wir sind nicht alleine

Der gewaltfreie Aufstand in Armenien

Ein Gespräch mit Leonhard Bonaventura über den Sturz des autokratischen Regimes im Mai 2018

| Lou Marin

Ende April und Anfang Mai 2018 hat eine gewaltfreie Massenbewegung in Armenien durch eine große Bandbreite gewaltfreier Aktionen zunächst den langjährigen Autokraten Sersch Sargsjan abgesetzt. Auch ein Interimspräsident der herrschenden Republikanischen Partei und ihrer korrupten Oligarchen-Klientel konnte sich nicht lange halten. Die Bewegung brachte den Oppositionellen und Korruptionskritiker Nikol Paschinjan an die Macht. In dieser Weltregion zunehmend autoritärer Regimes und brutaler Bürgerkriege, neben Putin, Erdo?an und Assad, kann die herrschaftskritische Bedeutung dieses gewaltfreien Aufstands gar nicht überschätzt werden. Leonhard Bonaventura war während der Proteste Student in Armeniens Hauptstadt Jerewan und hat die Massenbewegung vor Ort miterlebt. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution: In welchem Zusammenhang warst du in Armenien? Wusstest du schon vorher, dass es dort eine regierungskritische Bewegung gab?

Leonhard Bonaventura: Ich war im Rahmen meines Studiums in Armenien, um zu meiner Abschlussarbeit zu forschen, in Geographie und Biologie, finanziert vom Erasmus-Programm. Ich schreibe meine Arbeit über einen Waldbrand in einem Nationalpark, der dort 2017 wütete. Damals gab es Proteste aus der Umweltbewegung. Sogenannte Oligarchen wollten für Privatgärten einen Großteil des Wassers eines Flusses abzapfen, um ihre Gärten zu bewässern und zudem wollten sie sich Villen auf dem Gebiet des Nationalparks bauen lassen. Es ist sehr schön dort. Die damaligen Proteste konnten das verhindern. Einige spekulieren heute, dass der Brand aus Rache gelegt wurde. In der Zeit, in der ich da war, haben sich darauf die Hinweise verdichtet. All das wurde immer mehr mein Thema.

Vorher wusste ich von einer kleinen Bewegung, die jeden Abend Kundgebungen durchführte, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Platz der Republik mobilisierte, dem größten Platz Jerewans. Zwischendurch dachten da einige noch, die Bewegung löst sich wieder auf. Als ich am 19. April dann vor Ort war, war der Platz der Republik entscheidender Versammlungsort. Anfangs trafen sich hier nur wenige tausend Menschen.

GWR: Der damalige Präsident über zwei Amtsperioden hinweg, Sersch Sargsjan, wollte die Verfassung, die nur zwei Amtsperioden zulässt, umgehen, sich jetzt zum Ministerpräsidenten wählen lassen und so seine Macht erhalten. Davor hatte er selbst das Amt des Ministerpräsidenten mit größeren Befugnissen ausgestattet. War das der Auslöser des Massenaufstands?

Leonhard Bonaventura: Ja. Als Sargsjan den Posten des Ministerpräsidenten aufgewertet hat, sagte er noch öffentlich, er würde nicht Ministerpräsident werden wollen. Es wurde als Frechheit erlebt, als er das dann doch vorhatte. Aber auch das hätten die meisten einfach hingenommen. Damals hatte noch niemand daran geglaubt, dass aus den anfangs winzigen Protesten, die nur müde belächelt wurden, eine Massenbewegung werden könnte. Begonnen haben die Proteste mit Nikol Paschinjans Protestmarsch „Qayl Ara – Mach einen Schritt“ von der zweitgrößten Stadt Gjumri nach Jerewan. Das Vorbild des lang dauernden Salzmarsches Gandhis ist unübersehbar. Immer mehr Leute haben sich angeschlossen und in Jerewan kam es dann jeden Abend zu Kundgebungen, zu denen immer mehr Menschen kamen.

GWR: Der Nachfolger Sargsjans, Interims-Ministerpräsident Karen Karapetjan, wollte dann die Herrschaft der Republikanischen Partei retten. Warum konnte auch er sich nicht halten?

