Der liberale Denker Alexis de Tocqueville (1) ist bekannt als Verfechter von Demokratie und Freiheit. Für Christen, wohlverstanden. Für die Muslime in Algerien (2) hatte er weniger Verständnis. Um der Größe Frankreichs willen hielt er massenhaften Terror gegen sie für gerechtfertigt.
Die Französische Revolution von 1789 brachte mit vielen Splittern die Trennung von Kirche und Staat und brach die Macht der alten Aristokratie. Die hochadligen Eltern des Juristen und Soziologen Alexis de Tocqueville (1805-1859) überlebten die Ereignisse um Haaresbreite, sein Urgroßvater endete selbst auf dem Schafott.
Tocqueville sollte sich Zeit seines Lebens dessen bewusst sein.
Dem neuen Regime des Königs Louis-Philippe (1830-1848), der einen republikanischen Hintergrund hatte, konnte er als ehemaliger Aristokrat wenig abgewinnen. Doch war er imstande und bereit zu akzeptieren, dass der Demokratie die Zukunft gehörte.
Die Frage war nur: was für eine Zukunft? Oder, wie er selbst schrieb: „Was dürfen wir hoffen und was müssen wir fürchten?“ Um diese Frage gut beantworten zu können, beschlossen er und Gustave de Beaumont, mit dem er zusammen Jura studiert hatte, die Demokratie einer näheren Prüfung zu unterziehen, und zwar in Amerika. In jenem Land hatte sich die Demokratie nämlich mit viel weniger Blutvergießen entwickelt als in Frankreich – unter anderem, weil es weder eine mächtige Aristokratie noch eine einflussreiche Kirche kannte. Tocqueville erwartete, dort einen Blick in die Zukunft des eigenen Landes werfen zu können. Im Jahre 1831 betraten beide Herren den Laufsteg des Segelschiffs Le Havre und traten auf eigene Kosten die Reise an.
Angekommen in der Neuen Welt – von kaum 13 Millionen Einwohner*innen – klapperten sie neun Monate lang Bibliotheken, Archive, gutbesuchte lokale Versammlungen ab, unterhielten sich mit Menschen allerlei Schlages und aus allen Windrichtungen.
Liebevolle Reaktionen
Es war kein Zufall, dass Beaumont vor allem die Gespräche auf sich nahm und Tocqueville die Aufzeichnungen fertigte, denn leicht im Umgang war dieser nicht. Auch später, als er in den 1840er Jahren einen Sitz im französischen Parlament bekleidete, hielt er sich am liebsten etwas abseits und konnte nur mühsam eine Haltung gegenüber ‚Bürgerlichen‘ der niederen Stände finden. Dabei hielt er sich selbst nur für einen mittelmäßigen Sprecher. Das Schreiben lag ihm besser.
Der Forschungsbericht „De la democratie en Amérique“ erschien 1835. Das Buch umfasste eine gründliche Auseinandersetzung zu Art und Weise der Demokratie – ein zweiter Teil folgte fünf Jahre später. Die Publikation war gleich ein großer Erfolg, auch international. In Großbritannien zum Beispiel schrieb sein liberaler Freund John Stuart Mill eine lobende Rezension.
In Amerika, so Tocqueville, gebe es auf lokaler Ebene eine lebendige Kultur der Debatte. Das Land habe eine dezentrale Staatsform als Gegenentwurf zu einem übermächtigen Staatsapparat. Ein blühender christlicher Glaube bildete den Zement des Zusammenlebens.
Aber es lauerten auch große Gefahren auf die Demokratie: die wachsende Gleichheit könnte eine nivellierende Tendenz hervorbringen, die Tyrannei der Mehrheit bis zur Gewalt einer in die Enge getriebenen Minderheit. Die Freiheit – ein Kernbegriff seines liberalen Denkens – könnte dabei wohl auch einmal den Kürzeren ziehen.
Tocqueville hegte nicht nur großes Interesse für Amerika. Italien und Sizilien, Deutschland und die Schweiz besuchte er ebenfalls. Und mehr als einmal sein geliebtes Großbritannien.
Sogar die britische Kronkolonie Indien wollte er zu Forschungszwecken bereisen, aber seine schwache Gesundheit verhinderte den ehrgeizigen Plan.
Das Land, das ihn neben Amerika am meisten beschäftigte, war Algerien. Er wusste schon so manches von seinem Freund Louis de Kergorlay, der als Offizier an der Kolonisierung der Küstenregion in den 1830er Jahren beteiligt gewesen war. Beide erwogen selbst, sich dort als Kolonisten niederzulassen, aber auch dieser Plan scheiterte an Tocquevilles körperlicher Verfassung.
