„Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution“. Texte zum gewaltfreien Anarchismus und anarchistischem Pazifismus. Band 1, hrsg. von der Arbeitsgruppe Anarchismus und Gewaltfreiheit, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2018, 240 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-939045-31-1
„Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution.“ Dieses Zitat des niederländischen Anarchisten Bart de Ligt wurde nicht nur zum Titel des vorliegenden Buches, sondern steht zugleich für ein geplantes Projekt: eine Buchreihe der „Arbeitsgruppe Anarchismus und Gewaltfreiheit“, mit der „anarchistisch-gewaltfreie und anarchopazifistische Traditionen wieder in Erinnerung“ gerufen werden und für sozialrevolutionäre Bewegungen nutzbar gemacht werden sollen. Der Auftakt ist mit Band 1 der Arbeitsgruppe gemacht und man bemerkt, dass es den Autoren darum geht, etwas aufzuholen: „Der gewaltfreie Anarchismus hinkt in Fragen der übersichtlichen Aufarbeitung und leichten Zugänglichkeit seiner Theorie und Praxis anderen anarchistischen Strömungen hinterher.“ (S.8)
Diese Absicht wird allerdings überhastet umgesetzt. Viel zu viele Themen und theoretische Ausarbeitungen haben die Autoren in diesen einen Band aufgenommen. Sebastian Kalicha hat einen sehr lesenswerten 40seitigen Beitrag von Alexandre Christoyannopoulos zu Leo Tolstoi aus „Anarchist Studies“, der wissenschaftlichen Zeitschrift über den Anarchismus, übersetzt. Ein Band 1 nur zu Leo Tolstoi, seiner Rezeption, seiner politischen Wirkung z.B. vor dem Ersten Weltkrieg, auf die Künstler*innen und Schriftsteller*innen des Expressionismus und der Weimarer Republik hätte sich angeboten.
Die Mehrzahl der Kapitel – Herrschaftskritik von La Boétie (Lou Marin); Gewaltfreiheit im Anarchosyndikalismus (S. Münster), Geschichte des revolutionären zivilen Ungehorsams (Lou Marin), gewaltfreier Widerstand in der Anti-Atom-Bewegung (S. Münster und Lou Marin), Geschichte der WRI (Johann Bauer), der Einfluss auf die Massenbewegung in der DDR 1989 (Hans Schneider) – sind zuerst in leicht abgewandelter Form zwischen 1988 und 1990 in der Graswurzelrevolution veröffentlicht worden. Alle haben zweifellos ihren Wert wiederveröffentlicht zu werden, hätten aber jeweils zum Leitartikel für einen eigenen Band werden können. So, nur von einer Seite aus betrachtet, bleibt jedes Thema unfertig, erscheint auf halbem Weg stecken geblieben.
Wenn wir uns den Teil mit zwei historischen Texten ansehen, so ist daran gut aufzuzeigen, wie es überzeugend gelingen und misslingen kann und wie die weitere Arbeit für die zukünftigen Bände der Arbeitsgruppe aussehen könnte. Zwei Texte, die dem Anarchismus des frühen 20. Jahrhunderts zuzurechnen sind, wurden aufgenommen. Der Österreichische Anarchist Pierre Ramus schrieb 1911 „Unsere Revolution“ und der Fürther Anarchosyndikalist Fritz Oerter veröffentlichte 1920 in Wien eine Broschüre „Gewalt oder Gewaltlosigkeit.“
Der Text von Pierre Ramus hängt ziemlich in der Luft. Wir erfahren nicht, welche Resonanz und politische Brisanz er eventuell entwickeln konnte. Ob er vor oder nach dem Ersten Weltkrieg mehr Beachtung fand? Lesen wir ihn heute ohne eine anschließende Einordnung, ohne Hintergründe, ohne Diskussion, dann bleibt hängen: Ramus erträumt die Anarchie durch die Ablehnung aller alten Gewalten; nicht durch eine gewaltsame Entfernung dieser Gewalten, sondern durch Missachten ihrer Ansprüche. Ohne eine Diskussion, ohne Problematisierung, ohne Wege über das Wie aufzuzeigen oder zu ergründen, bleibt der Text heute folgenlos, ein bloßer Traum.
Auf den Text von Fritz Oerter lohnt es sich genauer einzugehen. Er wird von dem Beitrag S. Münsters „Anarchosyndikalismus und Gewaltlosigkeit. Debatten und Positionen der anarchosyndikalistischen Bewegung Deutschlands zum Kapp-Putsch“ ergänzt und in die politische Diskussion seiner Zeit, in die Entwicklung der Freien Arbeiter Union und in die konkrete Geschichte eingebunden. Wir können Oerters Einfluss auf die FAUD erkennen. In der Rechereche solcher Argumentationen und Gegenargumentationen können Schätze gehoben werden, die zum Nachdenken anregen und auf heute angewendet oder abgewandelt verwertet werden können.