Leonhard Bonaventura: Als sich eine Massenbewegung gegen Sargsjan entwickelt hatte, hatten sich die Mächtigen sicher gedacht, dass eine Ablösung und gleichzeitige Fortsetzung der Herrschaft der Republikanischen Partei der Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen würde. Es war eine Zeit der Gerüchte, für den Abtritt von Sargsjan wurde auch gemutmaßt, das liege am Tod seiner Mutter. Vor dem Abtritt gab es auch ein Treffen zwischen Putin und Sargsjan, da wusste auch niemand genau, was besprochen wurde. Es kann sein, dass Putin ihm nahe gelegt hat: „Tritt zurück, du bist nicht mehr tragbar.“ Selbst mitzuerleben, wie groß die Freude beim Rücktritt Sargsjans war und wie der Erfolg gefeiert wurde, war unglaublich berührend und ansteckend. Als dann Karapetjan an die Macht kam, wurde den Leuten klar: Wenn wir schon soweit gekommen sind, ist noch mehr möglich. Die Massenbewegung ging also weiter, jetzt wurde zum Generalstreik aufgerufen. Nach zwei, drei Tagen wurde dann der Bewegung Neuwahlen im Parlament zugestanden, wodurch klar war, dass die Republikanische Partei nicht mehr an der Macht bleiben würde. Karapetjan hat sich nur solange halten können, wie das Prozedere mit den parlamentarischen Neuwahlen ablief und Paschinjan am 8. Mai im zweiten Wahldurchgang zum neuen Ministerpräsidenten gewählt wurde.

Die Bandbreite direkter gewaltfreier Massenaktionen und die Spaltung des Militärs

GWR: Welche gewaltfreien Aktionen gab es in dieser Zeit, welche hast du erlebt?

Leonhard Bonaventura: An gewaltfreien Aktionen gab es Blockaden und Streiks der Arbeiter*innen. Die Belegschaften der Supermärkte haben zu arbeiten aufgehört, denn die großen Supermärkte gehören den sogenannten Oligarchen. Sie wurden bestreikt und von Konsument*innen blockiert. Schüler*innen und Studierende waren tags und nachts auf den Straßen. Alle haben Straßen gesperrt. Wir haben in einem großen Wohnblock im zehnten Stock gewohnt und unten im selben Haus haben Leute fünf Autos über eine sechsspurige Ringstraße gestellt und dann den ganzen Tag Musik laufen lassen und die Straße blockiert. Anwohner*innen brachten Essen. Die Stimmung war unglaublich. So lief das die ganze Zeit. Krankenwagen wurden erst durchgelassen. Aber im Laufe der Tage wurde klar, dass Verhaftungen nur noch durch Zivilpolizisten in Fahrzeugen durchgeführt wurden. Deshalb wurden von den BlockiererInnen alle Autos kontrolliert, und die Krankenwagen auch. Abends gegen 9 Uhr wurden in anderen Stadtteilen massenhaft die Fenster geöffnet und auf Kochtöpfe getrommelt.

GWR: Wie wurden die gewaltfreien Massenaktionen vorbereitet. Anders gefragt: Waren sie spontan oder Ergebnis einer länger entwickelten Bürger*innenbewegung?

Leonhard Bonaventura: Es gab zum einen die parlamentarische Opposition von Paschinjan und dann so eine Art außerparlamentarische, aktivistische Bewegung, die ziemlich früh schon Plena gemacht hat und gut organisiert war. Die waren am Anfang bedeutend. Dann kamen immer mehr Schüler*innen und Studierende hinzu, die sich auch selbst organisierten und die Uni bestreikten oder nicht mehr zur Schule gingen. Die Streiks an der Uni habe ich direkt miterlebt. Diese waren für die Bewegung sehr bedeutend, waren die Student*innen doch nicht so desillusioniert hinsichtlich der Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen, wie das fast alle Älteren waren, die sich lange nicht beteiligen wollten beziehungsweise darin keinen Sinn sehen konnten. Es gab einen gewaltfreien Aktionskonsens, den alle übernommen haben. Ursprünglich wurde dieser von Paschinjan vorgegeben, aus Gründen der Erfahrungen während der niedergeschlagenen Proteste von 2008, als es zehn Tote gab. Auch hatte es zwischendurch andere große Proteste und auch bewaffnete Aktionen gegen die Regierung gegeben. Die Erfahrung war, die Regierung lässt auf uns schießen. Genau damit hatte Sargsjan in diesen Tagen auch gedroht. Wir können nur eine Massenbewegung werden, wenn wir gewaltfreie Aktionen durchführen, schien die Überzeugung aller zu sein. Um sich vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen, wurde bei den jetzigen Protesten übrigens davon abgesehen, zentrale Orte über Nacht besetzt zu halten. Das Risiko eines nächtlichen Überfalls durch Polizeikräfte, ohne dass Öffentlichkeit und Presse dabei sind, wollte man bei diesen Protesten nicht noch einmal eingehen.

