitze sicherte und 1946 eine Regierung der Kommunistischen Partei Jugoslawiens einrichtete.
Nach Reformen im Jahr 1953 experimentierte Jugoslawien mit Ideen der wirtschaftlichen Dezentralisierung und Selbstverwaltung, bei denen ArbeiterInnen sich in die Politik ihrer Fabriken einbringen und einen Teil der eventuellen Überschüsse behalten konnten. Die Rolle der Partei in der Gesellschaft verlagerte sich von Machtmonopolist zum ideologischen Führer. In der Folge wurde der Name der Partei in „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“ geändert. 1963 wurde das Land selbst in „Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien“ umbenannt.
Sprache und Macht
Diese Veränderungen zeigen, dass semantische Überlegungen durchaus mit der politischen Dynamik der Machtausübung und -erhaltung verknüpft waren. Die ideologisierte Sprache der frühen jugoslawischen Zeit trug viele Züge der Diskurse und Schmähungen, die man auch in anderen staatssozialistischen Ländern antreffen konnte. Schwarz-weiße, autoritäre Begriffe wie „Volksfeind“ waren in den unmittelbaren Nachkriegsjahren gebräuchlich, als das Land mit der gleichen stalinistischen Rücksichtslosigkeit wie andere Ostblockstaaten regiert wurde und die Liquidierung realer oder mutmaßlicher GegnerInnen fast alltäglich war. Nach dem Bruch Titos mit Stalin 1948 und dem Ausschluss Jugoslawiens aus der Kominform begann das Land einen unabhängigen Kurs in der Weltpolitik einzuschlagen und mied den Einfluss von West und Ost. Die Entfremdung von der Sowjetunion wurde genutzt, um über den Marshall-Plan US-Hilfe zu erhalten. Auch gründete Jugoslawien die Bewegung der blockfreien Staaten und spielte darin eine führende Rolle. Die ideologische Sprache der 1940er und 50er Jahre begann sich allmählich zu mildern.
Ein bemerkenswerter Schachzug in der frühen jugoslawischen Periode war die Kodifizierung der mazedonischen Sprache, ein langfristiger Prozess, der 1944 seinen Höhepunkt erreichte und in den folgenden Jahren umgesetzt wurde. Seit dem Zusammenbruch der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan war die historische Region Mazedonien ein hart umkämpftes Gebiet, und seine Teilung zwischen Serbien, Griechenland und Bulgarien führte zum Ersten Balkankrieg (1912-13) und Zweiten Balkankrieg (1913). Bulgarien war von März 1941 bis August 1944 ein Verbündeter Nazi-Deutschlands und besetzte während des Zweiten Weltkriegs große Teile Mazedoniens. Nach der Vertreibung der Achsenmächte aus dem südlichen Balkan 1944 konnten die weitgehend kommunistischen und pro-jugoslawischen Partisanen die Kontrolle übernehmen. Die Einrichtung einer nominell getrennten Sprache in der neuen Sozialistischen Republik Mazedonien als Teil Jugoslawiens war ein Weg, diese Macht zu zementieren und dem bulgarischen Einfluss entgegenzuwirken. Bis 1944 war das mazedonische Idiom nämlich weithin als bulgarischer Dialekt angesehen worden. Die neue mazedonische Standardsprache für den Gebrauch in den Medien, in der Verwaltung, in Schulen usw. bezog sich auf die Dialekte um die Städte Prilep und Veles, also in einiger Entfernung vom östlichen Teil des Landes, dessen Dialekte mehr Ähnlichkeit mit dem Bulgarischen besitzen, und eine Version des kyrillischen Alphabets wurde festgelegt, die eher auf der serbischen als auf der bulgarischen Schrift basiert. Die Definition und Formulierung einer Sprache kann als wichtiges Element der „Nationenbildung“ im Interesse der MachthaberInnen angesehen werden. Bulgarisch und Mazedonisch sind auch heute in hohem Maße verwandt und gegenseitig verständlich, aber die Existenz einer separaten und international anerkannten mazedonischen Sprache und Nation ist letztlich ein Produkt der Machtdynamik der 1940er Jahre.
