Die promovierte Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz lebt in Berlin und war von 1979 bis 2007 hauptberuflich wissenschaftliche Referentin für Frauenforschung im Historischen Forschungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie wirkte als Lehrbeauftragte und Vertretungsprofessorin an verschiedenen Unis, war Dozentin an der Internationalen Frauenuniversität in Hannover, Bundesvorsitzende von Pro Familia und von 1985 bis 1997 Redakteurin der Zeitschrift "beiträge zur feministischen theorie und praxis".
Graswurzelrevolution: Du bist seit zehn Jahren Redakteurin der linken Zeitschrift „lunapark21“. Außerdem bist Du aktiv beim Institut für Protest- und Bewegungsforschung und im Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung. Du schreibst feministische Bücher und oft Artikel u.a. für die Graswurzelrevolution, die „junge Welt“, taz und „Frankfurter Rundschau“. Wie bist Du aufgewachsen? Wie fing Dein persönliches, politisches Engagement an? Was hat Dich geprägt und stand am Anfang Deiner Politisierung?
Gisela Notz: Das weiß ich nicht mehr. Mein Großvater hat mich schon als Kind zu den Demonstrationen zum Ersten Mai mitgenommen. Er war ein klassenbewußter Industriearbeiter. Nachdem sich die USPD aufgelöst hatte, war er Anarcho-Syndikalist geworden. Wir wohnten in einer Arbeitersiedlung, die er mit gegründet hatte und die im letzten Jahr ihr 100jähriges Bestehen feiern konnte. Von ihm hab ich vieles gelernt. Unter anderem, dass man den Rücken nie vor einer vermeintlichen Autorität beugen soll. Und dass es zwar schwer ist aber nicht unmöglich, gegen den Strom zu schwimmen. Auch, dass eine aufrechte Person ihr Mäntelchen nicht nach dem gerade wehenden Wind hängen kann. Das scheinen heute alte Sprüche zu sein, aber mich haben sie geprägt. Ich hätte sie ja auch vergessen können, denn nicht selten hatte ich es schwer damit.
GWR: Im Mai 1968 warst Du 26 Jahre alt. Wie hast Du „68“ persönlich erlebt?
Gisela Notz: Eigentlich war ich ja schon zu alt für die StudentInnenbewegung. Zudem habe ich erst 1972, nachdem ich in eine Wohngemeinschaft gezogen war, ein Studium begonnen. 1968 lebte ich in einer „planlos aus dem Boden gestampften Neubausiedlung“ (Zitat von damals) am Stadtrand von Berlin. Das heißt, es fehlte die notwendige Infrastruktur, was wir damals kollektiv beklagten. Ich gründete mit anderen Unzufriedenen jungen Menschen eine Bürgerinitiative: Selbsthilfe Falkenhagener Feld (SFF). Bürgerinitiativen schossen seit 1968 wie Pilze aus dem Boden. Sie trugen die Revolte vom Universitätscampus in die Stadt und an die Stadtränder. Das war eine politische Gemeinwesenarbeit, außerinstitutionell und außerparlamentarisch, die mit dem heute propagierten Bürgerschaftlichen Engagement, durch das Löcher im sozialen Netz gestopft werden sollen, wenig gemeinsam hatte. Wir beließen es nicht beim Jammern oder bei der caritativen Hilfe, sondern wurden aktiv: Wir kämpften unter anderem für einen Kindergarten und gründeten eine Eltern-Kind-Initiative, wir wollten einen Spielplatz für unsere Kinder, bekamen ihn nicht und bauten selber einen, wir besetzten ein Clubheim, das geschlossen werden sollte, wollten es in Selbstverwaltung übernehmen und kamen das erste Mal mit einem ungeheuren Polizeiaufgebot in Kontakt. Wir gründeten mit einer durch die Eltern gewählten Lehrerin eine Schulinitiative mit antiautoritärem Konzept und mischten uns außerparlamentarisch nicht nur in die Bezirkspolitik ein, sondern kämpften auch für kleinere Schulklassen für alle Kinder, Eltern und Lehrer. Da wir in meinem großen Mietshaus abwechselnd kochten und die Kinder betreuten, konnte ich mit anderen Frauen zu Uni-Vorlesungen gehen und war auch bei den wichtigsten Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg, gegen die Notstandsgesetze, bei den Protesten gegen den Springer-Konzern und anlässlich des Attentats auf Rudi Dutschke dabei. In den meisten Bürgerinitiativen spielten Frauen in diesen Jahren eine große Rolle, so auch in meiner. Als das Bezirksamt uns zum Gespräch „eingeladen“ hatte, und uns vorschlug, wir sollten doch Ruhe geben und endlich praktisch was für die BürgerInnen tun und „Banken“ aufstellen – sie meinten Parkbänke – stellten wir eine auf und schrieben in großen Lettern darauf: „Unruhe ist die erste Bürgerpflicht“. Daraufhin organisierten wir eine Demo, bei der es um den Bau einer Schule ging. Es war die größte Demo, die das Falkenhagener Feld je erlebt hatte.