GWR: Warum griff das Militär nicht auf Seiten der Herrschenden ein?

Leonhard Bonaventura: Es wurde befürchtet, dass das armenische Militär eingreift. Oder sogar das russische Militär, weil es um Bündnisfragen ging. Am Tag des Rücktritts von Sargsjan gab es die Information, dass er Militär, Polizei und Geheimdienst, die ja alle gleichgeschaltet waren, angewiesen hätte, alle Mittel gegen die Bewegung zu ergreifen, dass sich diese Institutionen aber verweigert und für eine politische Lösung plädiert hätten, eben auch weil die Bewegung gewaltfrei war. Ab dem Morgen des 23. April haben sich auch immer mehr Militärs in Uniform der Bewegung angeschlossen. Offiziere aus dem Karabach-Krieg haben dazu aufgerufen, sich an den Protesten zu beteiligen.

Die Rolle Paschinjans und die Taktik der laufenden Fernsehkameras beim Kampf gegen Korruption

GWR: Wie schätzt du Nikol Paschinjan ein, der am 8. Mai vom Parlament zum Ministerpräsidenten gewählt wurde? Er war ja nach den Protesten von 2008 drei Jahre im Knast. Von ihm stammt auch die Benennung „samtene Revolution“. Er hat nach seiner Wahl gleich den Kampf gegen die Korruption begonnen.

Leonhard Bonaventura: Die Mehrheit der Bevölkerung findet Paschinjan glaubwürdig. Im Parlament war er einer der Wenigen, der bisher als nicht korrumpierbar galt. Viele vertrauen ihm auch, weil er immer die Bedingung stellte, wenn er in Verhandlungen mit der Republikanischen Partei trat, dass das öffentlich und vor der Presse stattfindet. Bisher war das so, dass wenn sich aus Protestbewegungen jemand hervortat, diese Person von der Republikanischen Partei immer hinter verschlossene Türen geladen und ein Deal gemacht wurde. Er hat diese Praxis beendet und deshalb einen großen Vertrauensvorschuss, wie mir vielfach erzählt wurde.

Die erweiterten Befugnisse, die Paschinjan jetzt in seinem neuen Amt hat, nutzte er zunächst, um die Posten, die Parteikader der Republikaner innehatten, durch neue Leute zu besetzen. Der Kampf gegen die Korruption wurde medienwirksam aufgenommen. Es gab zahlreiche Hausdurchsuchungen, beispielsweise bei Ex-General Grigorjan, der für den Soldatensold vorgesehene Gelder entwendete und sich damit einen Privatzoo finanzierte. Die Raubtiere in seinem Privatzoo wurden mit Konservenfleisch gefüttert, das eigentlich für die Versorgung der Soldaten gespendet worden war. Dessen Anwesen wurde vor laufenden Fernsehkameras gestürmt, die Leute konnten sofort Grigorians Luxusautopark sehen und zuschauen, wie er verhaftet wurde. Die Bevölkerung war schockiert. Die Wut auf die Oligarchen, die Republikanische Partei, die nur ein Mafiaclan ist, ist unermesslich.

Derlei Vorgehen kann aber auch nach hinten losgehen. In Georgien hatte Saakaschwili direkt nach seiner Machtübernahme 2004 im Kampf gegen die Korruption vor laufenden Kameras Leute in Unterhosen verhaften lassen. Das wurde von der Bevölkerung irgendwann dann als entwürdigend und unanständig erlebt. Der Kampf gegen Korruption geriet in Verruf, der Führungsstil der neuen Regierung in Georgien wurde immer autoritärer. Armenien kann für einen eigenen tiefgreifenden Wandel viel aus den Erfahrungen und Fehlern, die der Nachbar im Norden seit der „Rosenrevolution“ Ende 2003 gemacht hat, lernen. All das wurde auf einer Veranstaltung, die ich besucht habe, diskutiert. Es hieß dort, wichtig sei, dass eine Zivilgesellschaft aufgebaut werde und alle wach hinschauen, wie sich die neue Regierung verhält.