Jugoslawien wurde zunehmend in die Weltwirtschaft integriert. Große westliche Konzerne ließen im Land produzieren, Rohstoffe wurden für den Weltmarkt verkauft, zahlreiche jugoslawische BürgerInnen arbeiteten im Ausland (und schickten häufig Geld nach Hause) und internationale Unternehmen vermarkteten in Jugoslawien ihre Waren – einschließlich „kultureller“ Produkte wie Popmusik. Diese Einflüsse fanden mehr Eingang in die Sprache als in den eher abgeschotteten staatssozialistischen Ländern.
Viele ExpertInnen betrachten die jugoslawische Politik gegenüber Minderheitensprachen als vorbildlich. Obwohl drei Viertel der Bevölkerung Serbokroatisch sprachen, galt auf Bundesebene keine einzige Sprache als „die“ offizielle. Eine Reihe von Gemeinschaftssprachen genossen offiziellen Status in den Teilrepubliken und autonomen Provinzen, z.B. Ungarisch, Russinisch, Slowakisch und Rumänisch in der Vojvodina; Albanisch, Türkisch und Romanes im Kosovo; Italienisch in Kroatien usw. Insgesamt 16 Sprachen wurden von Zeitungen, Radiostationen und Fernsehstudios verwendet, 14 waren Unterrichtssprachen in Schulen und neun an Universitäten. Als Staat, der aus dem Kampf einer multiethnischen PartisanInnenbewegung hervorging, war dies eine faire und progressive Anerkennung der sprachlichen Vielfalt des Landes. Die jugoslawische Volksarmee war die einzige Institution von nationaler Bedeutung, die Serbokroatisch als einzige Arbeits- bzw. Befehlssprache benutzte.
Diese rechtliche Gleichstellung konnte jedoch die De-facto-Dominanz des Serbokroatischen nicht verdecken. Als Sprache von fast 75% der 22 Millionen EinwohnerInnen des Landes und des Machtzentrums in Belgrad fungierte es als inoffizielle Lingua franca. Es war ein Pflichtfach an allen Schulen, während relativ bedeutende kleinere Sprachen wie Slowenisch, Mazedonisch und Albanisch außerhalb der jeweiligen Region nicht unterrichtet wurden. Ihr Status war entsprechend niedrig.
Persönlich war ich entsetzt, als ich das absolute Desinteresse und den offen zur Schau getragenen Abscheu junger SlawistikstudentInnen an der Universität Zagreb (1988-1989) erlebte, als sie einen Semesterkurs der mazedonischen Sprache absolvieren mussten. Als wäre es eine Zumutung für sie, „coole“ TypInnen aus einer nordwestlichen Metropole, diese „primitive“ südbalkanische Hinterwaldsprache zu lernen.
Serbokroatisch
Jeglicher Blick auf die Sprachpolitik Jugoslawiens muss sich hauptsächlich mit Serbokroatisch befassen. Diese südslawische Sprache wurde von fast drei Vierteln der Bevölkerung als Muttersprache gesprochen, von vielen anderen als Zweitsprache.
Eine Sprache mit einer Bandbreite von verschiedenen Dialekten und Varianten. Serbokroatisch wurde von kroatischen und serbischen SchriftstellerInnen und LinguistInnen Mitte des 19. Jahrhunderts im sog. „Wiener Abkommen“ standardisiert. Dieser Schritt traf auf breite Akzeptanz. Von Anfang an gab es leicht unterschiedliche serbische und kroatische Standards, obwohl beide auf dem gleichen Subdialekt (Štokavisch) basierten. Ab 1918 diente Serbokroatisch als Amtssprache des Königreichs Jugoslawien.
Die Idee der linguistischen Standardisierung entspringt häufig dem Streben nach der Schaffung einer Nation und ist somit fester Bestandteil vieler Nationalismen. Jeder Staat ist bestrebt, in die Sprache einzugreifen und Linguistik von einer beschreibenden Disziplin in eine normative Lehre zu verwandeln, die Sprache formen würde, anstatt sie in ihrer Wandelbarkeit und Ausdrucksfreiheit zu dokumentieren. Die nachfolgenden 50 Jahre des sozialistischen Jugoslawiens hindurch, glich die serbokroatische Sprachpolitik einem Balanceakt, bei dem die Politik und die Schlüsselbegriffe angepasst wurden, um ein Gleichgewicht zu wahren. Es war im Interesse des bestehenden Systems, ein gewisses Maß an innerer Vielfalt zuzulassen und gleichzeitig darauf zu bestehen, dass es sich immer noch um eine einheitliche Sprache handele.