GWR: Im Mai 2008 erschien in der GWR 329 ein feministischer Rückblick von Dir auf die 68er Frauenbewegung und Studentenbewegung. Warum flogen die Tomaten?
Gisela Notz: Weil den Frauen die Hutschnur riss. Die Tomaten waren schon lange reif. Der Beginn der Neuen Frauenbewegungen kann zurecht – auch wenn Wolfgang Kraushaar anderer Meinung ist – mit der Rede der Filmemacherin Helke Sander gleichgesetzt werden, die sie am 13. September 1968 als Delegierte des Westberliner Aktionsrates zur Befreiung der Frau auf der 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt/Main gehalten hat. In dieser Rede warf sie den männlichen SDS-Mitgliedern vor, die spezifische Ausbeutung der Frauen im privaten Bereich zu tabuisieren. Sie bezeichnete den SDS als „ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse“, als eine Organisation, die bestimmte Bereiche des Lebens vom gesellschaftlichen abtrenne und tabuisiere, indem sie ihnen das Etikett „Privatleben“ gebe. Ihre Rede schloss sie mit den Worten: „Genossen, wenn ihr zu dieser Diskussion, die inhaltlich geführt werden muss, nicht bereit seid, dann müssen wir allerdings feststellen, dass der SDS nichts weiter ist als ein aufgeblasener, konterrevolutionärer Hefeteig. Die Genossinnen werden dann ihre Konsequenzen zu ziehen wissen.“
Da die männlichen Delegierten nicht bereit waren, ihre Thesen zu diskutieren, und weder der nächste Redner, Hans-Jürgen Krahl, mit einem einzigen Wort auf ihren provokanten Beitrag einging, noch der ausschließlich männlich besetzte SDS-Vorstand sich einmischte, bewarf die Berliner Soziologiestudentin Sigrid Rüger die bekannte SDS-Führungsfigur und Mitglied des SDS-Bundesvorstandes Hans-Jürgen Krahl, mit Tomaten, von denen auch die am übrigen SDS-Vorstandstisch Sitzenden etwas abbekamen.
Die heftig umstrittene, bis heute anhaltende Diskussion um den Frankfurter Tomatenwurf lässt sich als Anzeichen für die außerordentliche Bedeutung lesen, die diesem Gründungsereignis der Neuen Frauenbewegungen später beigemessen wurde. Schließlich lösten weniger die Tomaten den Tumult aus, als vielmehr die Tatsache, dass diese Form des Protests nicht gegen das so genannte Establishments gerichtet war, sondern gegen den Kopf eines bewunderten Theoretikers der Bewegung. Die Rede Helke Sanders und der durchaus nicht von allen – auch nicht von allen SDS-Frauen – gebilligte Tomatenwurf führten noch am gleichen Tag zur Gründung von „Weiberräten“ durch Frauen der verschiedenen SDS-Landesverbände. Sie verfassten Resolutionen, die am nächsten Vormittag verlesen wurden. Diesen Aktionen folgte die Gründung von Frauengruppen in vielen deutschen Universitätsstädten und später auch in anderen größeren und kleineren Orten der Bundesrepublik. Das war nicht erst 1971, wie Wolfgang Kraushaar und auch Alice Schwarzer behaupten, weil damals die außerordentlich wichtige Kampagne „Wir haben abgetrieben“ losgetreten wurde, deren Bedeutung freilich nicht kleingeredet werden darf.
GWR: Was sind für Dich die wichtigsten Errungenschaften der „68er-Bewegung“ und der Neuen Frauenbewegungen seit 1968?
