wir sind nicht alleine

Rojava – nach der türkischen Invasion in Afrin

Ein Reisebericht

| Michael Wilk

Dr. Michael Wilk, Notarzt und Psychotherapeut, reist seit 2014 regelmäßig nach Rojava/Nordsyrien. Er unterstützt dort den Kurdischen Roten Halbmond Heyva sor a kurd, der ein wesentliches Element der Gesundheitsversorgung in der Region darstellt. Hsak betreibt Ambulanzen und Apotheken, unterstützt Krankenhäuser, versorgt die Bevölkerung in Kampfgebieten und stellt die medizinische Hilfe in Flüchtlingslagern sicher. Bei seinem vorletzten Aufenthalt war Michael Wilk in Rakka, wo er als Notfallmediziner Verletzte versorgte und HelferInnen von Hsak ausbildete. Im März 2018 reiste er erneut in den Irak und Syrien. Über das Sinjar-Gebiet, wo er die Hilfsorganisation Hoffnungsschimmer in medizinische Fragen bei der Unterstützung jesidischer Projekte beriet, fuhr er weiter nach Rojava und von hier mit einem Hilfskonvoi in die Region Afrin/Schahba.

Bagdad, Sinjar, März 2018

Nach sechsstündiger Fahrt von Bagdad über zum Teil zerstörte Straßen und nach dem Passieren unzähliger Kontrollpunkte, erreichen wir Mosul. Zerbombte Häuser und Straßenzüge zeichnen die vormalige Millionenstadt. Zwei weitere Stunden bis Khanasur. Früher lebten hier 45.000 Menschen – bis zum 3. August 2014, als der IS über die Jesiden in der Region Schengal/Sinjar herfiel. Die Peschmerga, für die militärische Verteidigung im kurdischen Teil des Iraks zuständig, flohen und überließen die Menschen dem IS, der mordete, vergewaltigte und versklavte. Heute leben in der Stadt nur noch 3.000 Menschen. Der Genozid an den Jesiden forderte abertausende Opfer, die Schätzungen der entführten und versklavten Frauen und Kinder belaufen sich auf über 10.000, viele Menschen überlebten nur, weil sie sich, ums nackte Leben rennend, in die nahen Berge retteten. Wir stoßen auf Menschen, deren Erzählungen mit erschreckender Deutlichkeit klarmachen, dass die erlittenen Ängste und Qualen, nicht mit der Befreiung vom IS endeten. Syrische YPG- und türkische PKK-Einheiten vertrieben im Mai 2017 den IS, aber die seelischen Verletzungen blieben, ebenso wie die grauenhafte Ungewissheit über den Verbleib tausender Frauen und Kinder.

Beim Besuch der kleinen Klinik, betrieben von der regionalen Selbstverwaltung der jesidischen Kurden der Region, sprechen wir mit dem anwesenden gynäkologischen Kollegen und der Allgemeinärztin. Über sechzig Kranke pro Tag suchen um Hilfe nach, die einzige öffentliche Anlaufstelle der Region ist mehr schlecht als recht ausgestattet. Es existiert kein Röntgengerät, ebenso wenig wie ein OP, alle schwerer Erkrankten müssen über eineinhalb Stunden ins nächste Krankenhaus transportiert werden. Eine psychologische Hilfe für die traumatisierten Menschen gibt es nicht, so die Ärztin. Die KollegInnen und die Mitglieder der jesidischen Selbstverwaltung fühlen sich im Stich gelassen, vergessen von den Mächtigen der Politik. Bagdad ist weit und toleriert gerade mal so die Selbstverwaltungsstrukturen, die sich an das Gesellschaftsmodell Rojavas in Nordsyrien anlehnen. Um die Ausdehnung der jesidischen-kurdischen Autonomie zu begrenzen, verlegte die Regierung nach dem unrühmlichen Abzug der Peschmerga, schiitische Milizsoldaten in das Gebiet. Von weiterer materieller Unterstützung jedoch keine Spur, Sinjar-Stadt, die ehemals größte Ansiedlung der Region, liegt zu großen Teilen in Trümmern. Wir besuchen eine Schule, zerbrochene Fenster durch die der Wind pfeift, während sich frisch ausgebildete LehrerInnen um Unterricht bemühen.