1954 unterzeichneten bedeutende SchriftstellerInnen, SprachwissenschaftlerInnen und LiteraturkritikerInnen, die von den großen kulturellen Institutionen Matica srpska in Serbien und Matica hrvatska in Kroatien unterstützt wurden, das Abkommen von Novi Sad. Seine Kernaussage war, dass SerbInnen, KroatInnen und MontenegrinerInnen eine einzige Sprache mit zwei gleichen Varianten teilen, die sich um Zagreb (West) und Belgrad (Ost) entwickelt hat. Die Vereinbarung bestand darauf, dass die lateinische und die kyrillische Schrift den gleichen Status haben und dass die zwei offiziellen Dialekte auf Augenhöhe seien. Es wurde festgelegt, dass der Name der Sprache in offiziellen Zusammenhängen „Serbokroatisch“ sein sollte, während die umgangssprachlichen Bezeichnungen „Serbisch“ und „Kroatisch“ beibehalten werden dürfen. Matica hrvatska und Matica srpska sollten gemeinsam an einem Wörterbuch arbeiten, und ein gemischtes Komitee von Linguisten wurde damit beauftragt, die Kodifizierung der Rechtschreibung vorzubereiten. In den 1960er Jahren wurden beide Bücher gleichzeitig in ijekavischem Lateinisch in Zagreb und ekavischem Kyrillisch in Novi Sad veröffentlicht. Es herrschte ein einheitlicher Geist – ein polyzentrisches Modell sprachlicher Einheit.
Bosnien-Herzegowina war die ethnisch wohl vielfältigste Region Jugoslawiens, und die Menschen dort brauchten eine Beherrschung beider Schriften. Ein Beispiel dafür, wie dies in der Praxis funktionierte, lieferte die Tageszeitung „Oslobo?enje“ (Die Befreiung) aus Sarajewo, die abwechselnd in Lateinisch und Kyrillisch erschien.
Bereits in den 50er Jahren trat der kommunistische Führer und spätere Dissident Milovan ?ilas für eine Abkehr von der zentralen Planung hin zu mehr wirtschaftlicher Autonomie ein. Seine Argumente für mehr demokratischen Einfluss auf die Entscheidungsfindung führten schließlich dazu, dass er den Einparteienstaat selbst und die starre Parteidisziplin hinterfragte. Auch schlug er den Rücktritt von Staatsbeamten vor, die ihre Macht missbrauchten und den Weg der Reform versperrten. Besonders im Nordwesten des Landes waren die 60er Jahre von einer allmählichen Emanzipation von der stalinistischen Politik der Nachkriegsjahre geprägt. Wichtige Reformen Mitte der 60er Jahre führten Elemente der Marktwirtschaft ein, und eine Phase der Demokratisierung im Bund der KommunistInnen zwischen 1966 und 1969 ließ den Parteiorganisationen in den einzelnen Republiken und Regionen eine größere Rolle zukommen.
Als Teil dieser allgemeinen Bewegung in Richtung einer stärkeren regionalen Autonomie und wohl auch im langjährigen Bewusstsein kroatischer Besonderheiten, veröffentlichten kroatische Intellektuelle 1967 eine „Deklaration über die Bezeichnung und Stellung der kroatischen Schriftsprache“, die von ZentristInnen in Belgrad als separatistischer Affront wahrgenommen wurde. Die Matica hrvatska stellte das Novi Sad-Abkommen und die gemeinsame Rechtschreibung in Frage und begann mit der eigenständigen Arbeit, die 1971 in ein kroatisches Orthographie-Handbuch mündete. Das Buch wurde bei der Unterdrückung des „Kroatischen Frühlings“ umgehend verboten, 1972 aber im Ausland veröffentlicht.