Gisela Notz: Die Revolten von 1968 haben ihre Spuren hinterlassen, auch wenn die Versprechen nicht alle eingelöst wurden. Das waren vor allem die Proteste gegen den Vietnamkrieg, gegen die drohende Verabschiedung der Notstandsgesetze und die Anti-Springer-Kampagne. Die Neuen Frauenbewegungen in der BRD werden oft als „Revolte in der Revolte“ bezeichnet. Sie können mit einer gewissen Berechtigung als Folge der Studentenbewegung von 1967/68 beschrieben werden, schließlich waren die zunächst beteiligten Frauen Teil der Studentenbewegung. Der Weiberrat appellierte mit dem Tomatenwurf und einigen folgenden Aktionen allerdings bereits an einen Verband, der seine Forderungen gar nicht mehr umsetzen konnte. Nachdem der SDS sich 1970 aufgelöst hatte und in zahlreiche, zum Teil einander bekämpfende ideologische Strömungen und Kleinparteien zerfallen war, ging die Frauenbewegung endgültig getrennte Wege. Es kam zur Verwirklichung eigener frauenspezifischer Projekte und zur Gründung von sich rasch ausbreitenden selbstständigen Organisationsformen, die Hierarchien als patriarchal ablehnten. Auf diese beziehe ich mich.
Für mich ist es vor allem der radikale Einspruch gegen die wenigen, engen, für Frauen damals vorgesehenen Lebenswege. Ich bin ja in den 1950er Jahren „groß“ geworden und habe die restriktive Frauen- und Familienpolitik der Adenauer-Regierung erlebt. Mit dem Anspruch „Das Private ist politisch“ wurde ein neues Selbstverständnis des Politischen eingeklagt, das bis heute wirkt, aber leider noch lange nicht überall wirksam wird. Der traditionell männliche Politikbegriff sollte um die politische Dimension und die Veränderbarkeit scheinbar privater Beziehungsstrukturen erweitert werden. Es ging um eine zentrale Kritik der patriarchalen Abhängigkeit und Unterdrückung und damit um eine grundlegende Veränderung des linken Politikverständnisses. Auch verblüfft – wenn man sich heute als Historikerin mit dem Thema beschäftigt – die internationale Gleichzeitigkeit des feministischen Aufbruchs. In vielen Ländern gingen die Menschen auf die Straße. Besonders Frauen wehrten sich gegen Rollenzuschreibungen und die Macht von Staat und Kirche über ihre Gebärfähigkeit und das Absprechen ihrer reproduktiven Selbstbestimmung und die Zwangsheterosexualität. Und sie gingen gegen Gewalt gegenüber Frauen und Kindern auf die Straße; bis dahin ein Tabuthema.
Konkret waren es die Kinderläden und Wohngemeinschaften, die auch Auswirkungen auf Verhaltens- und Umgangsformen in den öffentlichen Einrichtungen, in den Familien und Zusammenlebensformen und auf die Gesetzgebung hatten. Die Aktionsformen und der Politikstil in Form von personenzentrierten, egalitären, offenen Gruppen und regionalen und internationalen Netzwerken förderte nicht nur die Kompetenzbildung innerhalb der eigenen Reihen, sondern beeinflusste die Mitte der 1970er Jahre entstandenen sozialen Bewegungen, Projekte der alternativen Ökonomie und Kollektive. Sie zu verteidigen und weiter zu entwickeln, ist das Gebot der Stunde. Auch haben sich nicht nur die Universitäten geändert. Die Bildungsreform der 1970er Jahre – eine Errungenschaft der 68er – hat es für viele Frauen ermöglicht, dass Bildung auch für sie zugänglich wurde. Schade, dass sie irgendwann stecken blieb und heute wieder zurückgedreht wird.
GWR: In den Talkshows und Massenmedien wird derzeit ein Anti-68er-Zerrbild gezeichnet, vor allem auch durch AfD- und CSU-Politiker*innen, aber auch durch mittlerweile nach rechts abgedriftete oder wirre Ex-68er wie Rainer Langhans und Co. Wie können wir dieser reaktionären Geschichtsverdrehung entgegenwirken?
Gisela Notz: Ja, wie macht man eine neue Revolte? Das ist doch die Frage? Es sind ja nicht nur die Rechten in AFD, CSU und CDU – zum Teil auch in anderen Parteien, wie Du schon sagst, sind es viele Ex-68er, die sich distanzieren, oder gar nicht mehr wahr haben wollen, dass sie dabei waren. Manche „begradigen“ ihren Lebenslauf oder versinken in Schweigen. Andere schwärmen von den „alten Tagen“ und rühmen sich ihrer Taten. Am schlimmsten finde ich die 68er, die scheinbar vergessen haben, was sie einmal wollten, warum sie die Welt verändern wollten und dass es auch heute noch Grund dafür gibt.
