Wu Ming, Ravagli „Kriegsbeile“ Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold, Assoziation A Hamburg, Berlin 2017, 464 Seiten, ISBN 978-3-86241-459-8 , 26 Euro
Irene und Gerhard Feldbauer „Damals in Vietnam“ (1967-1973), in: Zeitschrift „offensiv“ 2017
Wu Ming, das Pseudonym fünf italienischer Schriftsteller mit dem Lebensschwerpunkt Bologna (1), bedeutet je nach Betonung „ohne Namen“ oder auch „fünf Namen“. Der Gedanke dabei: Jedes literarische Schaffen wird von den Gedanken einer Vielzahl von Menschen getragen, so dass jedes Werk durch viele entsteht. Gemeinsam fischen die Wu Ming Autoren vergessene Geschichten des Widerstandes gegen Ausbeutung und Herrschaft aus dem Meer der Zeit und verleihen ihnen mit literarischem Können und Leidenschaft Gestalt. Ihr Roman „Kriegsbeile“, der erstmals 2000 in Italien erschien, wurde vom kongenialen Übersetzter Klaus-Peter Arnold 2017 im Verlag Assoziation A ins Deutsche übertragen. Hier werden Geschichten der italienischen Partisanen und der antiimperialistischen Vietminh geschildert, die sprachlos zurücklassen und hoffentlich dazu beitragen werden, sich erneut mit der Geschichte Vietnams zu beschäftigen, dessen Befreiungskrieg gegen den französischen und dann den US-amerikanischen Imperialismus einer der Auslöser für die antiautoritären Revolten in Europa und den USA vor fünfzig Jahren war.
Wu Ming verweigert seinem eigenen Werk die Bezeichnung „Roman“ und nennt es „erzählendes Objekt“, denn es beinhaltet drei ineinander verwobene Erzählstränge.
Zunächst macht sich der fiktive Anwalt Daniele, ein Alter Ego der fünf Wu Ming Autoren, in der Gegenwart bzw. jüngsten Vergangenheit auf die Suche nach noch lebenden Partisanen, die gegen Ende des 2. Weltkrieges, aber noch vor dem Eintreffen alliierter Truppen viele norditalienische Dörfer und Städte von der Herrschaft der Faschisten und deutschen Besatzer befreiten. Doch ähnlich wie in der Bundesrepublik, wo in den ersten Nachkriegsjahrzehnten kommunistische AntifaschistInnen oft vor Richtern standen, die als Nazis Karriere gemacht hatten, so mussten auch in Italien hunderte PartisanInnen zumindest eine Weile abtauchen, um den Verfolgungen der bald wieder im Staatsapparat tätigen Faschisten und ihrer Sympathisanten zu entgehen. Nicht wenige von ihnen gingen in die Ostblockstaaten, vor allem in die Tschechoslowakei oder ins eigenständige Jugoslawien, einige fanden aber auch den Weg in das damalige Indochina, wo von 1946 bis 1954 Frankreich einen Krieg um sein Kolonialreich führte.
Wie der aus armen Verhältnissen stammende Vitaliano Ravagli, der bereits als zehnjähriges Kind gegen die Faschisten ums Überleben kämpfen musste, in den Dschungel Indochinas findet, wird von ihm selbst in den Kapiteln „Wege des Hasses“ geschildert.
Wie Wu Ming in einem in der deutschen Ausgabe enthaltenen Nachwort von 2005 preisgeben, ist dies das Herz ihres Projektes: „Die wahre Stimme in dieser ‚Roman- Biographie‘ ist die von Vitaliano Ravagli. Jedes Mal, wenn seine Geschichte wiedergelesen oder wiedererzählt wird, steht man ob der Kraft dieser Geschichte mit offenem Mund da. Sie zeugt vom langen Atem einer Odyssee, die von einem Flüsschen wie dem Senio bis zum Mekong reicht, vom Widerstand in Italien bis zu den postkolonialen Befreiungskämpfen. Es ist die Geschichte eines Menschen, der hin- und hergerissen zwischen zwei Epochen und zwei Kontinenten kaum in der Lage ist, wieder an das Band eines von unglaublichem Leid geprägten Lebens anzuknüpfen. Ein Mensch, der eine lupenreine Romanfigur wäre, würde er nicht lebendig neben uns stehen.“ (Seite 438) Wobei „Kriegsbeile“ natürlich die oft kommunistisch orientierten italienischen Partisanen würdigt, aber letztlich alles andere als Werbung für kommunistische Parteiideologie ist. So stellt Vitaliano Ravagli einer Parteischule in Bologna der KPI in den späten 40 Jahren folgendes Zeugnis aus: „Dann redeten sie nur noch von Marx und Engels. Sie lehrten mich die Geschichte des Marxismus, die Entstehung der Arbeiterklasse und wie man sich gegen die Macht des Kapitals verteidigt. Für mich waren sie selbst Kapitalisten. Sie hatten es geschafft, sie waren gut gekleidet, die Jungs mit Jacke und Krawatte.“ (Seite 207)
Der dritte Teil der „Kriegsbeile“ sind die Reportagen „Drei Brüder, Onkel Ho und Uncle Sam Zwangslose Darstellung der Geschichte der Kriege in Indochina. Vietnam“. Es geht um den ersten der beiden Vietnamkriege, jener gegen Frankreich (1946-1954), doch auch der Übergang zu dem zweiten Krieg gegen die USA nimmt Konturen an.