Die Neuwahlen, die wahrscheinlich erst 2019 stattfinden, werden zeigen, wie der Kampf gegen Korruption weiter gehen wird. Eine große Herausforderung wird es sein, faire Wahlen zu organisieren. Bislang haben die Oligarchen und die Republikanische Partei bei Wahlen üblicherweise Stimmen gekauft, und dies zu verhindern bleibt schwierig. Da sich beispielsweise für große Teile der Landbevölkerung bisher durch Wahlen nichts verändert hat, ist das Interesse entsprechend gering. Was bisher in Jerewan passierte, hat für sie keine Bedeutung gehabt. Für wenig Geld konnten sich die Republikaner ihrer Stimmen sicher sein.

GWR: Ist die soziale Bewegung denn von Paschinjan abhängig oder agiert sie unabhängig?

Leonhard Bonaventura: Sie kann sich potentiell auch gegen Paschinjan richten. Paschinjan hat jetzt diesen Vertrauensvorschuss. Aber die Proteste gingen auch weiter, zum Beispiel gegen ein Bauvorhaben in der Jerewaner Innenstadt und gegen den Bürgermeister der Stadt, der dann auch zurücktreten musste und gegen den ermittelt wird. Große Teile der Bevölkerung haben eine positive Erfahrung gemacht, dies ist erst mal ermutigend. Darauf aufbauend wird es auch wieder Proteste geben, wenn Paschinjan seine Ankündigungen nicht umsetzt. Diese Ermächtigung kann in der Bedeutung für den Großteil der armenischen Bevölkerung gar nicht überschätzt werden. In der gesamten Gesellschaft tut sich jetzt etwas. Es gab nach der sogenannten „samtenen Revolution“ etwa auch Demos von Leuten, denen es um Reformen innerhalb der orthodoxen Kirche ging, leider auch Demos von Rechten, wenngleich diese sehr klein waren.

GWR: Gibt es über das Bestreben hinaus, die Korruption abstellen zu wollen, ein weiter gehendes ökonomisches Programm für die verarmten Schichten?

Leonhard Bonaventura: Allgemein weiß man noch nicht so recht, wofür Paschinjan steht und wie er sich politisch machen wird. Dass es nur besser werden kann, darüber sind sich fast alle einig. Die Erwartungen sind groß, aber er muss jetzt auch liefern. Als Wirtschaftsberater hat er einen Wirtschaftsprofessor aus der US-amerikanischen, armenischen Diaspora berufen, dessen Profil auf einen neoliberalen Kurs hindeutet.

Aber das neue Kabinett kommt aus der Bewegung, da sind viele junge Leute drin, bisher war das Kabinett eine Ansammlung Korrupter. Aber die Hauptauseinandersetzung geht nicht um den globalen Wirtschaftskurs des Landes, sondern um die Abschaffung der unglaublichen Korruption, des Einkaufens von Karrieren, Bildung und Berufen. Eine große Herausforderung, um die er nicht herumkommt, wird aber sein, was gegen die große Armut im Land zu tun. Paschinjan ist auch innerhalb kürzester Zeit, wahrscheinlich selber überrascht, über die Dynamik der Straße in diese Position reingewachsen. Ich denke, viele dieser Fragen hat er sich selbst kaum in aller Ausführlichkeit und mit allen Konsequenzen gestellt. Auch muss er erst mal zusehen, seinen Kurs transparent zu machen und demokratische Mehrheiten für sich und seine Reformvorhaben zu gewinnen. Die Straße hat ihn ja legitimiert und vielen Forderungen muss er jetzt Gehör verschaffen.

Grenzen der gewaltfrei-nationalistischen Bewegung: Der Krieg gegen Aserbeidschan wird nicht infrage gestellt

GWR: Wie ist nunmehr die Haltung zum Krieg Armeniens um Berg-Karabach? Bleibt Aserbeidschan ungebrochen der Feind?

