fluchtwege

Europa der Lager, Europa der Abschottung

| Meral Zeller, Dominik Meyer und Karl Kopp Europaabteilung PRO ASYL

Die Europäische Union treibt ihre Pläne zur Schließung der Mittelmeerroute voran. Dazu sollen unter neuen Labels weitere Lager errichtet und Verantwortung auf Afrika abgewälzt werden. Schaffen es Flüchtlinge dennoch nach Europa ist die umgehende Festsetzung, Sortierung und "Abfertigung" das Ziel.

Bis Anfang August 2018 erreichten lediglich 58.475 Schutzsuchende Europa über das Mittelmeer, während mehr als 1.500 Menschen bei dem Versuch ums Leben kamen.

Der massive Rückgang der Ankünfte und die steigende Todesrate ist Ergebnis der skrupellosen Politik europäischer Abschottung, die sich gegenwärtig am rigorosen Vorgehen gegen die zivile Seenotrettung und der Zusammenarbeit mit der sogenannten „libyschen Küstenwache“ zeigt.

Auf dem Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs am 28. Juni 2018 wurden weitere Beschlüsse gefasst, um Flucht nach Europa zu verhindern. Ein Konzept zur Umsetzung legte die Europäische Kommission am 24. Juli 2018 vor. Ziel ist die Einrichtung von „Kontrollierten Zentren“ innerhalb der EU und „Regionalen Ausschiffungsplattformen“ in Drittstaaten außerhalb der EU. Die Konzepte bleiben vage, aber die Stoßrichtung der Vorhaben ist klar: Internationaler Flüchtlingsschutz auf europäischen Boden soll möglichst unterbunden werden.

„Kontrollierte Zentren“ in den EU- Mitgliedsstaaten

In Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sollen „Kontrollierte Zentren“ entstehen. Dort sollen gerettete Bootsflüchtlinge vier bis acht Wochen untergebracht werden. Idealtypisch finden dann eine Sicherheitsüberprüfung, Registrierung, „Asyl-Screening“ und Verteilung statt. Innerhalb von 72 Stunden soll eine Einschätzung zur Anerkennung, Ablehnung oder Unzulässigkeit des Asylantrags stattfinden. Die Einschätzung des Schnellverfahrens ist den Plänen zufolge ausschlaggebend für eine etwaige Überstellung in einen EU-Mitgliedsstaat oder die Abschiebung ins Herkunftsland.

Wie in solchen „Zentren“ rechtsstaatliche Standards, etwa das Recht auf ein faires Asylverfahren und einen effektiven Rechtsbehelf gewahrt werden sollen, bleibt vollkommen unklar. Die Schwerpunkte „Effizienz“ und „Kontrolle“ legen nahe, dass es sich um ein Konzept für weitere geschlossene Lager handelt, was de facto nichts anders als Haft bedeutet. Die systematischen Menschenrechtsverletzungen und die elenden Lebensbedingen etwa in den EU-Hotspots der Ägäis bieten schon jetzt einen Vorgeschmack auf das, was die Flüchtlinge erwartet.

Schwammige Details, klares Ziel: Abschottung und Abschreckung

Wo solche Zentren errichtet werden sollen, ist vor dem Hintergrund der verhärteten Positionen der EU-Mitgliedsstaaten in der Flüchtlingspolitik nicht ersichtlich. Um die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten zu fördern, werden die Flexibilität und die Finanzierung des Konzepts betont. Zum einen soll es an die „Bedürfnisse“ des jeweiligen Aufnahmelandes angepasst werden können. So sei denkbar, nur einen Teil der vorgesehenen Verfahren in den Lagern durchzuführen. Während die Details vage bleiben, formuliert die Kommission ihre Ziele präzise: Einschränkung „sekundärer Migrationsbewegung“ (d.h. innereuropäische Weiterreise), schnelle Verfahren und, vor allem, zügige Rückführung. Um Mitgliedstaaten zur Teilnahme zu bewegen, setzt die EU-Kommission zum anderen auf finanzielle Anreize. Die „kontrollierten Zentren“ sollen vollständig aus EU-Mitteln finanziert werden und ein Großteil der Verfahren von EU-Personal geleistet werden. In einem personellen Schema, das für die Planung einer ersten Pilotphase vorgelegt wurde, stellen die europäischen Agenturen Europol, Frontex (Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache) und EASO (Europäisches Unterstützungsbüro für Asylwesen) den Kern des geplanten Teams. Die EU finanziert die Abschiebungen und etwaige freiwillige Rückkehrmaßnahmen aus den „kontrollierten Zentren“ ebenfalls. Mit bescheidenen 6.000 Euro pro Kopf will die Kommission die Mitgliedsstaaten belohnen, die Flüchtlinge mit guten Erfolgsaussichten im Asylverfahren aufnehmen. Dass dieser eher symbolische Betrag die „Solidarität“ anderer Staaten erkaufen könnte, wäre überraschend. Wir erinnern uns: Gegen Polen, Ungarn und Tschechien ist ein Rechtsverletzungsverfahren eingeleitet worden, da diese sich konsequent weigerten, Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufzunehmen. Auch insgesamt blieb die Zahl der umverteilten Flüchtlinge (sog. Relocation) weit unter den formulierten Zielen. Zudem scheitert die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) seit über zwei Jahren auch an dem fehlenden Willen zu einer gemeinsamen Verantwortung für Schutzsuchende in der EU.

