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Selbstverwaltung in Nordsyrien

Rojava - Hoffnungen und Grenzen. Ein Interview mit der Anarchafeministin Pınar Selek

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In dieser GWR beleuchten wir auch durch Reiseberichte von Michael Wilk und Rudi Friedrich die Situation insbesondere der Antimilitarist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und Kurd*innen in Syrien und in der Türkei. Den Auftakt dieses Schwerpunkts liefert das folgende Interview mit Pınar Selek zu den Hoffnungen und Grenzen der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava.

Die 1971 in Istanbul geborene Anarchafeministin lebt heute in Nizza und ist in Frankreich so bekannt wie Deniz Yücel in der BRD. Sie war lange Jahre in türkischen Gefängnissen inhaftiert, wurde gefoltert, floh nach ihrer zweiten kurzfristigen Freilassung 2008 nach Berlin, studierte dann ab 2010 in Straßbourg und Lyon. Sie lehrt heute Soziologie an der Uni in Nizza mit dem Schwerpunkt soziale Bewegungen in der Türkei.

Ihr Prozess in Abwesenheit vor türkischen Gerichten dauert an, ihr droht eine lebenslängliche Haft und sie hat Angst vor Repressalien gegen ihre noch in der Türkei befindliche Familie. Das autokratische Erdoğan-Regime schreckt auch nicht vor Sippenhaft zurück. Pınar Selek bezeichnet sich explizit als Anarchistin, Feministin und Gewaltfreie. Sie schrieb und engagierte sich seit den Neunzigerjahren für unterdrückte Gruppen in der Türkei, u.a. für Armenier*innen, Homosexuelle, Prostituierte, Transsexuelle. Sie interviewte Kurd*innen für eine orale Geschichte der kurdischen Diaspora in Kurdistan, der BRD und Frankreich.

1998 wurde sie aufgrund einer gefälschten Anklage wegen eines Bombenanschlags auf den Gewürzbasar in Istanbul, mit dem sie nichts zu tun hatte, in Haft genommen (die GWR berichtete). Sie wurde gefoltert, hauptsächlich, um die Namen der Interviewten für ihre kurdische Oralgeschichte zu erfahren. Sie widerstand der Folter und gab keine Namen preis. Trotz einer Reihe von Entlastungsaussagen in endlosen Gerichtsverfahren und insgesamt fünf Freilassungen in ihrer An- und Abwesenheit legten höhere türkische Gerichtsinstanzen, die Polizei und der Staatsanwalt immer wieder Revision ein, noch immer ist das Verfahren nicht abgeschlossen.

Mimmo Pucciarelli hat Pınar Selek hier u.a. zu ihrer Position gegenüber Rojava befragt.

Guillaume Gamblin ist Redakteur der radikalökologischen Zeitschrift „Silence – écologie, alternatives, non-violence“ in Lyon und Mitherausgeber des Buches „Im Kampf gegen die Tyrannei. Gewaltfrei-anarchistische Massenbewegungen in arabischen und islamischen Gesellschaften: der zivile Widerstand in Syrien 2011-2013 und die ‚Republikanischen Brüder‘ im Sudan 1983-1985“ (Verlag Graswurzelrevolution 2018).

Er hat das Interview in Französisch in „Silence“ Nr. 464, Februar 2018, veröffentlicht. Guillaume beteiligt sich an den Solidaritätskomitees für Pınar Selek in Frankreich und ist dabei, mit ihr zusammen eine Autobiographie in Interviewform zu verfassen. Dieses Interview wurde zeitgleich ins Italienische übersetzt und erschien in der libertären Zeitschrift „A-Rivista Anachica“ in Mailand/Italien. Lou Marin hat das Interview für die GWR ins Deutsche übersetzt. (GWR-Red.)

Mimmo Pucciarelli: Pınar, wie sieht deine Einschätzung zu den Ereignissen in Rojava aus?