Leonhard Bonaventura: Aserbaidschan ist nach wie vor der ungebrochene Feind. Man muss wissen, dass schon die Republikanische Partei hauptsächlich aus Karabach-Leuten bestand. Ilcham Alijew, der aserbaidschanische Autokrat, hat die immer als „Karabach-Clan“ bezeichnet. Und Aserbaidschan hat vielleicht gehofft, dass es mit Paschinjan etwas Neues gibt. Aber Paschinjan zeigte sich bereits vor den Protesten durchaus noch nationalistischer und gegenüber Aserbaidschan unversöhnlicher als die Republikaner es waren. Die Republikanische Partei hat immer gehofft, dass es da mit Aserbaidschan zu einer Annäherung kommt, aber die Gräben haben sich eher noch vergrößert. Paschinjan hielt wohl eine friedliche Lösung mit Aserbaidschan noch weniger für möglich als die Republikaner.

Während der Proteste gab es aserbaidschanische Truppenaufmärsche an der Grenze zu Armenien. Wäre die Situation in Armenien unsicher geworden und wäre ein politisches Vakuum entstanden, so war die Befürchtung, könnte das aserbaidschanische Militär einen Militärschlag durchführen. An der Grenze wird ohnehin immer wieder geschossen.

Es scheint, dass Paschinjan, auch wenn er Gandhi als großes Vorbild benennt, überhaupt keinen Gedanken auch nur an die Möglichkeit verschwendet, dass die Erfahrung, innenpolitisch einen Diktator mittels einer gewaltfreien Massenbewegung gestürzt zu haben, auch außenpolitische, d.h. antimilitaristische oder auch nur friedenspolitische Konsequenzen haben sollte. Da geht es ihm in erster Linie um die Sicherheit Armeniens und Karabachs. Da scheint bei ihm kein Zusammenhang zu bestehen. Sondern die armenische Erfahrung des Genozids [an 1,5 Millionen Armenien 1915 im Osmanischen Reich] lehrt ihn: „Nie wieder Opfer sein“.

Hinzukommend werden die Aserbaidschaner*innen aus armenischer Perspektive einfach mehrheitlich als „Osmanen“ wahrgenommen. Eine gewaltfreie Massenbewegung gegen die Diktatur in Aserbaidschan wäre für Frieden nicht nur hilfreich, sondern nötig. Aber die gibt es derzeit nicht.

GWR: Bleibt Russland vorerst die vertraglich eingebundene Schutzmacht wie bisher? Die Schutzmacht besonders auch gegenüber der Türkei, vor dem historischen Hintergrund des Genozids an den Armenier*innen?

Leonhard Bonaventura: Da wird sich meines Erachtens und nach den Bekundungen Paschinjans nichts ändern. In Armenien sind bis zu 5.000 russische Soldaten stationiert und Armenien ist wirtschaftlich sehr stark auf Russland angewiesen. Paschinjan hat sich schon früh mit russischen Diplomaten getroffen, um den Kreml zu beruhigen und kein Eingreifen Russlands zu provozieren. Paschinjan scheint es geschafft zu haben, geopolitische Problematiken geschickt zu umschiffen und zurzeit als Partner akzeptiert zu werden. Auch in Zukunft wird die neue Regierung weiterhin versuchen, in Verbindung mit Russland zu bleiben, aber die Absicht ist auch erkennbar, stärkere Beziehungen mit der EU einzugehen. Paschinjan hat übrigens das gesamte außenpolitische Personal von der Vorgängerregierung übernommen. Im Verhältnis zu Russland wird sich aus meiner Sicht in absehbarer Zeit also nichts ändern. Das ist in den deutschen Medien überbewertet worden. Diese geostrategischen Fragen, die in der Maidan-Bewegung 2013/14 in der Ukraine so wichtig waren, haben hier quasi keine Rolle gespielt.

So etwas habe ich noch nicht erlebt!

GWR: Welche eigenen Erlebnisse waren für dich prägend? Was hat dich persönlich am meisten beeindruckt?

Leonhard Bonaventura: Eine solch riesige Protestbewegung habe ich vorher nie gesehen. Beeindruckend war, dass oft die Polizei und Protestierende sich bei den Demos körperlich nah standen und die Polizei überhaupt keine Angst hatte, auch wenn sie gleichzeitig Leute festnahm. Die Leute haben sich gegen ihre Festnahmen nicht gewehrt. Es wurde auf deren Seite schon fast als Ehre erlebt, für kurze Zeit ins Gefängnis zu gehen, auch wenn gerade kurz vor dem Rücktritt Sargsjans auch härtere Repression befürchtet wurde und die Angst spürbar war. Die Gefängnisse waren aber überfüllt – schon vorher waren ja die Gefängnisse in Armenien überbelegt. Alle Festgenommenen kamen auch schnell wieder frei. Sie dürfen rechtlich nicht über eine bestimmte Zeit hinaus festgehalten werden und daran hielt sich auch die Polizei.