Wohl durchkreuzte Tocqueville als Algerienexperte des französischen Parlaments das Land zweimal, 1841 und 1846. Vorab studierte er die frühere Osmanische Verwaltung, Kultur, Geografie, Bevölkerungszusammenstellung und den Koran. Tocqueville befand, dass der Koran, wie die Christenheit den Vorstellungen des Alten Testaments verbunden, sich als dessen Fortsetzung präsentiere. „Aus jeder Seite spricht Moses zu einem“, schrieb er 1837. Der Koran sei ihm zufolge „konkret“, wo es den Existenzkampf beträfe, aber in moralischer Hinsicht „vage“. Allerdings sei die heilige Schrift deutlich bei der Hilfe für Reisende und Arme.
Despotismus
Für ein großes Problem der osmanischen Welt hielt er die fehlende Trennung von Kirche und Staat als Quelle des Despotismus. Dass diese „Trennung“ im Westen auch der vermaledeiten Französischen Revolution zu danken war, reflektierte er nicht.
In einem Brief an einen Freund konstatiert er: „Mohammed hat einen enormen Einfluss auf die Menschheit ausgeübt, der alles in allem in meinen Augen eher schädlich als heilsam war.“
Als Tocqueville gemeinsam mit seinem Bruder Hippolyte und wiederum Gustave de Beaumont 1841 von Toulon die Überfahrt antrat, begnügte Frankreich sich schon nicht mehr mit dem algerischen Küstenstreifen, sondern hatte sich an die wirtschaftliche und militärische Unterwerfung des Inlands gemacht.
Nach einem Zwischenstopp auf der Insel Menorca näherten sie sich früh am Morgen der noch in Nebel gehüllten algerischen Küste, der Tocqueville an den Nebel in der Normandie denken ließ. Bis die Sonne für Aufklärung sorgte und „das echte Afrika zum Vorschein kam“.
Er war verzückt von der Schönheit des Landes und verglich manche Landstriche mit Sizilien und dem Elsass. Es schien das Gelobte Land, „sei es nur mit dem Gewehr auf dem Rücken zu bebauen“.
Es gab orientierende Gespräche mit hohen Militärs wie Thomas-Robert Bugeaud, kolonialen Verwaltungsbeamten und dem Bischof von Algiers. Der Grund, schrieb Tocqueville in einer Note, solle von Frankreich zum Spottpreis aufgekauft oder unter Zwang enteignet werden. Dann sei die Infrastruktur zu verbessern und der Bau militärischer Verteidigungswerke und Ausbildungslager in die Hand zu nehmen. Algerien würde zur „Zweitausgabe“ des Vaterlands mit Kirchen, christlichen Schulen und Volkshäusern: „der Größe Frankreichs wegen!“
Man brauche zwei unterschiedliche Gesetzgebungen: eine für die Franzosen und eine für die zweitklassigen Einheimischen. Die erfolgreiche Eroberung Indiens durch Großbritannien galt Tocqueville als leuchtendes Vorbild.
Frankreich erfuhr heftigen Widerstand der einheimischen Bevölkerung. Eine Guerillabewegung unter Führung des Emirs Abd el-Kader wusste den Kolonisten bis in die zweite Hälfte der 1840er Jahre die Stirn zu bieten. Tocqueville begriff, dass die Kolonisten mit der Grundenteignung den Einheimischen das Blut aus den Nägeln quetschten. Doch bejahte er die mitleidlose Linie des französischen Generalgouverneurs Bugeaud. Eine große Militärmacht müsse den Arabern Frankreichs unantastbare Position an den Verstand bringen, fand er. Mobile Einheiten hätten mit den aufständischen „Algerischen Stämmen“ abzurechnen. Abd el-Kader sei so schnell wie möglich aus dem Weg zu räumen, bevor sein Einfluss sich weiter ausbreiten könne. Zu Tocquevilles Ärgernis wandte der Guerillaführer – der mit seinen Überfällen so hart er nur konnte zurückschlug – den Gottesdienst vor, „den Koran in der Hand“.
In „De la democratie en Amérique“ sah Tocqueville den Gottesdienst als Zement des Zusammenlebens, aber in Algerien nicht, weil die Bewohnerinnen und Bewohner keine Christen waren und daher – in Tocquevilles Weltbild – nicht „progressiv“.
Er stand für die Verbrennung der Ernten, Plünderung der Speicher, Razzien, die Gefangennahme unbewaffneter Männer, Frauen und Kinder, Beschlagnahme des Viehs und dafür, feindliche Lager dem Erdboden gleichzumachen.
„Sie werden schwer daran zu kauen haben, wenn wir sie zwischen unseren Bajonetten und der Wüste gefangen halten.“
Ein französischer General legitimierte dergleichen Maßnahmen mit dem Verweis auf das biblische Buch Josua, in dem Gott bereits die fürchterlichsten Razzien abgesegnet hatte.
