Vorabdruck aus Bernd Drücke (Hg.): ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Interviews und Gespräche, überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Unrast, Münster, erscheint am 8. Oktober 2018, 354 Seiten, 26 Zeichnungen von Findus, 18 Euro, ISBN 978-3-89771-256-0
Vorabdruck
Wenn sich das nicht völlig absurd anhören würde, könnte man sagen: Bernd Drücke ist eine Autorität auf dem Gebiet des Antiautoritären. Es gehört eine Menge Durchhaltevermögen dazu, in diesen Zeiten über viele Jahre als Koordinationsredakteur und zusammen mit dem ehrenamtlichen Herausgeber*innenkreis eine anarchistische Monatszeitschrift wie die Graswurzelrevolution zu betreiben. Denn wir haben ja nicht nur mit dem heute allgegenwärtigen Sicherheitswahn, der erschreckenden Wiederkehr des Staatsautoritarismus zu kämpfen; ich stelle es mir auch schwer vor, in einem anarchischen Medienbetrieb täglich im Spannungsfeld von Ordnung und Freiheit seinen Weg zu finden. Ein libertäres Magazin muss ja offen bleiben, darf sich nicht im ummauerten Bezirk einer einmal gefundenen „Wahrheit“ einschließen.
Es verträgt weder einen Journalistenschulen-Einheitsstil noch Zwänge und Hierarchien anderer Art und muss trotzdem, will es wirksam sein, Selbstdisziplin wahren und auf ein Ziel hin ausgerichtet sein.
Welches Ziel?
Ich habe das einmal eine „in Bewegung bleibende Empörung“ genannt. Denkt man an „Anarchie“, so kommen einem zuerst bärtige, glutäugige Männer wie Pjotr A. Kropotkin in den Sinn. Vor allem aber tote Männer.
Ein gegenwärtiger Anarchismus scheint fast ein Widerspruch in sich zu sein, so sehr wurde und wird diese Geistesströmung unterdrückt – so sehr haben die meisten Menschen auch den Anarchisten in sich selbst schon zum Schweigen gebracht – dieses ewig rumorende, gegen die Anmaßung der Macht aufbegehrende, nach Lust und Selbstausdruck verlangende Ich.
Dieses einseitige Bild wurde uns natürlich auch von einer herrschaftsfrommen und männerdominierten Geschichtsschreibung aufgedrängt. Es gab immer schon aufrechte FeministInnen, die zugleich AnarchistInnen waren wie die wunderbare Emma Goldman, von der der Ausspruch stammt: „Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution“. Das Frauenwahlrecht wurde 1919 von Kurt Eisner eingeführt, der seine kurze bayerische Räterepublik mit den Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam bestückte.
Viele verstanden, dass die verschiedenen „Freiheiten“ – die der Frau, der Arbeiterschaft und der Menschen überhaupt – zusammengehören und nicht gegeneinander in Stellung gebracht werden dürfen.
So kommt natürlich auch der Eindruck, Anarchismus sei „von gestern“, vor allem denen zupass, die ein Interesse daran haben, dass Rebellionen nicht plötzlich wieder aufflammen.
Die Glut der Anarchie, die einmal zur Flamme werden soll, findet man naturgemäß weniger in „Strukturen“ als in offenen und herzlichen Einzelmenschen.
Bei meinem Konzert in München hatte ich die wunderbare Sängerin Karla Lara als Gast, die in Honduras „Stimme des Widerstands“ genannt wird.
Karla Laras Musik erzählt von den ambivalenten Erfahrungen, die das Leben vieler Frauen prägen: die Gleichzeitigkeit von Gewalterlebnissen auf der einen und eigener Stärke, Hoffnung und Freude, die den politischen Kampf um Rechte möglich machen, auf der anderen Seite.
Ich fragte sie nach ihrem Auftritt, der das Publikum zu Tränen gerührt hatte, ob sie eine Anarchistin sei. Sie lachte herzhaft, drehte sich um und auf ihrem T-Shirt stand: Anarquista Feminista. „Liebe Karla“, sagte ich, „das bin ich auch“.
Von den großen emanzipatorischen Bewegungen – soziale Bewegung, Frauenbewegung, Homosexuellen-Bewegung, Emanzipationsbewegungen der Farbigen und der unterdrückten Völker – scheint der Anarchismus als einzige völlig vom Lauf der Weltgeschichte aussortiert worden zu sein. Mögen diese anderen Strömungen auch Rückschläge erlitten haben – die Anarchie, so scheint es, hat nie richtig blühen können, sodass man schon bis zur Pariser Kommune oder zum Spanischen Bürgerkrieg zurückgehen muss, um Beispiele zu finden, in denen libertäres Denken in größerem Umfang Tat geworden ist.