Pınar Selek: Ich habe keine direkten persönlichen Kontakte nach Rojava, aber ich versuche, die Lage so nah wie möglich durch unabhängige Berichte und Informationen zu verfolgen, die in der Türkei in Umlauf sind. Rojava ist eine Region, in der ein interessanter Prozess abläuft. Die fortschrittliche Bewegung, die dort an die Macht gekommen ist, versucht der Bevölkerung Ausdrucksmöglichkeiten zu geben und stärker horizontale Organisationsformen umzusetzen. Innerhalb anarchistischer Kreise in Europa ist das jedoch schon zu einer Art Mythos geworden.

Mimmo Pucciarelli: Es scheint, dass dort die regionale Regierung versucht, einen demokratischen Konföderalismus zu praktizieren, der von den Ideen der sozialen Ökologie Murray Bookchins inspiriert ist?

Pınar Selek: Ja, das ist zum Teil mit der Entdeckung des ökoanarchistischen Denkens Murray Bookchins durch die Führungsperson der PKK, der Kurdischen Arbeiterpartei, Abdullah Öcalan, im türkischen Gefängnis während des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts verknüpft. Öcalan sprach zuerst von einem unabhängigen kurdischen Staat, dann machte er im Gefängnis eine Art Selbstkritik und behauptete nun, er stelle sich für die Region eine Art des demokratischen Konföderalismus vor. Seit dieser Zeit versuchen die AktivistInnen der PYD, der Partei der Demokratischen Union, dieses Ziel in Rojava umzusetzen.

Mimmo Pucciarelli: Wie blickst du auf die Organisation Öcalans, die PKK und deren Geschichte zurück? Was hat ihr jahrzehntelanger bewaffneter Kampf erreicht?

Pınar Selek: Die PKK wurde im revolutionären Kontext der Sechzigerjahre aufgebaut, in einer Zeit, in der viele Organisationen der revolutionären Linken vom bewaffneten Kampf beeinflusst waren. Die kurdischen AktivistInnen waren ein Teil der Organisationen der revolutionären Linken. Dann, während der Siebzigerjahre, waren sie stärker auf ihre Autonomie als speziell kurdische Bewegung bedacht. Nach dem türkischen Militärputsch 1980 war die türkische Linke dezimiert, aber der PKK gelang es, ihren bewaffneten Kampf aufrecht zu erhalten, weil sie grenzübergreifende Beziehungen zu den KurdInnen im Irak, in Syrien und im Iran aufgebaut hatte. Die ermöglichten es ihr, weiter mit Waffen versorgt zu werden. Die Präsenz dieser Bewegung des bewaffneten Kampfes hat die Institutionalisierung der Repression auf Seiten des türkischen Staates legitimiert. Seit diesen Jahren war die Türkei quasi ständig in eine Art Kriegszustand versetzt, was die Militarisierung des türkischen Staates gefördert hat.

Mimmo Pucciarelli: Es ist erstaunlich zu sehen, dass heute in Rojava eine soziale Organisierung aufgebaut wird, die horizontal sein will, aber aus einer Tradition politischer Organisierung stammt, die wenig libertär war.

Pınar Selek: Tatsächlich ist die PKK im Grunde eine sehr hierarchisch aufgebaute Organisation, mit dem Kult um eine Führungsperson, die über alles entscheidet. In ihrem internen Aufbau finden sich die Typologien aller Totalitarismen – mit einer einheitlichen Ideologie und einem einzigen Führer.

Aber man muss auch sehen, dass die kurdische Bewegung heute vielerlei Dimensionen aufweist. Sie zieht unterschiedliche Register zur selben Zeit: ein religiöses, ein feministisch-egalitäres – allerdings nicht feministisch-libertäres -, ein linksradikales, oder auch das Register des traditionellen, alten kurdischen Denkens, und, um das zu komplettieren, seit rund zehn Jahren auch ein kleines anarchistisches Repertoire. Aber diese unterschiedlichen Einflussquellen setzen sich auf eklektizistische Weise zusammen.

Mimmo Pucciarelli: Die Medien wie auch die linken Organisationen, die hier in Europa ihre Solidarität mit der kurdischen Bewegung bekunden, betonen den Feminismus der PYD und besonders deren Selbstverteidigungsmiliz YPG mit ihren Frauenbrigaden. Wie schätzt du das ein?