Fakt ist: Im Club der Unwilligen bei der Flüchtlingsaufnahme, gibt es nur einen gemeinsamen Nenner: Lager und Haft in Europa und die Externalisierung der Flüchtlingsaufnahme nach Nordafrika, in Drittstaaten – um jeden menschenrechtlichen Preis.

Seenotrettung – Rettung oder Rückkehr ins Elend?

Mit dem vermeintlichen Ziel Todesfälle zu verhindern, will die EU-Kommission in allen Mittelmeerstaaten Such- und Rettungszonen festlegen und Seenotleitstellen einrichten. Die Unterstützung der „libyschen Küstenwache“ soll, laut Abschlusserklärung des Europäischen Rats, erhöht werden. Mit der konkreten Forderung, dass im Mittelmeer verkehrenden Schiffe die Einsätze der libyschen Küstenwache nicht stören dürfen, gewährt der Europäische Rat den dubiosen libyschen „Partnern“ völlige Handlungsfreiheit und sendet gleichzeitig eine massive Drohung an die zivilen Seenotrettungsorganisationen aus.

Die Liste der Menschenrechtsverletzungen der „libyschen Küstenwache“ ist lang. Dieser werden schwere Vergehen vorgeworfen: Besatzungen haben Schutzsuchende misshandelt, Flüchtlingsboote attackiert, illegale Rückführungen vorgenommen, Rettungseinsätze sabotiert und ganze Bootsbesatzungen in Lebensgefahr gebracht.

Die spanische Hilfsorganisation „Proactiva Open Arms“ berichtete am 17. Juli 2018, dass die libysche Küstenwache drei Bootsflüchtlinge bewusst nicht gerettet und zum Sterben zurück gelassen habe. Lediglich eine Frau überlebte.

Im November 2017 hatte die „libysche Küstenwache“ die Rettung von über 100 Personen aus einem sinkenden Boot durch Sea-Watch behindert. (1) Mindestens zwanzig Menschen ertranken. Allerdings bedeutet auch eine „Rettung“ durch die libysche Küstenwache eine Rückkehr in die dortigen Elendslager, in denen grausame Menschenrechtsverletzungen auf der Tagesordnung stehen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte macht in einem Positionspapier vom 31. Juli 2018 deutlich, dass der Aufbau der „libyschen Küstenwache“ durch die EU potentiell einen Völkerrechtsbruch darstellt.

„Regionale Ausschiffungsplattformen“ in Nordafrika

Die Idee „Lager in Nordafrika“ zu errichten, in denen Flüchtende internationalen Schutz beantragen können, ist nicht neu. Seit den Vorschlägen von Tony Blair und Otto Schily im Jahr 2004 wird der Ansatz immer wieder aufgegriffen.

Ein Novum ist allerdings die aktive Beteiligung des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR). Mit ihrem, gemeinsam mit der International Organisation für Migration (IOM) erarbeiteten Papier vom 27. Juni 2018 droht der UNHCR Teil eines gefährlichen Vorhabens zu werden: Bootsflüchtlinge, die auf dem Mittelmeer aufgegriffen werden, sollen auch nach Nordafrika zurück gebracht werden. PRO ASYL hat sich gemeinsam mit anderen Menschenrechts- und Seenotrettungsorganisationen in einem offenen Brief am 30.07.2018 an den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi gewandt und ihn aufgefordert, sich gegen die jüngsten Pläne der EU zu „regionalen Ausschiffungsplattformen“ zu stellen. (2)

Was sind das für „Plattformen“?

Wo diese „Ausschiffungsplattformen“ entstehen und wie sie aussehen sollen, ist noch nicht geklärt. Das zerrissene Libyen erfüllt nach Auffassung des UNHCR und der EU-Kommission nicht die Voraussetzung eines „sicheren Hafens“.

Bis jetzt weigern sich Ägypten, Tunesien, Algerien, Marokko und Niger vehement irgendwelche Transitlager zu eröffnen.

Nicht nur der Ort, auch die sonstige Umsetzung dieser „Plattformen“ bleibt vollkommen diffus. „Keine Inhaftnahme, keine Lager“, verkündet die Kommission als einen von fünf Kernpunkten. Wie das ganze Vorhaben in der Praxis funktionieren soll, ohne die Betroffenen festzusetzen, ist nicht nachvollziehbar. Vielmehr wird schon in dem Papier von IOM und UNHCR auf die Gefahr hingewiesen, nach Nordafrika zurückgebrachte Personen könnten versuchen, sich erneut auf den Weg zu machen. Die abstruse Lösung: Die „Ausschiffungsplattformen“, zu der Schutzsuchende gebracht werden, soll möglichst weit von dem Ort entfernt sein, von dem aus sie losgefahren sind. Dadurch sollen weitere Überfahrten erschwert werden.