Die Fahrt hinauf ins 1550 Meter hohe Gebirge führt uns vorbei an Gräbern der getöteten Kämpfer und Kämpferinnen, die den Rückzug der vor dem IS fliehenden Menschen deckten und anderen, die vor nicht mal einem Jahr die islamischen Fundamentalisten aus dem Gebiet vertrieben. In den hochgelegenen Tälern stehen hunderte Zelte, in denen, unter den extremen Witterungsbedingungen leidend, Flüchtlinge auf eine ungewisse Zukunft sehen. Die einzige Ärztin hier oben, arbeitet unentgeltlich in der kleinen, aus Containern bestehenden Station. Die Helferinnen und die Kollegin selbst, versuchen die marginale Ausstattung durch Enthusiasmus und Durchhaltevermögen wettzumachen. Die Menschen, vor allem Frauen mit kleinen Kindern, stehen geduldig Schlange, bis sie behandelt werden. Auf dem Gipfel des Gebirges ein jesidisches Heiligtum, Zeugnis einer Jahrtausende alten Kultur, die unzähligen mörderischen Anfeindungen ausgesetzt, um ihr Überleben kämpft. Nach den Attacken des IS, leben von den 600.000 Jesiden, die im Schengal lebten, um die 330.000 in Flüchtlingslagern, weitere 200.000 im Ausland, nur 120.000 leben noch vor Ort. Immer wieder fahren wir an Dörfern vorbei, in denen niemand mehr lebt. Bis zu 14.000 Menschen fielen dem Morden des IS zum Opfer, erzählt uns unser Begleiter Hassan. Viele Orte können immer noch nicht betreten werden – die Minen, eine Hinterlassenschaft des IS, sind immer noch scharf und töten. Wir diskutieren lange darüber, wie das Prinzip der Nachhaltigkeit unter den hiesigen Umständen umsetzbar wäre. Unterstützung von Ausbildung und Gesundheitshilfe sind der entscheidende Ansatz. Die Finanzierung eines weiteren Arztes für einen längeren Zeitraum wäre sinnvoll, flankiert von einer besseren Ausstattung der Klinik. Ebenso wäre eine Verbesserung der Schulausstattung hilfreich, auch mit zeitgemäßen Materialien. Beides nicht als Einmalhilfe, sondern im begleitenden Austausch von Informationen über Fort- oder auch Rückschritte im Entwicklungsprozess. Erfolgreich Hilfe in dieses Gebiet zu bringen, ist unabdingbar an gute stabile Kontakte zu den Strukturen vor Ort geknüpft, soll sie nicht wie Wasser im Sand versickern. Die Menschen, die uns begegnen, ihr Bemühen um Wiederaufbau, ihre trotz aller Widrigkeiten beeindruckender Durchhaltewillen, sind ein Moment der Hoffnung. Alle Gespräche, die wir führen, sind jedoch überschattet von den Nachrichten aus Afrin. Die türkischen Angriffe seit Januar dieses Jahres belasten die Menschen im Schengal in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur die Verbundenheit zu ihren kurdischen und jesidischen Brüdern und Schwestern in Afrin ist es, sondern die als ganz konkrete Gefahr empfundene Möglichkeit, dass die Türkei auch ihr Gebiet attackieren könnte. Sei es durch Bombardierungen von militärischen Stellungen der PKK, was nichts Neues wäre, oder auch durch militärische Interventionen am Boden.

Quamishlo – Rojava/Nordsyrien…

Nach der Grenzüberquerung und mehreren Stunden Weiterfahrt, befinde ich mich im Hauptquartier von Heyva sor a kurd in Quamishlo, der Hauptstadt des Gebietes Rojava. Eigentlich hatte ich hier nur einen Zwischenstopp eingeplant. Die ursprüngliche Absicht von hier aus bis nach Afrin weiter zu reisen, um die vor Ort befindlichen Kräfte vom kurdischen Halbmond zu unterstützen, war jedoch unmöglich geworden. Die türkische Armee und ihre fundamental-islamistischen Hilfstruppen hatten Afrin-Stadt gestürmt, hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Mit Beginn der türkischen Offensive am 20. Januar 2018, entsandte Hsak aus Cesire, dem östlichen gelegenen Kanton Rojavas, mehrere Rettungswagen mit Besatzung nach Afrin, um die dort tätigen Rettungskräfte zu verstärken.