In Jerewan nahmen an den Protesten jeden Tag immer mehr Menschen teil. Es war unglaublich lebendig. Es gab auch die ganze Zeit Autokorsos. Die Leute haben anfangs massenhaft die Nummernschilder von den Autos entfernt, um darüber nicht verfolgt werden zu können. Viele fuhren in diesen Tagen viel zu schnell. Das zweijährige Kind eines Bekannten wurde dadurch in einen Unfall verwickelt und ist gestorben. Daraufhin hat Paschinjan dazu aufgerufen, die Nummernschilder wieder anzubringen und langsam zu fahren. Die Protestierenden befürchteten, angesichts von Autorasern mit solchen Folgen, diskreditiert zu werden. Das wurde unmittelbar umgesetzt und plötzlich fingen die Blockierer*innen bei Straßensperren Autos ab, die noch ohne Nummernschilder umherfuhren. Die Insassen einiger Autos mit getönten Scheiben, die keine Nummernschilder angebracht hatten und zu schnell fuhren, entpuppten sich durch Kontrollen manchmal sogar als uniformierte Polizisten, wie ich hörte. Sie wählten wohl diese Strategie, um so Verhaftungen durchzuführen, aber auch, um die Bewegung in Verruf zu bringen.

GWR: Wie wichtig waren das Internet oder andere strategische Einflüsse von außen?

Leonhard Bonaventura: Das Internet hat eine wichtige Mobilisierungsrolle gespielt. Vieles lief direkt über Paschinjans Facebook-Account, den andere weiter gemacht haben, als er trotz parlamentarischer Immunität während der Proteste für zwei Tage im Gefängnis war. Vieles im Internet wurde aber auch dezentral und in geschlossenen Gruppen organisiert. Auch haben einige Landesteile in Armenien gar keinen Internetzugang. Nach dem Autounfall, bei dem ein Kind getötet wurde, flaute die Bewegung in Jerewan etwas ab. Die Bewegung verlagerte die Proteste dann in die Provinzstädte. Viele AktivistInnen fuhren in langen Korsos hupend durchs Land. Das war für mich sehr beeindruckend.

Das war im Timing durchdacht und gut organisiert. Wie über zwei Wochen hinweg der Druck immer weiter aufgebaut wurde und sich zuletzt aus dem ganzen Land unglaubliche Meldungen überschlugen, war beeindruckend. Schon zu Beginn meines Aufenthalts in Armenien habe ich erfahren, dass die Organisationsgruppe von Paschinjan 2017 in Belgrad war und da ein Protesttraining der „Open Society Foundation“ von Georges Soros besucht hat. Das hat sich offenbar rentiert.

Eventuelle Spekulationen über westliche Interessen und in die Protestbewegung fließende Gelder habe ich weder auf der Straße noch auf Veranstaltungen als Thema wahrgenommen.

Die armenische Demokratiebewegung war für alle eine Überraschung, nicht zuletzt auch für sie selbst. Unterstützt wurde sie durch strategische Organisationskenntnisse einiger Aktivist*Innen, die sie sich im Vorfeld angeeignet haben. Sicher gab es da auch interessengeleitete Bündnisse. Vor allem aber die Erfahrungen der unmittelbaren Proteste waren entscheidend.

GWR: Könnte gesagt werden, durch diesen gewaltfreien Massenaufstand sei eine Entwicklung hin zu einem festgezurrten autoritären Regime wie bei Putin oder Erdo?an verhindert worden?

Leonhard Bonaventura: Weit mehr: Da war ja schon ein festgezurrtes autoritäres Regime. Das national-konservative Sargsjan-Regime bestand aus Bürokraten, die noch in der Sowjetunion sozialisiert wurden. Sowohl Sargsjan als auch sein Präsidenten-Vorgänger Robert Kotscharian, Präsident Armeniens von 1998 bis 2008, waren Sowjet-Funktionäre gewesen. Das hatte schon eine Struktur und Machtbasis, die man von Putin oder Erdo?an heute kennt. Und genau das wurde gebrochen, das war der Erfolg der Bewegung.

Interview: Lou Marin