Internationaler Schutz nur auf dem Papier

Lapidar stellt die EU-Kommission fest: „Die vom UNHCR und von der IOM entwickelten Regeln werden dafür sorgen, dass ausgeschiffte Personen – auch durch Neuansiedlungsregelungen – Schutz erhalten können, wenn sie ihn benötigen, oder in ihre Herkunftsländer rückgeführt werden, wenn sie nicht schutzbedürftig sind.“

Wie in den „kontrollierten Zentren“ soll auch in den „Ausschiffungsplattformen“ möglichst schnell entschieden werden, wer internationalen Schutz erhält und wer nicht. Letztere sollen dann mit Hilfe von UNHCR und IOM in ihre Herkunftsländer rückgeführt werden. International Schutzberechtigte sollen umgesiedelt werden.

Doch selbst hier wird eingeschränkt. Die Umsiedlungen sollen nicht auf die EU beschränkt sein und nicht alle international Schutzbedürftigen sollen umgesiedelt werden.

Flüchtlingsschutz wird also nur für diejenigen realisiert, die einen Schutzstatus zugesprochen bekommen und bei der Resettlement-Tombola das Glück haben, einen Resettlement-Platz zu ergattern. Die verquere Logik dahinter: Würden alle Schutzbedürftigen tatsächlich umgesiedelt, würde das einen „Pull-Faktor“ darstellen. Um das zu verhindern, solle nur ein Teil der Schutzberechtigten umgesiedelt werden.

Jedoch scheint bereits die Umsiedlung einer kleinen Zahl Schutzsuchender vor dem Hintergrund laufender Programme wenig vielversprechend. Im Dezember 2017 reagierten EU, UN und die Afrikanischen Union (AU) in Zusammenarbeit mit dem UNHCR auf die katastrophalen Berichte aus libyschen Flüchtlingshaftlagern mit einer Notfallmaßnahme zur Evakuierung von Schutzsuchenden aus dem zerrütteten Land. Unter der „schnellen“ Notfallmaßnahme wurden seit November 2017 lediglich 1.858 Flüchtlinge aus Libyen evakuiert, die meisten nach Niger (Stand: 20 Juli 2018). Das ist ein kläglicher Bruchteil derer, die weiterhin in libyschen Lagern ausharren müssen. „Extrem“ vulnerable Personen sollen von UNHCR identifiziert werden und einen Platz in einem Resettlement-Programm erhalten. Versprechungen gab es viele, letztlich durchgeführt wurden bisher Umsiedlungen in etwa 300 Fällen.

Bereits heute stellt die EU nur einen kleinen Anteil der eigentlich benötigten Resettlement-Plätze weltweit zur Verfügung. Die EU-Kommission möchte durch einen erneuten Aufruf für mehr Neuansiedlungsplätze anbieten. Woher diese Bereitschaft in den EU-Mitgliedsstaaten allerdings kommen soll, weiß nur die EU- Kommission.

Menschenrechte über Board

Die jüngsten Beschlüsse zur Flüchtlingspolitik der EU setzen weiter auf Abschottung, Ausgrenzung, Abschreckung und Auslagerung.

Werden diese Pläne in die Tat umgesetzt, entstehen neue Lager auf beiden Seiten des Mittelmeers. Menschenrechtsverletzungen sind in den „kontrollierten Zentren“ und in den „Ausschiffungsplattformen“ vorprogrammiert.

Das, was die Kommission „echte gemeinsame regionale Verantwortung“ nennt, ist in Wahrheit ein Frontalangriff auf das Asylrecht.

In einer von Salvinis und Orbans dominierten EU werden uns diese Konzepte als realpolitische Optionen zur Rettung der EU und ihrer Werte verkauft. Leider ist die EU jedoch gerade dabei, die Menschenwürde, die Menschenrechte, den Flüchtlingsschutz, das Recht auf Leben etc. im Mittelmeer zu versenken. (3)

Um das Massensterben im Mittelmeer zu beenden muss die europäische Seenotrettung massiv ausgeweitet werden und die verbrecherische Blockade der zivilen Seenotrettung sofort beendet werden.

Die EU hat die Pflicht einen robusten, flächendeckenden EU-Seenotrettungsdienst aufzubauen. Auswege aus dem humanitären Desaster im Mittelmeer bieten lediglich legale und sichere Zugangswege in die EU und die solidarische Aufnahme der Schutzsuchenden.

Meral Zeller, Dominik Meyer und Karl Kopp
Europaabteilung PRO ASYL

Anmerkung
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