1968 ist zu einem Mythos geworden, zu einer Chiffre für eine Revolte, die so viel in Gang gesetzt und so viel angestoßen hat, dass sie gerade mit diesem „runden“ Jubiläum zum Buhmann für alles Mögliche taugt. Bereits in den 1990er Jahren bin ich gebeten worden, einen Artikel über die „Mitschuld“ der Linken bei der zunehmenden Gewaltbereitschaft, besonders unter den Jugendlichen, zu schreiben.
„Falsch erzogen“ – war die am weitesten verbreitete Antwort. Verantwortlich gemacht wurden Eltern und Lehrer, vor allem aber Mütter für die antiautoritäre Erziehung, die an allem schuld war. „Linke Lehrer – rechte Schüler“, titelte der Spiegel. Heute ist es ja sogar Hartz IV, die Herausbildung der gesamten Rechten und Antisemiten, aber auch die Gründung der Partei die Linke, wofür die 68er verantwortlich gemacht werden.
Neue Mütterlichkeit und Familienideologie werden auch von vielen jungen Menschen wieder groß geschrieben. Beklagt werden die „Doppelbelastung“ und das „Vereinbarkeitsproblem“ von jeder Frauengeneration aufs Neue. Dass es die „alte Ordnung“ der einzigen richtigen Lebensform von Vater-Mutter-Kind ist, die gerade Konservative wieder herstellen wollen, die Probleme verursacht und den Blick auf kollektive Lebensformen verstellt, gerät dabei aus dem Blick. Gut, dass sich seit etlichen Jahren wieder feministischer Widerstand regt. Einige politische Aktionen, z.B. zum wieder entdeckten Internationalen Frauentag, Bündnisse gegen selbsternannte „Lebensschützer“, zu denen tausende von vorwiegend jungen Frauen den Protest wieder auf die Straße tragen, lassen hoffen.
GWR: Der § 219a StGB stellt ärztliche Aufklärung über Abtreibung noch immer unter Strafe, fundamentalistische Christ*innen bedrohen Ärzt*innen, die Abtreibungen vornehmen. Das führt dazu, dass es in katholisch dominierten Städten [wie z.B. in Münster] oft gar keine Ärzt*innen gibt, die einen solchen Eingriff anbieten. Du engagierst Dich auch gegen die „1000-Kreuze-Märsche“ militanter Abtreibungsgegner*innen. Wie schätzt Du die Gefahren des sozialen Rollbacks ein? Und wie die Chancen durch Druck von unten etwa die Paragraphen 218 und 219a abzuschaffen?
Gisela Notz: Der § 218 steht seit 1871 und der § 219a seit der Zeit des Nazifaschismus (obwohl es schon vorher Bestrebungen gab, ist er damals erst eingeführt worden) im deutschen Strafgesetzbuch. Seitdem haben sie sich kaum verändert. Es war der Neuen Frauenbewegung zu verdanken, die in Westdeutschland den Protest gegen das geltende Strafrecht auf die Straße trug und die ersatzlose Streichung des § 218 (damit wären auch 219a und b überflüssig geworden), umfassende sexuelle Aufklärung für alle, selbstbestimmte Sexualität und freien Zugang zu Verhütungsmitteln forderte, dass sich in den 1970er Jahren etwas bewegte. Auf der anderen Seite war es konservativen PolitikerInnen und den christlichen Kirchen (nicht nur den Evangelikalen) zu verdanken, dass sie sich nicht durchsetzen konnten. (In der DDR war 1972 eine Fristenlösung ohne Zwangsberatung und ohne Informationsverbot eingeführt worden, die mit der „Wiedervereinigung“ – trotz heftiger Proteste von Ost- und Westfeministinnen – wieder zurückgenommen werden mußte.)
Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland gemäß § 218 Strafgesetzbuch (StGB) grundsätzlich für alle Beteiligten verboten und strafbar und kann mit Haftstrafen geahndet werden. Es gelten aber Ausnahmen, die durch die Paragrafen 218a, 218b, 218c und 219a und b geregelt sind. Liegen diese Voraussetzungen vor, kann keiner der am Schwangerschaftsabbruch Beteiligten bestraft werden. Also kann ein Arzt oder eine Ärztin, wenn das Gesetz (die bestimmten Bedingungen) eingehalten wird, Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Wieso darf sie/er dann nicht darauf hinweisen oder darüber informieren, dass sie diese Dienstleistung auch anbietet?
Weil nach § 219a StGB bestraft werden kann, wenn jemand a) wegen des eigenen Vermögensvorteils willen oder b) in grob anstößiger Weise „öffentlich eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekannt gibt“. Diesen Straftatbestand erfüllen im Prinzip alle Ärzte, die in irgendeiner Form bekannt geben, dass sie Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch beabsichtigen, unterstützen.
Es gilt also die alte Forderung der 70er Jahre Frauenbewegung: Ersatzlose Streichung der §§ 218 und 219 aus dem Strafgesetzbuch. Dafür tritt das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung ein und das ist auch Beschlusslage des Pro-Familia-Bundesverbandes. Wir kämpfen also weiter.
GWR: Vor drei Jahren erschien Dein Buch „Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes“ im Schmetterling-Verlag. Was ist unter „Familismus“ zu verstehen? Was ist die Quintessenz des Familismus und was die Hauptthese Deines Buches?
Gisela Notz: Ich kritisiere, wie der Titel schon sagt, das ideologische Gemälde, das die Ideologie DER weißen heterosexuellen Vater-Mutter-Kind-Familie als „Normalfamilie“, als einzige gültige Lebensform in den Mittelpunkt stellt. Diese Ideologie nenne ich Familismus. Nach dem Wörterbuch der Soziologie ist Familismus die „Herrschaft der Familie“ und eine „soziologische Bezeichnung für eine Sozialstruktur, in der ( ) die Familie die für die soziale Existenz des einzelnen Menschen wie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zentrale soziale Instanz darstellt“. Damit werden alle anderen Lebensformen ausgegrenzt und diskriminiert.
Meine Wunsch- oder Zielvorstellung wäre die Gleichstellung aller Lebensformen, mit und ohne (eigene) Kinder. Die wäre erst dann erreicht, wenn keine Lebensform bevorzugt und keine benachteiligt wird. Voraussetzung ist, dass niemand ausgebeutet, unterdrückt oder seinen eigenen Interessen widersprechend behandelt wird. Es sollte keine Rolle spielen, ob Menschen alleine, zu zweit oder in Gemeinschaften und Kommunen mit oder ohne (eigene) Kinder, monogam oder polygam, homo, hetero, bisexuell oder in anderen (nicht-)sexuellen Beziehungen friedlich zusammenleben, und auch nicht, aus welchem Land sie kommen, wo sie hingehen, welche Hautfarbe sie haben und welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen wollen. Es geht um die Möglichkeit von freien Zusammenschlüssen unter freien Menschen ohne Unterdrückung und Gewalt.
GWR: Der in den letzten Jahren entstandene Netzfeminismus ist einerseits eine kritisch-feministische Perspektive auf netzpolitische Themen, anderseits sind darunter die Aktivist*innen zu verstehen, die sich im Internet für feministische Themen engagieren. Der Satiriker Jan Böhmermann witzelte, das Gute am modernen Feminismus sei, dass außerhalb des Netzes niemand etwas davon mitbekomme. Was sagst Du dazu?
Gisela Notz: Ich bin ja noch old school. Ich bin nicht sehr aktiv im Netz, weil mir die Informationen über die Printmedien noch wichtiger sind. Und warum – im Ernst – sollte es gut sein, wenn außerhalb des Netzes niemand etwas davon mitbekommt. Der (Queer)Feminismus ist heute bunt, das gilt innerhalb und außerhalb des Netzes
Das Netz ist dazu da, dass viele davon erfahren.
GWR: Wie schätzt Du die #MeToo-Kampagne ein?
Gisela Notz: Wie die 68er Frauenbewegung die Gewalt innerhalb von Familie und „privaten“ Beziehungen von dem Tabu befreit hat, tut es auch die MeToo-Bewegung mit der sexuellen Gewalt und sexistischen Anmache.
Das muss allerdings weiter gehen. Es muss nach den Ursachen gefragt, warum sich Männer in dieser patriarchalen Gesellschaft so viel herausnehmen können. Es müssen Strategien zur Veränderung entwickelt werden.