„Christliche Barbaren“
Um den Widerstand zu brechen, sollte laut Tocqueville die Zwietracht unter den einheimischen Fürsten durch Bestechung angefacht und ein Handelsverbot erlassen werden. Ein solches Verbot verursache „den größtmöglichen Schaden, den wir der einheimischen Bevölkerung zufügen können“.
Als in Frankreich bekannt wurde, dass hunderte Araber, die in Grotten Zuflucht gesucht hatten, von französischen Soldaten durch Erstickung getötet worden waren, schwieg Tocqueville.
Er warnte allerdings die Franzosen, „auf türkische Art“ daherzukommen, das heißt „alles totmachen, was sich in den Weg stellt“. Das wäre kontraproduktiv. Denn war der Auftritt der Osmanen seinerzeit auch barbarisch, schrieb er, galten sie in den Augen der Algerier immerhin noch als „Moslem-Barbaren“; als „Christenbarbaren“ würden die Franzosen sich weitaus mehr verhasst machen.
Kritiker in Frankreich erhörte Tocqueville nicht: ein Krieg mit Arabern erfordere „leider“ nun einmal solche Methoden. Es stimme, dass auch die Briten das Nötige von Revolten in Indien zu melden hätten, meinte er, aber jene Aufstände seien nicht zu vergleichen mit der Kampfeslust der Araber.
Auf den Knien
Nach Ablauf seiner zweiten Reise schlug Tocqueville in seinem Bericht von 1847 einen gemäßigteren Ton an. Das war logisch, denn der Widerstand war, wenn auch nicht überall, auf die Knie gezwungen. Seit Beginn der französischen Kolonisierung hatte sich die Zahl der Soldaten und Kolonisten jeweils verfünffacht auf gut 100.000. Demnach konstatierte er die Errichtung einer „zivilisierten und christlichen Gesellschaft“.
Auf ein paar sekundären Verwaltungsposten durften Algerier sogar mit verwalten. Stolz notierte Tocqueville, dass „aus Respekt vor ihrem Glauben“ hier und da eher Moscheen als Kirchen gebaut wurden. Doch blieb er vorsichtig. Wenn es Frankreich nicht gelänge, „un bon gouvernement“ zu realisieren, sei eine grässliche Schlachtung zu erwarten. Dass der Grund dafür im Projekt Kolonialisierung und der passenden nationalistischen Großmannssucht lag, konnte oder wollte der liberale Theoretiker nicht verstehen.
Otto van de Haar
(1) Alexis de Tocqueville wurde 1805 in Paris als Sohn eines katholischen Adelsgeschlechts geboren. Er hatte zwei ältere Brüder, Hippolyte und Edouard. Hippolyte leistete ihm Gesellschaft auf den Reisen durch Algerien. In der Normandie besaß er ein Schloss. Mit dreißig ehelichte er die britische, zehn Jahre ältere nichtadlige Mary Mottley. Als ihm später Bedenken gegen ein solches Verhältnis angetragen wurden, soll Tocqueville spontan ihre Hand ergriffen und ausgerufen haben: "Auch ich bin unter Stand verheiratet, und Mon Dieu! Es hat mir keine Sekunde Leid getan." Tocqueville plagte sich mit einer schwachen Gesundheit. Sein letztes Werk über die Französische Revolution musste unvollendet bleiben. Im südfranzösischen Cannes starb er 1859 an den Folgen der Tuberkulose.
(2) Algerien gehörte seit dem 16. Jahrhundert zum Osmanischen Reich. Als das im 19. Jahrhundert an seinen Grenzen auseinanderzufallen begann, sprang Frankreich 1830 mit der Einnahme von Algiers und der Küstenregion in die Bresche. Nach einer Periode wackliger Kompromisse ging Frankreich in den 1840er Jahren auf die vollständige Beherrschung des ganzen Landes über. Mit der Enteignung und nachfolgenden Bewirtschaftung ihres Bodens durch französische Kolonisten wurde die angestammte Bevölkerung in ein immer kleiner werdendes Gebiet vertrieben. Im Jahre 1848 wurde Algerien Frankreich als "integraler Bestandteil" einverleibt. Der großen Mehrheit der Algerier blieben wirtschaftlicher Fortschritt ebenso wie demokratische Beteiligung verwehrt, was Frankreich einen blutigen Wechsel auf die Zukunft einbrachte.
Anmerkungen
Übersetzung aus dem Niederländischen: Thomas Montfort
Otto van de Haar ist Historiker und Publizist.
Literatur
Alexis de Tocqueville. Writings on empire and slavery (2001). Bearbeitung und Übersetzung: Jennifer Pitts.
Modern Algeria. A history from 1830 to the present (1991). Von Charles-Robert Ageron.
Tocqueville et la doctrine coloniale (1988). Von Tvetan Todorov.