Pınar Selek: Aus meiner Sicht ist die PYD eine sehr hierarchische und patriarchale Organisation, absolut nicht libertär und nicht feministisch. Ja, die Frauen besitzen eine bestimmte Form der Gleichheit und sie sind ziemlich sichtbar, aber in Rojava haben sie nur einen Platz, wenn sie sich an die Richtlinien der Organisation anpassen. Die Bewegung fordert, dass die Frauen getrennt von den Männern leben, dass sie ihren eigenen Raum einhalten und sich nicht mit ihnen mischen. Klar, wir reden hier von einer Kriegssituation, aber man muss doch daran erinnern, dass innerhalb der Guerilla Sexualität verboten ist. Im Falle von sexuellen Beziehungen gibt es Strafen, die vom Ausschluss bis hin zum Tod reichen können. Bei den aktuellen Geschehnissen in Rojava findet man viele progressive Elemente, aber hinsichtlich der Freiheiten stellen sich auch viele Fragen.

Man muss aber auch wahrnehmen, dass die libertären Feministinnen heute die anderen Bewegungen in der Türkei stark beeinflussen. In Rojava und allgemeiner innerhalb der kurdischen Bewegung beeinflussen deren Ideen die Kämpfe und ermöglichen es, die richtigen Fragen zu stellen. Die PKK wird heute vom Denken der sozialen Ökologie beeinflusst, aber das stand nicht am Ursprung der Veränderung: Das wurde zuerst durch die Feministinnen vermittelt, durch vielerlei kleine Gruppierungen, die intern weder finanzstark noch personell sehr zahlreich waren, die aber eine bedeutende Rolle bei der Erneuerung des Repertoires der Protestformen in der Türkei spielten.

Mimmo Pucciarelli: Wie beeinflusst der Kontext des Krieges diese Evolution der kurdischen Bewegung in Richtung libertäres Denken? Ist ein gewaltfreier Widerstand in solch einem Kontext überhaupt möglich?

Pınar Selek: Das Leben, das sich in einem solchen Kontext strukturiert, kann nicht wirklich libertär sein. Ja, gewaltfreie Widerstandsformen sind auch in einem so repressiven und gewalttätigen Kontext wie dem in Rojava möglich. Aber wenn du bereits in einen Krieg verstrickt bist, wenn du dich bereits als Armee organisiert hast, dann, so denke ich, ist das quasi unmöglich.

Ich werde manchmal gefragt, ob das, was in Rojava passiert, eine Art neuer spanischer Bürgerkrieg ist. Ich antworte darauf, dass sich die Dinge seit der glorreichen Zeit der spanischen Anarchist*innen verändert haben. Heute spricht man von Intersektionalität, von mehreren Feminismen usw. und ich persönlich suche nach einem anderen Weg innerhalb dieser unterschiedlichen Strömungen.

In der Türkei, wo die Repression immer schlimmer wird, kenne ich viele autonome Gruppen, die sich in Netzwerken organisieren und sich Handlungsräume eröffnen. Das zeigt, dass man auch in einem autoritären Kontext neue Widerstandsformen entwickeln kann. Aber wenn du in einen Krieg verstrickt bist, ist das anders. Wenn du anfängst, Waffen zu benutzen, musst du dir eine Struktur geben wie eine Armee.

Es geht hier nicht darum, die Personen zu verurteilen, die für ihren Widerstand zu den Waffen greifen.

Der Widerstand gegen die Herrschaft, die Barbarei ist wichtig, aber ich denke, bevor man die Gewalt benutzt, ist es nötig, alle anderen möglichen Wege auszuloten und andere Widerstandsformen zu entwickeln. Im Mittleren Osten und auch in der Türkei ist es zur Gewohnheit geworden, zu den Waffen zu greifen, das ist geradezu eine Tradition. Momentan ist es also schwieriger geworden, andere Widerstandsformen zu finden, aber es ist nicht unmöglich. Ich glaube, man muss auf dieser Suche beharren. Denn die Gewalt zerstört uns. Ich kenne keine libertäre Transformation, die sich auf eine Armee stützt.

Übersetzung aus dem Französischen, "Silence", Nr. 464, 2/2018, S. 38-40: Lou Marin