GWR: Im Feminismus gibt es auch problematische Strömungen. So bezeichnet sich die Kriegsministerin Ursula von der Leyen (CDU) als „konservative Feministin“. Während unter anderem die Graswurzelrevolution seit 1972 für die Abschaffung aller Armeen kämpft, hat Alice Schwarzer mit ihrer erfolgreichen und aus antimilitaristischer Sicht absurden „Frauen zum Bund“-Kampagne gezeigt, dass Feminismus nicht automatisch emanzipatorisch ist, sondern auch zur Modernisierung von Armeen führen kann. Wie siehst Du das?
Gisela Notz: „Wir“ von den „beiträgen zur feministischen theorie und praxis“ wollten immer die gesamte Armee abschaffen und konnten daher keine emanzipatorischen Gehalte in der Einbeziehung von Frauen sehen. Dazu stehe ich auch heute noch. Zudem kann Feminismus für mich nie konservativ sein. Dann ist es kein Feminismus.
Ich vertrete einen kritischen-emanzipatorischen Feminismus, der die kapitalistisch-patriarchalisch geprägte Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft in den Mittelpunkt der Kritik stellt und Vorstellungen sowie Handlungsstrategien, Aktionen und Kampagnen entwickelt zur gesellschaftspolitischen Veränderung, hin zu einem gleichwertigen Miteinander verschiedener Geschlechter und zu einem anderen, besseren Leben – weltweit und für alle.
GWR: Für mich sind emanzipatorischer Feminismus und Anarchismus zwei Bewegungen, die zu Ende gedacht ein gemeinsames Ziel haben, eine freiheitlich-sozialistische, klassenlose, herrschafts- und gewaltfreie Gesellschaft. Was verstehst Du unter Feminismus? Was unter Anarchismus? Wie siehst Du das Verhältnis von Feminismus und Anarchismus zueinander?
Gisela Notz: Was ich unter Feminismus verstehe, hab ich schon gesagt. Die Gruppe „Brot und Rosen“ der Neuen Frauenbewegungen formulierte damals: „So viel ist heute sicher, dass es keinen Feminismus ohne Sozialismus geben kann und keinen Sozialismus ohne Feminismus“.
Das war durchaus nicht Konsens, aber ich sehe das immer noch so. Damit vertrete ich auch „Deinen Feminismus“ – den Du anarchistisch nennst. Oder?
Ich will gar nicht in Schubladen. Wichtig ist angesichts des nicht mehr zu übersehenden Rechtsruck, dass wir an einem Strang ziehen und uns nicht in Flügelkämpfen verausgaben.
Wir sollten den Begriff „Feminismus“ benutzen und feministische Theorie wieder mit der feministischen Praxis verbinden. Wir brauchen breite Bündnisse zur Organisierung von Protest und Widerstand gegen Privatisierung, Ausgrenzung, Gewalt und Unterdrückung, auch von Menschen aus anderen Ländern und für Emanzipation, mehr Demokratie, Selbstverwaltung und Selbstbestimmung – gegen die „neuen Rechten“ in Parteien, in Institutionen und in der „Zivilgesellschaft“, für Frieden und für den Erhalt der Mit- und Umwelt.
GWR: Du bist heute mit 76 Jahren immer noch sehr aktiv in den feministischen und anderen emanzipatorischen, sozialen Bewegungen. Was macht Dir Hoffnung? Was gibt Dir die Kraft für Dein Engagement?
Gisela Notz: Was uns allen Mut macht, ist, dass heute wieder Kämpfe geführt werden. 50 Jahre nach dem Aufbruch von 1968 wird deutlich, dass sich Feminismus als solidarisches Projekt noch lange nicht erledigt hat. Die Themen der alten und neuen Frauenbewegung haben sich keineswegs erschöpft. Sie werden von jüngeren FeministInnen aufgenommen und ergänzt.
Die Zeiten sind heute anders, aber nicht besser und wahrscheinlich auch nicht schlechter, als zu Zeiten von Milly Witkop und Clara Zetkin, die haben auch nicht aufgegeben.
Angesichts des nicht mehr zu übersehenden Rechtsrucks gilt noch immer der Spruch, den wir auf die Parkbank schrieben: Unruhe ist die erste Bürgerpflicht.
Interview: Bernd Drücke
Das Interview wurde per E-Mail geführt.