Das ist eine Tragödie, deren Auswirkungen uns jetzt auf das Schmerzlichste bewusst werden. Ich hatte ja schon in den 70ern ein anarchistisches Lied geschrieben, in dem es hieß: „Denn da ist immer wer, der bestimmt und regiert“.
Als wären die Zustände vor 40 Jahren nicht schon freiheitsfeindlich genug gewesen, tummeln sich aber derzeit auf der politischen Bühne autoritäre Machos, deren Anzahl schon epidemische Ausmaße angenommen hat. Erdoğan, Putin, Trump, Orbán, Gauland oder Seehofer – überall diese präpotenten Männlein, die aufgrund einer vermutlich tiefen inneren Verunsicherung meinen, jetzt besonders breitbeinig auftreten und die Freiheit mit Füßen treten zu müssen.
Vielleicht handelt es sich bei diesem Phänomen auch um ein letztes Aufbäumen des zum Sterben verurteilten Patriarchats. Denn die Stellung der Frau hat sich verändert, und das spüren die Männer. Die meisten Frauen haben etwas gegen Mauern, sie sind offen gegenüber allem. Das macht den Männern Angst. Und deshalb brauchen wir Mut, denn es geht noch immer um Macht, um männliche Macht. Wie der von mir sehr geschätzte Neurobiologe Gerald Hüther so schön sagte: „Die Welt ist zu komplex geworden für eine hierarchische Weltordnung.“ Manche scheinen das nur noch nicht bemerkt zu haben und pflegen ihre „unterkomplexen“ Diskurse, in denen Twitter-Gestammel und Basta-Politik eine ernsthafte Auseinandersetzung zu ersetzen versuchen.
Es sind vor allem Männer, die als Exponenten einer neuen postdemokratischen, postfreiheitlichen, ja letztlich postmenschlichen Epoche Oberwasser gewinnen und von einer gehirngewaschenen Menschenmenge immer wieder in die höchsten Ämter gewählt werden, ohne dass sich seitens der noch Anständigen nennenswerter Widerstand regt.
Was ist das in uns Menschen, was sich immer wieder ducken, sich beugen und bei vermeintlich Starken unterkriechen möchte? Was hat es auf sich mit dieser verhängnisvollen „Furcht vor der Freiheit“, von der schon Erich Fromm schrieb? Dass die Mächtigen seit Jahrhunderten versucht haben, „Anarchie“, „Landesverrat“ und „Befehlsverweigerung“ als geradezu teuflische Gegenmächte zu stigmatisieren, ist aus deren Perspektive vielleicht verständlich – was aber bewegt uns „Untertanen“ immer wieder, dem autoritären Irrsinn auf den Leim zu gehen? Waren wir, waren speziell auch wir Deutschen, nicht drastisch genug gewarnt worden?
Es wäre zum Verzweifeln, gäbe es nicht Menschen wie die in diesem Buch versammelten, die sich zwar gegen die Übermacht der Autoritären nicht durchsetzen können, die deren Anmassung aber den Nimbus der Alternativlosigkeit rauben, indem sie freiheitliche Denk- und Lebensalternativen aufzeigen.
Oft sind es die kleinen „Zellen“, in denen menschlichere Lebensformen erprobt werden können, und mangels realer Macht ist es ein Widerstand des Sich-Entziehens, der aufrechten Menschen hilft, sich selbst zu bewahren. In Zeiten, in denen manipulative und teilweise auch direkt gewaltsame Übergriffe auf unsere Seelen allgegenwärtig sind, ist es schon ein Akt der Rebellion, sich selbst treu zu bleiben.
Vielleicht ist es auch so, dass die meisten die destruktive Spur der Verwüstung, die Macht und Hierarchie durch die Geschichte der Menschheit gezogen haben, noch nicht mit der gebotenen Schärfe erkannt haben. Vielleicht auch, weil die Macht in so vielen Masken und Farbschattierungen auftritt.
Wer vermag schon zu abstrahieren, was die grausame Nazidiktatur mit dem Stalinismus oder mit seelenstrangulierenden „Gottesstaaten“ und was sie alle wiederum mit einem Neoliberalismus gemeinsam haben, der den Systemzwang geschickt durch vermeintlichen Liberalismus zu maskieren versteht? (Das Wort „liberal“ kann heute infolge seiner Lindnerisierung ohnehin niemand mehr ohne Grauen aussprechen.)