Cemila Heme, Co-Vorsitzende von Heyva Sor, die bei dieser Mission dabei war, trifft am selben Abend wie ich in Quamishlo ein. Die Erschöpfung ist ihr anzusehen, sie berichtet über andauernden Beschuss und Bombardierungen durch die türkische Luftwaffe. Sie schildert die Situation der letzten Tage in Afrin-Stadt, kurz bevor die türkische Armee einrückte. Nach der Zerstörung der umliegenden Ortschaften durch die vorrückende türkische Armee und ihre Hilfstruppen, befinden sich mehrere hunderttausend Menschen in der Stadt. Seit Tagen schlagen Bomben im Zentrum der Stadt ein, auch das Krankenhaus der Stadt wurde angegriffen und getroffen, so wurde u.a. die Apotheke der Klinik schwer beschädigt. Zahlreiche Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, wurden getötet. Schon vor dem forcierten Beschuss der Stadt starben um die 300 ZivilistInnen. Die Zahl der Opfer stieg in den letzten Tagen durch den Beschuss der Innenstadt deutlich an, Leichen lägen in den Straßen. Viele Menschen wurden durch den Beschuss und die Bombardements in den Trümmern der zusammengestürzten Häusern begraben. Auch HelferInnen und Verletzte wurden beschossen, ein verletztes Kind wurde vor den Augen der nahenden Retter von einer Bombe zerrissen. Hunderttausende Menschen sind dabei die Stadt zu verlassen, die kurdischen Selbstverteidigungskräfte der YPG haben die BewohnerInnen über die Lautsprecher der Moscheen aufgefordert die Stadt zu verlassen. Eine medizinische Versorgung ist nicht mehr gegeben, ebenso ist schon seit geraumer Zeit die Wasserversorgung der Stadt durch gezielte Unterbindung durch türkische Kräfte gestoppt.

Auch die Fluchtwege aus der Stadt liegen im Feuerbereich türkischer Waffen, Hilfstransporte wurden in den vergangenen Tagen unter Feuer genommen, auch Rettungswagen von Hsak. Die Menschen fliehen unter schwierigsten Bedingungen, zudem ist es kalt und regnerisch. Cemila Heme fürchtet um das Leben Tausender, die unter diesen Umständen Afrin verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die meisten fliehen in die an Afrin angrenzende Region Schahba, die noch teilweise unter Kontrolle der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten steht. Weiter zu fliehen ist noch schwieriger. Da Afrin getrennt von den östlich gelegenen, kurdisch kontrollierten Gebieten um Manbidsch (Minbij) und Kobane liegt, müssen Geflohene das Gebiet des Assad-Regimes durchqueren, wenn sie nicht sowieso die Flucht in die im Westen der Stadt gelegenen kurdischen Stadtviertel Aleppos antreten, in denen das Assad-Regime herrscht. Cemila berichtet, dass die fliehenden und verängstigten Menschen von Assad-Truppen beim Betreten des Gebiets gezwungen werden Geld abzugeben, der Preis für ein Menschenleben beträgt ca. 1200 Dollar, ersatzweise auch Schmuck, wenn kein Geld vorhanden ist.

Cemila ist, obwohl sie fix und fertig ist, bereit ihre Erlebnisse vor der Kamera in Form eines Interviews wiederzugeben. Unter Tränen schildert sie ihre Eindrücke und entschuldigt sich bei den unter den Trümmern begrabenen Opfern dafür, sie nicht habe retten zu können. (1) Während Heyva sor in aller Eile einen Hilfkonvoi zusammenstellte, arbeitete ich verzweifelt daran, Informationen nach Deutschland und an die internationale Presse durchzugeben. Das Interview Cemilas, auf heute.de veröffentlicht, wurde zum Auftakt einer umfangreichen Informationskampagne.

