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„1984“ war keine Gebrauchsanleitung!

Das neue Polizeiaufgabengesetz ist ein Meilenstein auf dem Weg zum Überwachungsstaat

| Michèle Winkler

Kommentar

Nach wochenlangen Protesten in ganz Bayern haben schließlich am 10. Mai 2018 in München über 40.000 Menschen gegen die Novellierung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) demonstriert. Am 15. Mai traten nochmals tausende junge Menschen in einen Schülerstreik. Dennoch hat die CSU an diesem Tag das Gesetz mit ihrer absoluten Mehrheit verabschiedet. Es trat am 25. Mai in Kraft und soll als Muster für alle weitere Bundesländer dienen. Ähnliche Gesetzesentwürfe stehen schon parat für Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen. Weitere werden folgen.

Niemand sollte sich darauf ausruhen, dass die Einzelmaßnahmen in diesen Entwürfen nicht das ganze bayerische Gruselkabinett übernehmen. Der Grundtenor ist überall derselbe.

Dabei handelte es sich schon um die zweite drastische Ausweitung der Befugnisse der bayerischen Polizei innerhalb eines Jahres. Bereits 2017 war die neue Begriffskategorie der „drohenden Gefahr“ ins Landesrecht eingeführt worden. Um dieser zu entsprechen, muss keine Straftat begangen werden oder konkret geplant sein. Es ist ausreichend, wenn die Wahrscheinlichkeit begründet ist, dass in überschaubarer Zukunft eine Straftat begangen werden könnte. Übersetzt heißt das, dass die Eingriffsschwelle in den Bereich von Vermutungen vorverlagert wird und keine konkreten Tatsachen mehr notwendig sind, um polizeiliche Maßnahmen anzuwenden. Hier wurde Polizeiwillkür in ein Gesetz gegossen. Eine drohende Gefahr kann aus allem möglichen konstruiert werden. Und sie ist entgegen der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nicht beschränkt auf den Bereich des Terrorismus, sondern soll auch „bedeutende Rechtsgüter“ schützen. Dem Deutschen höchstes Rechtsgut – Eigentum – ist dabei selbstverständlich mit gemeint.

Gefahr erkannt – Gefahr gebannt

Deutlich wird das Ausmaß der totalitären Verschiebung zum Polizeistaat aber erst bei der Betrachtung der Maßnahmen, mit der die Polizei zur Gefahrenabwehr reagieren darf. Einerseits wäre da die Ausspähung, Durchsuchung und Überwachung von technischen Geräten, der Post und selbst der Wohnung, gegebenenfalls sogar via Drohneneinsatz – auch anwendbar auf Dritte. Weiter geht es mit der Kategorisierung von Menschen mithilfe von DNA-Phänotypisierung oder optischer und akustischer Mustererkennung per Algorithmus. „Auffälliges Verhalten“ soll technisch erkennbar gemacht werden – dafür muss allerdings zunächst beschrieben und programmiert sein, was denn als auffällig gelten soll. Automatisierte Diskriminierung und Stigmatisierung – Dystopien per Polizeigesetz. Schließlich gibt es die Möglichkeit der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen aller Art – Kontaktverbote, Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch Aufenthaltsge- und -verbote (Hausarrest und Verbannung), Ausweitung der Möglichkeiten der Gewahrsamnahme und eine zeitlich unbegrenzt mögliche Präventivhaft.

Ein Freiheitsentzug – der schwerwiegendste Grundrechtseingriff – ist nun möglich auf der Basis von Vermutungen und Zuschreibungen durch die Polizei.

Eine Welt, wie sie der CSU gefällt

Das Gesetz ist in jeder Hinsicht ein Tabubruch. Es ist eine Verschiebung zum entgrenzten Präventiv- und Überwachungsstaat, der in die Hände einer übermächtigen Polizei gelegt wird. Es missachtet fundamentale Grundsätze des Rechtsstaats wie die Unschuldsvermutung, die Gewaltenteilung, das Trennungsgebot von Geheimdiensten und Polizeiarbeit. Es greift uferlos in Grund- und Freiheitsrechte ein. Es ist in Einzelteilen und in seiner Gesamtheit eindeutig verfassungswidrig.

Der Skandal ist, dass die CSU es dennoch mit unüberbietbarer Arroganz vorgelegt und beschlossen hat. Es ist unfassbar, dass sie die Dreistigkeit besitzt, es als „ausgewogen“ zu verniedlichen. Dass sie zehntausende Demonstrant*innen ebenso ignoriert und verhöhnt, wie Verfassungsrechtler, indem sie eine nachgelagerte „Informationsoffensive“ starten und eine „Kommission zur Umsetzung“ einsetzen will. Das sagt viel aus über das gesellschaftliche Klima der Gegenwart.

Die CSU setzt ihre autoritäre und menschenfeindliche Politik gerade mit Sieben-Meilen-Stiefeln um: Kasernierung und Entrechtung von Geflüchteten und autoritäre Verhaltenskontrolle aller via Ermächtigung der Polizei. Beginnend in Bayern als Labor und mithilfe des Innenministeriums als Export ins ganze Bundesgebiet. Horst Seehofer als Innenminister ist eine Katastrophe, nicht nur für Geflüchtete und Migrant*innen, sondern für alle, die Grund- und Menschenrechte für eine halbwegs gute Idee halten. Freiheit und Gleichheit entgleiten uns gerade. Und denen, die hierzulande noch nie ganz gleichgestellt waren, wird mittlerweile das Grundrecht darauf gänzlich abgesprochen. Die 40.000 Menschen auf der Straße in München können nur der Beginn eines starken, öffentlichen Widerspruchs gegen die Welt, wie sie der CSU gefällt, gewesen sein. Wir haben alle sehr viel zu verlieren. Wir müssen dabei dieser autoritären Formierung nicht nur unsere Worte und unsere Körper, sondern auch neue Ideen für eine andere Welt entgegen setzen.

Michèle Winkler

Michèle Winkler kommentierte im März 2018 in der GWR 427 die G-20-Gipfelrepression. Sie ist Referentin der Geschäftsstelle beim Komitee für Grundrechte und Demokratie.

Kontakt: www.grundrechtekomitee.de