Der Wettstreit verschiedener Strömungen im staatstragenden politischen Mainstream fand seinen sprachlichen Ausdruck in verschiedenen Bereichen. In den 80ern gab es zunehmend Einwände gegen die Sprachregelung „Serbokroatisch“ (oder sogar „Kroatoserbisch“), vor allem in Kroatien. Um diesen Sensibilitäten Rechnung zu tragen, wurden in der späten jugoslawischen Periode umständliche Konstruktionen gezimmert, so bezogen sich manche Wörterbücher und Nachschlagwerke auf eine „kroatische oder serbische Sprache“. Was würde einE AusländerIn ohne Kenntnis der komplexen sprachpolitischen Wirklichkeit denken, wenn eine entscheidende Definition – der Name der Sprache – das mehrdeutige Wort „oder“ enthält?!
Seit Ende des Kalten Krieges und dem Untergang Jugoslawiens als geopolitischer Puffer zwischen Ost und West ist die Zersplitterung des ehemaligen Staatsterritoriums von einem Prozess der sprachlichen „Balkanisierung“ begleitet worden. Der vorherrschende Diskurs in Serbien und Kroatien heute besagt, dass sie zwei, wenn auch eng verwandte Sprachen sind. Bosnisch wurde ebenfalls als offizieller Standard in Bosnien-Herzegowina eingeführt, und in Montenegro wurde ein separater Standard (einschließlich zwei neuer Buchstaben!) eingeführt und von der Internationalen Organisation für Normung als eigenständige Sprache anerkannt. Dieser Schritt des marginal führenden prowestlichen Lagers in Montenegro ist eines von vielen Instrumenten einer andauernden geopolitischen Kampagne, um eine eigene montenegrinische Identität zu festigen und letztlich den serbischen Einfluss einzudämmen.
Rein sprachlich hat sich wenig geändert. Viele dieser Veränderungen sind deklarativer Natur und spiegeln die Politik auf einer Überbauebene wider. Trotz der zentrifugalen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte sind die Unterschiede zwischen den Varianten des Serbokroatischen immer noch geringer als beispielsweise zwischen den internationalen Varianten des Englischen. Um es mit den Worten des Gelehrten Branko Franoli? (1980) zu sagen: „Die Sprachpolitik Jugoslawiens besteht aus einer Reihe von Wechseln zwischen zentralistischen und pluralistischen Tendenzen. Diese Tendenzen sind immer vorhanden, nur ihre relativen Schwerpunkte ändern sich. Die Sprachplanung Jugoslawiens ist ein Auswuchs und ein Instrument der politischen Entscheidungsfindung und der allgemeinen sozialen Planung.“
Die Zukunft
Es ist leicht, diese Entwicklungen zu kritisieren, besonders im Nachhinein, und sehr viel schwieriger, eine positive Vision für die Sprachpolitik und -praxis in diesem Teil der Welt zu entwickeln. Die Achtung der Vielfalt sollte ein Hauptanliegen sein. Sprache darf nicht länger als Werkzeug nationalistischer oder machtpolitischer Manipulation verwendet werden.
Einen ermutigenden Anstoß in diese Richtung bietet die „Deklaration zur gemeinsamen Sprache“, die Anfang 2017 nach vorbereitenden regionalen Konferenzen aufgeschlossener AutorInnen und JournalistInnen in Podgorica (Montenegro), Split (Kroatien), Belgrad (Serbien) und Sarajewo (Bosnien und Herzegowina) vorgestellt wurde. Ihre antinationalistischen Thesen stellen einen Gegenpol zur postjugoslawischen Manie des Partikularismus und des „Nationalismus der kleinen Unterschiede“ dar.
Frauenverachtende Sprache ist ein weiteres tief verwurzeltes Problem auf dem Balkan (wie in vielen anderen Ländern auch). Männliche Gewalt, Macho-Kultur und die Abwertung unbezahlter häuslicher Arbeit sind Grundlagen der autoritären und patriarchalischen Gesellschaften, in denen wir leben – und dementsprechend spiegeln sie sich in der Sprache wider. Aber viele Individuen fordern diese Strukturen täglich heraus und versuchen, Kommunikationsformen, die sexistisch, fremdenfeindlich und homophob sind, zu umgehen. Dieses Bewusstsein und dieser Kampf sind gute Voraussetzungen für alle künftigen „makrosprachlichen“ Lösungen und Definitionen, die kommen mögen.
Will Firth