Als Ergänzung hierzu sei der 2017 veröffentlichte Augenzeugenbericht „Damals in Vietnam“ (1967-1973) von Irene und Gerhard Feldbauer empfohlen. Denn man mag zur DDR stehen wie man will, im Gegensatz zur BRD, die die Verbrechen gegen die Menschlichkeit der USA unmittelbar unterstützte, berichteten die Journalisten aus der DDR unter anderem für das Neue Deutschland aus Nordvietnam und rüttelten so die Öffentlichkeit wach. Nur mit Fotoapparat (Irene Feldbauer) bzw. Stift, Papier, Schreibmaschine und Faxgerät „bewaffnet“ erlebten sie das Flächenbombardement von Nordvietnam durch die USA und riskierten jeden Tag ihr Leben. „Amerikanische Journalisten waren in Hanoi nicht vertreten… So gingen auch hunderte Fotos von Irene vor allem über UPI, aber auch Reuter, um die Welt“, so Gerhard Feldbauer, der heute als Autor unter anderem für die „junge Welt“ aktiv ist, wo er u.a. über Italien und die dortige antifaschistische Tradition berichtet.
In beiden Publikationen werden die Anführer der vietnamesischen Befreiungsarmee vorgestellt: Vo Nguyen Giap (1911-2013) und Ho Chi Minh (Ursprünglich Nguyen Tat Thanh 1890 -1969) der Mann, der als mittelloser Einwanderer ab 1917 in Frankreich kommunistischer Revolutionär wurde, in seine Heimat zurückkehrte, um einen Jahrzentelangen Befreiungskampf zu führen und der seinen einfachen Lebensstil beibehaltend auch nach dem Sieg seiner Guerillaarmee in Nordvietnam in einem bescheidenen Holzhaus in Hanoi lebte.
Dabei ist zu kritisieren, dass Wu Ming die Art und Weise der ersten Landreform in Nord-vietnam lediglich einen „unerklärlichen Fehler“ nennt. Zwar werden hier wenigstens nicht mit den üblichen Sprüchen der „Notwenigkeit“ Verbrechen beschönigt und sicher ist es auch so, dass die Unterstützung der Bauern durch die Kommunisten bei der kollektiven Aneignung des Landes die Grundlage bildete, dass sich die Menschen in Nord- und Südvietnam gegen die Kolonialherren wehrten. Dennoch: Viele Tausend wurden hier ermordet, (und damit meine ich auch jene wenigen, die wirklich Großgrundbesitzer waren, nicht nur die vielen, die einfach nur das Pech hatten, denunziert zu werden.) Da – und auf Seiten der Vietnimh nicht nur da -, muss man, wenn man Terror und Gewalt aufarbeiten will, schon etwas tiefer gehen. Hier hätte ich mir ein Eintauchen in die Widersprüchlichkeit der autoritären Beschaffenheit von (Befreiungs-)Armee und Staat gewünscht, der jederzeit bestehenden Gefahr des Machtmissbrauchs und der Willkür. Denn es hilft nicht der Hinweis, dass die Unmenschlichkeiten unter dem Marionettenregime der USA in Südvietnam ein weit größeres Ausmaß besaßen.