Der Angriff der türkischen Armee auf Afrin am 20. Januar 2018, mit dem zynischen Namen „Operation Olivenzweig“, war die zweite großangelegte offene militärische Intervention der Regierung Erdoğan auf syrischem Boden. Bereits im August 2016 rückte die türkische Armee in Syriens Norden ein und trieb einen Keil zwischen die kurdischen Kantone Efrin (Afrin) im Westen und Kobane. Der damalige Einmarsch richtete sich offiziell gegen den IS und gegen die YPG, die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten. Vor allem jedoch, ging es mit der Euphrat Shield genannten Offensive darum, den Zusammenschluss des westlichen kurdischen Kontons Efrin mit den östlichen Gebieten um Kobane und die vom IS zurückeroberte Stadt Manbidsch zu verhindern.

Das Elend erreicht einen neuen Höhepunkt

Mit der Besetzung Afrins geht das Morden und Sterben weiter. Rund 21 Millionen EinwohnerInnen lebten in Syrien, ca. 500.000 kamen ums Leben, ca. elf Millionen sind auf der Flucht, fünf Millionen davon im Ausland.

Der Angriff auf Afrin traf eine relativ ruhige Region des Bürgerkriegs. In die von großer Mehrheit kurdisch bewohnte Region hatten sich viele Binnenflüchtlinge aus anderen Regionen Syriens gerettet. Zudem lebte in Afrin eine größere Gruppe jesidischer Menschen, die sich hier sicher glaubten, bis der Angriff der Türkei mit fundamentalistischen Hilfstruppen erfolgte, die gerade diese Bevölkerungsgruppe in Angst und Schrecken versetzte.

Die Meldungen, die uns in Quamishlo aus der Region Afrin erreichten, waren schrecklich. Hunderttausende seien in Bewegung, verfolgt von den Invasionstruppen, viele mit wenig mehr als dem was sie auf dem Leibe tragen. Der in aller Eile zusammengestellte Hilfskonvoi umfasste ca. 40 schwere Lastwagen mit Hängern, mehrere Rettungswagen und eine rudimentäre mobile Klinik. Die Lastwagen kamen aus Quamishlo, Kobane und anderen Orten, Treffpunkt war Manbidsch. Dort mussten wir über Nacht bleiben, bis alle eingetroffen waren. Hinter der Stadtgrenze beginnt das Herrschaftsgebiet des Assad-Regimes. Genauer gesagt das Gebiet, das durch Assad-Truppen sowie russische und iranische Einheiten kontrolliert wird.

Es dauerte viele Stunden, bis der Konvoi die Genehmigungen der verschiedenen militärischen Instanzen erhielt, um überhaupt losfahren zu können, um kurz danach weitere Stunden von syrischem Militär und auch russischen Soldaten kontrolliert zu werden. Erst dann brachte uns eine Eskorte über schier endlos erscheinende Pisten und Straßen unter Umfahrung des türkisch besetzten Gebiets des Euphrat-Shields, an Aleppo vorbei, in die Nähe der Stadt Tal Rifad, Grenze Afrin-Gebiet, Schahba Region. Über Nacht bis in den frühen Morgen des nächsten Tages wurden die Lastwagen entladen, die Rettungswagen brachen zu den Geflohenen auf. Hier bestätigten sich für uns die Berichte, die wir zuvor gehört und weitergegeben hatten. Tausende kampierten noch unter freiem Himmel, darunter viele Kinder und schwangere Frauen. Es fehlte an allem, Nahrung, medizinischer Versorgung, Trinkwasser und auch an Möglichkeiten der Hygiene. Viele Menschen hatten Häuser besetzt, die leer standen, weil ihre BewohnerInnen in den Jahren zuvor aus Kriegsgründen geflohen waren. Diese Häuser fanden wir überbelegt vor, mehrere Familien teilten sich Wohnungen in bedrückender Enge. Andernorts entstanden Zeltlager, die regionale Verwaltung planierte Flächen und baute mit allem, was verfügbar war, Unterkünfte. In der Jahreszeit regnet es nicht selten und Nacht wird es empfindlich kalt. Die Lage war extrem unübersichtlich. Zum Zeitpunkt unseres Eintreffens zeigten sich alle lokalen und regionalen kurdischen Strukturen in voller Aktion und solidarisch mit den eingetroffenen Menschen, aber total überlastet. Das kleine Krankenhaus des Ortes Ahras z.B. war völlig überlaufen, Krankenschwestern, PflegerInnen und ÄrztInnen des Afriner Krankenhauses waren hierher geflüchtet und bemühten sich um eine Reorganisierung. Von internationaler Hilfe war zu diesem Zeitpunkt weit und breit nichts zu sehen, von wenigen Kräften des Internationalen Roten Kreuzes, die von Aleppo aus zu den Geflüchteten vorgedrungen waren, einmal abgesehen. Erst Tage später, am 29. März, wird OCHA (Coordination of Humanitarian Affairs der vereinten Nationen) eine Zählung veröffentlichen, die eine Anzahl von 137.000 Menschen angibt, die allein in dieser Region auf Hilfe angewiesen sind. Die Anzahl der insgesamt geflohenen, bzw. durch die türkische Invasion vertriebenen Menschen dürfte deutlich höher liegen.