Auch wenn der Text Oerters selbst mehr für sich spricht als der von Ramus und uns auch heute noch etwas zu sagen hat, bleibt eine solche Auseinandersetzung wichtig. Warum Oerter bis heute lesbar ist, liegt an der Vielschichtigkeit seiner Behandlung der Frage „Gewalt oder Gewaltlosigkeit“. Er beginnt damit, dass Gewalt in erster Linie von Individuen erlebt wird und zwar in doppelter Hinsicht, als Täter und Erleidende von Gewalt. „Es entwürdigt den Menschen, wenn er Gewalt erduldet, aber es entwürdigt ihn noch mehr, wenn er sie verübt.“ (S.69) Oerter erklärt seine Gewichtung nachdrücklich dadurch, dass er Situationen erwähnt, in denen ein Erleiden von Gewalt droht, wenn bewusst die Anwendung von Gewalt abgelehnt wird. 1920 formuliert, in noch revolutionären Zeiten, waren diese Sätze sicherlich verstörend. In „normalen“, von Kultur geprägten Zeiten, werden sie zum ethischen Leitbild. Angesichts unbeeinflussbarer diktatorischer oder faschistischer Gewaltausübung werden sie lebensgefährlich. Mensch muss sich deshalb über die gesellschaftlichen Verhältnisse bei der Wahl der Mittel sehr im Klaren sein.
Ein grundsätzliches Ziel aller anarchistischen Verhaltensoptionen müsste deshalb sein, die „normalen kulturell geprägten Zeiten“ zu erhalten bzw. anzustreben, um über die ethischen und moralischen Handlungsweisen die Definitionsmacht mitzuprägen oder gar zu erlangen. Gelingt dies, dann kann die Spirale von Gewalt und Gegengewalt erfolgreich sabotiert werden.
An Oerters Text gefällt ferner die Tiefe. Er analysiert die gewaltfördernden Strukturen von Zentralismus und Nationalismus. Zudem sucht er die Gewalt nicht nur im Verhältnis von Staatsmacht und Unterdrückten, von Reichen und Ausgebeuteten, sondern sieht die Mechanismen auch innerhalb der Arbeiterklasse und im Privatleben. „Gar mancher, der sich in Versammlungen soeben noch voll Ingrimm über die ‚oberen‘ Gewalthaber entrüstete, geht nach Haus und prügelt Weib und Kind als ob es so sein müsste.“ (S.71)
Ganz ähnlich verurteilt er auch den Klassenkrieg. Wer den Nationenkrieg ablehne, sollte sich von den Kapitalisten keinen Klassenkrieg mit Waffengewalt aufdrängen lassen, da ein gewaltsamer Sieg auf eine Diktatur hinauslaufe. 1920 war diese Auffassung noch höchst umstritten, die Wendung der Russischen Revolution zur Diktatur der Bolschewiki war zwar im Gange, wurde aber erst 1921 mit der Ausschaltung des Kronstädter Arbeiter- und Matrosenaufstands und der Liquidierung der Machnobewegung in der Ukraine vollzogen.
„Beim Zweikampf organisierter Gewalten wird immer diejenige als Sieger hervorgehen, die am stärksten bewaffnet, diszipliniert und zentralisiert ist.“ (S.75) 19 Jahre später sollten sich diese Mechanismen im Spanischen Bürgerkrieg 1936-39 leidvoll bestätigen. Die Stärke der Anarchosyndikalist*innen lag in der wirtschaftlichen Kollektivierung, in der Solidarität und den dezentralen Massenaktionen. Oerter verficht deshalb die wirtschaftlichen Aktionen, Streiks, Generalstreik und Boykott und kommt auch zu einer Definition von Gewalt. Für ihn sind solche Aktionen keine Gewaltanwendung, sondern ein Sich-Entziehen aus Gewaltsituationen. S. Münster greift diese Generalstreiksdebatte gegen den Kapp-Putsch beispielhaft auf und stellt die Debatte in der FAUD dar, die sich in diesen Auseinandersetzungen immer stärker von den linken politischen Parteien abgrenzte.
Seinen Beitrag beendet Oerter mit dem hohen ethischen Wert der Gewaltlosigkeit, die im Gegensatz zum Aufruf zur Gegengewalt nicht an das aggressive Potential der Menschen appelliert, sondern zu solidarischen Aktionen motiviert, die von Gemeinschaftsgefühl und gemeinsamen Zielen getragen sind und so zu einer ethisch denkenden und handelnden Gesellschaft führen.
Auf Band 2 der Arbeitsgruppe darf man gespannt sein. Als Themenbände bieten sich an – frei nach Fritz Oerter – Gewaltfreiheit und Patriarchatskritik, Anarchistische Gewaltfreiheit im Verhältnis zum bürgerlichen Pazifismus, Gewaltfreiheit und Antimilitarismus in der Literatur, Gewalt contra Gewaltfreiheit in sozialistischen Experimenten u.v.m.
Wolfgang Haug