Obwohl der Massenmord durch den Bombenkrieg der USA nicht aus den Augen geraten darf. Der Vietnamkrieg brachte etwa vier Millionen den Tod, die Mehrheit von ihnen ZivilistInnen, abgeworfene Chemikalien vergifteten und verätzten zwei Millionen Vietnamesen und weitere zwei Millionen verloren Gliedmaßen oder wurden anders schwer verletzt, dazu kommen die 58.220 gefallenen US-Soldaten, die Hälfte von ihnen unter 21 Jahre oder jünger (2). Über Nordvietnam werden ab 1964 von den USA mehr Bomben abgeworfen als im gesamten 2. Weltkrieg, in der ganzen Region verbrennen 400.000 Tonnen Napalm alles, was lebt. Nachdem bei dem Massaker von My Lai in US-Uniformen gekleidete Mörder über 500 Frauen und Kinder, das ganze Dorf, auslöschten, musste keiner der Soldaten ins Gefängnis. (Der angeklagte befehlshabende Offizier William Calley stand lediglich einige Zeit unter Hausarrest.) In den USA wehten am 31. März 1971 vielerorts die Fahnen auf Halbmast, doch nicht etwa wegen den grauenvollen Morden, sondern weil Leutnant Calley in erster Instanz verurteilt worden war. (Er wurde auf Anweisung von Präsident Nixon aus der Haft entlassen und später begnadigt). (3)
Die Skrupellosigkeit und der Zynismus der Verantwortlichen in den USA wurde auch noch Jahre nach ihrer Niederlage gegen den Vietcong 1975 in Saigon und der Wiedervereinigung Vietnams 1976 deutlich: Zu Beginn des Jahres 1979 besiegten vietnamesische Truppen in einem kurzen, nur zwei Wochen währenden Krieg Pol Pots „Khmer Rouge“ in Kambodscha, die sich wie ihre Nachbarn Kommunisten nannten, obwohl sie das eigene Volk auf den „killing fields“ massakrierten. Die Armee Vietnams beendete den Massenmord des Pol Pots Regimes, der ca. 1,7 Millionen Menschen, ein Fünftel der Bevölkerung das Leben gekostet hatte (4). Die Reaktion der US- Administration und zwar jener USA, die wenige Jahre zuvor Laos, Vietnam und eben auch Kambodscha (50.000 Tote) bombardiert hatte, war die Verurteilung Vietnams mit den Worten „Wir können militärische Gewalt außerhalb des eigenen Territoriums weder billigen noch unterstützen.“ (5)
Tatsächlich wurde Massenmörder Pol Pot auch nach seiner Flucht in das Grenzgebiet zu Thailand von US-Amerikanern und nicht nur von diesen gefördert. (6)
Und noch etwas: Ravangli hat in den Urwäldern Laos möglicherweise auch gegen frühere deutsche Besatzer seiner Heimat Italiens gekämpft, denn im Jahre 1954 waren die Hälfte der Französischen Fremdenlegion ehemalige Angehörige der Waffen-SS und Wehrmachtssoldaten, die nach dem Willen der französischen Kolonialmacht ihre Erfahrungen im Kampf gegen die antifaschistischen Partisanen Italiens und des Balkans nun gegen die Vietminh anwenden sollten. (7)
So bewegend „Kriegsbeile“ auch geschrieben ist, sollte es nicht von Jugendlichen gelesen werden. Besonders im 2. Teil werden entsetzliche Gräuel beschrieben, die sich als albtraumhafte Bilder in das Gedächtnis einbrennen können. Auch die Erinnerungen der Feldbauers zeigen den Krieg in seiner ganzen Monstrosität.
„Kriegsbeile“ knüpft von der Wucht der Erzählung her an die Romane „Q“ und „Altai“ an, spätere Generationen werden die Bedeutung der Romane von Luther Blisset und Wu Ming mit der von Hemingways „Wem die Stunde schlägt“ (1940) oder Victor Hugos „Les Misérables“ (1862) vergleichen. Der heutige Literarturbetrieb kann dies nicht erkennen, da er in seiner Mehrheit dem Sog zwanghafter kapitalistischer Verwertung verpflichtet ist.
Oliver Steinke
(1) Durch ihre Lesereisen bekannt geworden sind dies Roberto Bui (Wu Ming 1), Giovanni Cattabriga (Wu Ming 2), Luca Di Meo (Wu Ming 3 – bis Frühjahr 2008), Federico Guglielmi (Wu Ming 4), Riccardo Pedrini (Wu Ming 5)
(2) Ian McGibbon: New Zealand’s Vietnam War: A history of combat, commitment and controversy. Exisle Publishing, 2013, S. 539 und Wikipedia „Vietnamkrieg – Tote und Verletzte”
(3) Siehe Wikipedia „William Calley“
(4) Jarrett Murphy: “Remembering the Killing Fields” CBS 15. April 2000, www.cbsnews.com/news/remembering-the-killing-fields/5) Kenton J. Clymer: “The United States and Cambodia, 1969-2000: A Troubled Relationship” Verlag Routledge Curzon (1. Mai 2004) Seite 119
(6) Who Supported the Khmer Rouge? (October 16, 2014) by Gregory Elich www.counterpunch.org/2014/10/16/who-supported-the-khmer-rouge/
(7) Stefan Simon (14.7.2014 Paris): Französischer Indochina-Krieg Von der Waffen-SS in die Fremdenlegion www.spiegel.de/einestages/deutsche-als-fremdenlegionaere-im-indochina-krieg-a-978796.html