Propagandaschlacht

Die Besetzung Afrins durch die türkische Armee und fundamental islamistische Hilfstruppen, wird durch eine Propagandaschlacht ungeheuren Ausmaßes flankiert. Es wird gelogen, Falschinformationen werden gezielt verbreitet, mit dem Ziel, Erdoğans Krieg als „sauberen Einsatz gegen Terroristen“ dastehen zu lassen. Unter anderem wird behauptet, die Selbstverteidigungseinheiten der YPG hätten Fliehende daran gehindert die Region zu verlassen. Bei der Befragung unterschiedlicher ZeugInnen wurde mir jedoch glaubhaft versichert, das Gegenteil sei der Fall gewesen. Vielmehr seien die Menschen aufgefordert worden, dies zum Teil über Lautsprecher der Minarette, die Stadt zu verlassen. Dadurch konnte die Anzahl der Opfer reduziert und die völlige Zerstörung der Stadt vermieden werden.

Ebenso wird von Seiten der Aggressoren hartnäckig behauptet, es hätte keine oder kaum zivile Opfer gegeben. Unzählige Dokumente bezeugen das Gegenteil. Die Opfer wurden seit Beginn der Auseinandersetzung am 20. Januar zumeist namentlich erfasst und zum Beispiel durch den Kurdischen Roten Halbmond veröffentlicht.

Die Dokumentationen wurden mit der Aufforderung zur Hilfe international verbreitet. Erfolglos. Weder die internationale Staatengemeinschaft, noch die EU, ganz zu schweigen von der Bundesregierung, zeigten nennenswerte Reaktionen. Zeitgleich erfolgten Waffenlieferungen an den Natopartner Türkei, wurden an das türkische Regime Unsummen zur Flüchtlingshilfe gezahlt.

Eingedenk der Tatsache, dass die militärische Intervention der Türkei nun gerade erst eine Fluchtbewegung großen Ausmaßes auslöst, eine Perversion. Diese Tatsache wurde jedoch noch an politischer Perfidie übertroffen, indem man diejenigen, die in Deutschland gegen den Terror auf die Straße gehen, kriminalisiert und drangsaliert, nur weil sie die Symbole der kurdischen Verbände öffentlich zeigen, die im Bündnis mit u.a. den USA den IS vertrieben (die GWR berichtete).

Nicht bei Regierungen, sondern bei Menschen…

Inzwischen spitzt sich die Lage in Afrin, in ganz Syrien, sowie in ganz Nahost auf allen Ebenen weiter zu.

Es mehren sich nicht nur Berichte und Fotodokumentationen von Plünderung der Dörfer Afrins durch die dschihadistischen Hilftruppen der Türkei, sondern es gibt darüber hinaus Berichte von Entführungen durch die Besatzungstruppen. Unter den Verschleppten seien auch sehr junge Mädchen. Menschen, die nach Afrin zurückkehren wollten, hätten enorme Schwierigkeiten, würden drangsaliert. Gleichzeitig wachsen die Hinweise auf eine geplante demographische Neuordnung der Region. Die zuvor von kurdischen Menschen bewohnten Häuser, würden an andere, vornehmlich arabische und islamistische Familien vergeben. Offen wird in der Türkei Afrin als Rückkehrraum für syrische Flüchtlinge gehandelt. Das dabei nicht dem Regime Erdoğan kritisch gegenüberstehende kurdische Menschen gemeint sind, liegt auf der Hand. Es geht um die Umstrukturierung und Umerziehung der Region Afrin, Filme zeigen Schulkinder mit türkischen Fahnen beim Appell.