Sie alle haben gemeinsam, dass ihr Strukturprinzip die Macht, die Herrschaft des Menschen über den Menschen, ist. Ihnen allen ist die Angst vor dem lebendigen Impuls der Selbstbehauptung gemeinsam, der in jedem gesunden Menschen aufkeimt, sobald er sich bevormundet und in seiner Entfaltung behindert fühlt. Wer lebendig ist, gehorcht nicht gern – und umgekehrt ist eine allzu devote Geisteshaltung ein Warnsignal, dass eine nach Freiheit und Selbstausdruck verlangende vitale Menschlichkeit in einen Sterbeprozess eingetreten ist.
Diesen Prozess können wir heute an allen Ecken und Enden beobachten. Das Problem ist, dass unsere Zeit eigentlich nach Freiheit schreit, dass aber alle wichtigen Entwicklungen in die Gegenrichtung zeigen.
Ich habe die „Anna, die Anarchie“ einmal in einem Lied besungen als sei sie eine Geliebte, die mir und der auch ich über die Jahre erstaunlich treu war. Diese Geliebte hat auch den unschätzbaren Vorteil, nicht eifersüchtig zu sein. Viele – ja potenziell jeder und jede – können sich zu ihr ins Bett legen. Ihre Liebe und Kraft wird umso größer, je mehr sie sich verschwendet.
Die meisten Zeitgenossen aber legen sich blind ins Bett der falschen Braut, der Sicherheit, mit der man uns heute überall zwangsverheiraten will. Sie begreifen nicht, welche Schönheit und Wonne ihnen entgeht, indem sie die Freiheit verschmähen, die eben nicht wie im Märchen eine „rechte Braut“, sondern eher eine linke ist. Auch wenn manche Linke sie schmählich verraten haben zugunsten eines dogmatischen und totalitären Autoritarismus. Das Wichtige an Anarchie ist, dass sie quer durch alle „Bekenntnisse“ eine Provokation und eine Herausforderung bleibt, eine die auch mal „nein“ sagt, wo der Chor der Ja-Sager jede wärmere und feinsinnigere Regung zu überschreien versucht.
Es tut gut, die Interviews und Porträts zu lesen, die Bernd Drücke mit freiheitsliebenden Menschen geführt hat, jungen wie alten und solche aus allen möglichen Berufen und Gegenden. Zu meiner Freude sind auch Exponentinnen und Exponenten meines Berufszweigs vertreten: Liedermacher, Poeten, Kabarettisten. Aber auch völlig anders geartete Typen, deren Stärke eher im Lebenspraktischen liegt – und Menschen, für die die Freiheitsliebe nicht nur intellektuelle Attitüde ist, sondern schmerzlich gegen Anfeindungen und Verfolgung erstrittene Tat. Hier zeigt sich in aller Breite und Deutlichkeit, was vergessen schien: Die Anarchie schaut uns nicht nur aus den Schwarzweißfotos toter bärtiger Männer an. Nein, die Anarchie lebt und die verschmähte Freiheit hat durchaus auch heute noch ihre beredten Liebhaberinnen und Liebhaber. Man muss nur in unserer Zeit leider länger suchen und genauer hinschauen, um sie überhaupt aufzuspüren.
Aus eigener Erfahrung (1) weiß ich, welch ein einfühlsamer Interviewer Bernd Drücke ist – ein sanfter und beharrlicher Hervorkitzler interessanter Seeleninhalte, derer sich der oder die Interviewte vielleicht bis dahin selbst nicht bewusst war. Sicher ist es den anderen Protagonistinnen und Protagonisten in diesem lesenswerten Buch ähnlich ergangen.
Es bleibt mir nur, diesem Buch weite Verbreitung und eine vertiefte Rezeption durch seine Leserinnen und Leser zu wünschen. Denn welche Lektüre wäre lohnender als jene, die die Lesenden zu ihrer eigenen Freiheit hin verwandelt – die ihnen hilft, die ganz eigene Melodie inmitten der Kakophonie der Manipulationen und autoritaristischen Misstöne zu finden?
Nimm Abschied von der Fremdbestimmung!
Konstantin Wecker
(1) Siehe: „Eine andere Gesellschaft muss auch eine liebevollere sein.“ Bernd Drücke im Gespräch mit dem Liedermacher Konstantin Wecker, in: B. Drücke (Hg.), Anarchismus Hoch 2. Soziale Bewegung, Utopie, Realität, Zukunft, Karin Kramer Verlag, Berlin 2014, S. 112 bis 135
Terminhinweis:
9.10.2018, 20 Uhr, Jugendzentrum, Denekamper Str. 26, 48529 Nordhorn: ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert. Vortrag, Buchpräsentation und Diskussion mit dem Herausgeber Bernd Drücke. Infos: www.graswurzel.net/news