Am 7. April wird ein mutmaßlicher Giftgaseinsatz in der Kleinstadt Duma in der Region Ost-Ghuta vermeldet. Die Tatsache ob und in welchem Ausmaß Giftgas eingesetzt wurde, war von Anfang an umstritten. Erst mit großer zeitlicher Verzögerung wird nun von Spezialkräften der Vereinten Nationen der Tatort untersucht. Luftschläge gegen Assads Giftgas-Lager und Fabriken, so die genannten Ziele, erfolgten jedoch prompt und ohne allerdings besagte genaue Untersuchungen abzuwarten. Trump bezeichnete Assad als Monster, Macron sah die Rote Linie überschritten. Die USA, Frankreich und Großbritannien zeigten sich als selbst berufene Hüter der politischen Moral gegenüber dem Assad-Regime. Das alt-bekannte imperialistische Gebaren. Russland spricht von Inszenierung, das Assad-Regime sah sich als unschuldiges Opfer westlicher Aggression.

Die „Wahrheiten“ jeder Seite sind schnell erfunden und verbreitet. Sie zu verifizieren ist keine Zeit. So wie die einen von Schuld sprechen und Raketen abschießen, sprechen sich andere von jeder Verantwortung frei.

Giftgas einzusetzen ist schlimmer als die Pest. Da ist die Überlebenschance höher.

Giftgas wurde in Syrien und im Irak vielfach mit verheerender Wirkung eingesetzt. Laut UNO Untersuchungen wurde sowohl von Regime-Seite, als auch vom IS Giftgas verwendet. Was diesmal geschah, bleibt zu untersuchen. Aber warum halten wir uns nicht an das, was wir wissen und was bekannt ist, wenn es um die Beurteilung von Regimen und Großmächten geht?

Afrin wurde mit Duldung von Russland durch die Türkei besetzt. Islamistisch-fundamentale Hilfstruppen rückten ein, ohne dass die westliche Welt dem NATO-Partner Türkei dies erschwerte. Deutsche Waffenlieferungen wurden fortgesetzt, obwohl es sich offensichtlich um eine völkerrechtswidrige Aktion handelte. Das Wohlwollen Russlands gegenüber der türkischen Intervention, hat zwei Gründe, die Kooperation mit dem NATO-Staat Türkei soll das westliche Militärbündnis schwächen und gleichzeitig weitere Deals mit der Türkei, die Einfluss auf die islamistisch-fundamentalistischen Verbände der sogenannten Freie Syrische Armee hat, ermöglichen. Die Türkei unter Erdoğan jonglierte erfolgreich zwischen Russland und ihren Nato-Verbündeten und sicherte sich die Zustimmung beider Seiten. Russland, das zuvor den Luftraum über Afrin kontrollierte, ermöglichte durch seinen Rückzug Luftangriffe und Bombardements, die westlichen Staaten lieferten dazu die Waffen.

Was die deutsche Bundesregierung von sich gab, waren nicht nur Lippenbekenntnisse und Phrasen – sondern auch handfeste Lügen. So gab es nie einen Stopp von militärischer Unterstützung. Waffenlieferungen im Wert von 4,4 Millionen seit dem Beginn des Krieges gegen Afrin bedeuten eine Mitschuld an der völkerrechtswidrigen Besetzung Afrins durch türkische und fundamentalistische Aggressoren. Die politischen Vertreter und die Verantwortlichen der Politik wissen von diesen Tatsachen. Sie zeigen jedoch die bekannte Ignoranz, Hemmungs- und Skrupellosigkeit. Die Regierung und führende VertreterInnen der Parteien reden davon, Fluchtursachen bekämpfen zu wollen,- ihre reale Politik aber, bekämpft Menschen und treibt sie in die Flucht.

In Syrien werden die Claims abgesteckt

Russland, Iran und das Assad-Regime, die Türkei und der Westen parzellieren das Land. Die türkische Aggression wäre nicht möglich ohne die Duldung und Unterstützung durch BRD und EU. Es sind nicht nur Waffengeschäfte, es geht um Einflusszonen, ökonomische Interessen und militärischen Machterhalt. Der Euphrat wird zur Grenze zwischen russischem/iranischen Machtbereich südlich des Stroms und nordamerikanisch/europäischer Einflusszone im Norden. Die Türkei hält künftig als Regionalmacht ein beträchtliches Gebiet im Nord-Westen Syriens. Die kurdische Bewegung wird dabei hemmungslos funktionalisiert. Die jungen Frauen und Männer, die ihr Leben und Gesundheit gegen den IS opferten, haben ihren Zweck erfüllt. Die Einheiten der kurdischen YPG/YPJ, die den IS effektiv bekämpfen und in diesem Zusammenhang als die wichtigsten Verbündeten des Westens gelobt werden, wurden verraten und im Stich gelassen. Die Bevölkerung Afrins oder vielmehr ganz Rojavas, die praktizierte Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Ansätze von Basisdemokratie und Selbstverwaltung, interessieren auf internationaler Ebene niemand, wenn sie nicht sogar als störend – aus Sicht der Kapitalgeber – bei der künftigen Unterstützung im Wiederaufbau gesehen werden. Aller politischen Absichtserklärungen „Fluchtursachen bekämpfen zu wollen“ zum Trotz, zivile Aufbauhilfe in nennenswerten Umfang hat es bis heute von internationaler, staatlicher Seite nirgendwo gegeben.

Trumps Politik verschärft die Lage

Aktuell verschärft Trumps einseitige Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran die Lage einmal mehr. Dieser Schritt erfolgte auch unter dem Aspekt wachsenden Einflusses Irans in Syrien, wo iranische Einheiten und die vom Iran unterstützte schiitische Hisbollah-Miliz im Bündnis mit Russland und dem Assad-Regime kämpfen. Syrien ist längst zum Schlachtfeld in einem Szenario geworden, bei dem sich autoritäre Strukturen in ihrer Bestialität zu überbieten suchen. Entsprechend der Prämisse, dass sich in der (Außen)Politik eines Landes immer auch die eigene innere Struktur offenbart, zeigt sich ein bizarr-düsteres Bild der beteiligten Staaten. Das autoritäre Assad-Regime, Russlands Pseudodemokratie, die Religionsautokratie Irans einerseits, die USA mit ihrer imperialistischen Strategie, und die europäischen Staaten mit ihren eigenen ökonomischen Absichten andererseits, ganz zu schweigen von der faschistoiden fundamental-islamischen Struktur des IS – es gibt schon lange keine gute und keine böse Seite mehr, es hat sie nie gegeben.

Es ging und geht um Herrschaftssicherheit und Machterweiterung. Das ist einfach und schwierig zugleich, da emanzipative Bewegungen unter den gegeben Umständen auf Bündnisse angewiesen sind. Nichts zeigt die Komplexität und Widersprüchlichkeit mehr auf, als die Tatsache, dass die USA de facto die Lufthoheit über Rojava hat, und somit eine Garantenstellung gegenüber den Bedrohungen von türkischer oder auch Assad-Regime-Seite darstellt. Das Beispiel Afrin zeigt wiederum, wie wenig berechenbar und verlässlich taktische bzw. strategische Bündnisse sind. Die Menschen Rojavas sind sich der Schwierigkeiten und der Gefahr von Allianzen bewusst. Angesichts der Bedrohungslagen haben sie jedoch manchmal kaum eine Wahl. Diese Tatsache wird gerne von manchen (Zeit)genossInnen übersehen. Für uns kann es nur darum gehen, nach emanzipatorischen Momenten und Ansätzen zu suchen. Diese findet man nicht bei Regierungen, sondern bei Menschen! Diese gilt es zu unterstützen.

Michael Wilk

Film

Michael Wilk über die humanitäre Lage in Rojava (Nordsyrien). MünsterTube-Mitschnitt der Veranstaltung von Graswurzelrevolution-Redaktion und Solidaritätskomitee Perspektive Rojava, 26.5.2018 in Münster: https://m.youtube.com/watch?v=QzOll_mnH5E