"Denkt überhaupt irgendjemand darüber nach, was früher hier passiert ist?", geht mir durch den Kopf, als ich Thessalonikis laute Straßen mit ihren hässlichen Betonbauten durchstreife, vorbei an Menschenmassen, die mit Einkaufstaschen bepackt umher eilen. Mit dreizehn Jahren fiel mir Zuhause ein postkartengroßes, schmales Heftchen in die Hände: "Ein kleiner Spaziergang durch Saloniki. Andenken zum Einmarsch der Deutschen Truppen in Saloniki am 9. April 1941". Es war das letzte Lebenszeichen des zwanzigjährigen Onkels meiner Mutter, bevor er ein paar Monate danach von griechischen PartisanInnen getötet wurde. Mein Interesse war geweckt.
Fünfzig Jahre nach der Entdeckung des Heftchens bin ich hier. Von der einstigen jüdischen Metropole ist fast nichts mehr zu sehen. Ich frage mich, wie konnten 46.000 sefardische JüdInnen Salonikis nach Ausschwitz deportiert und fast alle umgebracht werden? Wie wird in Thessaloniki und in Deutschland mit dieser Vergangenheit umgegangen?
Thessalonikis liberaler Bürgermeister Giannis Boutaris, der sich seit 2014 in seinem Amt für das Gedenken an die ermordeten Juden und für Verständigung in der umstrittenen Namensfrage mit dem Nachbarstaat Makedonien einsetzte (1), wurde im April 2018 vor 4.000 zuschauenden GriechInnen bei einer Veranstaltung von Rechtsradikalen verprügelt und konnte sich nur noch mit Mühe in ein Auto retten, was anschließend demoliert wurde (2).
Ähnlich wie in Deutschland haben hier rechtsradikale Tendenzen und Antisemitismus in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Der seit 1991 mit Mazedonien heftig ausgetragene Namensstreit hat zu einer Polarisierung in Griechenland geführt. Selbst ehemalige Linke wie Mikis Theodorakis haben längst die Seiten gewechselt. Es kam am Rande nationalistischer Demonstrationen zu gewalttätigen Attacken gegen linke Zentren. Bürgermeister Boutaris wurde einige Wochen vor dem Angriff als „Judenknecht“ beschimpft (3). Der Schatten einer alten Geschichte liegt immer noch über Thessaloniki.
Saloniki war nicht griechisch
Nach der Rückeroberung der iberischen Halbinsel durch christliche Herrscher nahm das Osmanische Reich ab 1492 etwa 20.000 flüchtende sefardische JüdInnen in Saloniki auf. Ihr Wissen auf vielen Gebieten war sehr willkommen. Sie genossen 450 Jahre unter osmanischer Herrschaft religiöse Freiheiten, weitgehende lokale Selbstverwaltung und mussten Steuern an den Sultan zahlen. Die sefardischen JüdInnen lernten in der Regel auch türkisch, sprechen aber bis heute das Ladino („Juden-Spanisch“) aus ihrer alten Heimat und behielten ihre spanischen Namen. Zusammen mit ihrem erkennbaren Akzent in der Aussprache sollte dies bei ihrer Verfolgung 1942/43 oft zur tödlichen Falle werden.
Während die JüdInnen in anderen Städten eine Minderheit darstellten, zählte die jüdische Gemeinde 1912 in Saloniki bei einer Bevölkerung von 125.000 Einwohnern ca. 70.000 Mitglieder, die in über 30 Synagogen beteten. Der Sabbat war in der „Judenstadt“ offizieller Feiertag. Saloniki als größte jüdische Stadt am Mittelmeer wurde „Jerusalem des Balkans“ genannt. Mustafa Kemal Pascha („Atatürk“), der als Begründer der Türkischen Republik gilt und von 1923 bis 1938 ihr erster Präsident war, wurde 1881 in Saloniki geboren. Hier war eine Hochburg der Bewegung für eine politische Modernisierung des Osmanischen Reichs.
Die reicheren JüdInnen lasen zwei französischsprachige jüdische Tageszeitungen aus Saloniki, weiterhin gab es eine Ladino-Tageszeitung und die sozialistischen ArbeiterInnen unterstützten ihre „La Solidaridad Ovradera“ (4). Saloniki wurde aber auch von den vielen anderen Minderheiten wie ArmenierInnen, TürkInnen, BulgarInnen, GriechInnen und MakedonierInnen bewohnt. Christliche und muslimische Familien schickten ihre Kinder auf jüdische Schulen, was gegenseitiges Kennenlernen und Verständnis förderte.
Die Lage wird prekär
Anfang des 19. Jahrhunderts verschoben sich aufgrund des Griechisch-Türkischen Kriegs die politischen Kräfteverhältnisse. 1909 verstärkte sich in Saloniki die Konkurrenz zwischen griechischen und jüdischen StraßenhändlerInnen und zwischen den verschiedenen Handelsgesellschaften. Das Klima wurde zusätzlich durch paranoide Ritualmordbeschuldigungen gegen JüdInnen vergiftet. Die Minderheit der GriechInnen nahm die sefardischen JüdInnen als Kollaborateure der türkischen Herrscher wahr (5). Beim Einmarsch der griechischen Truppen in Saloniki im Jahr 1912 kam es zu Gewalttaten und Plünderungen von 400 jüdischen Geschäften und 300 Häusern.
Die Mehrheit der JüdInnen empfand die griechische Besetzung als feindliche Übernahme. Sie favorisierten eine Internationalisierung Salonikis als freie autonome Stadt mit eigener Verfassung (6). Antisemitische Gewalttaten und zunehmende Entfremdung boten aber keine Grundlage mehr für eine Annäherung zwischen den beiden Gruppen.
Der verheerende Brand in Saloniki betraf hauptsächlich die jüdischen Viertel und machte 1917 zehntausende obdachlos. Aufgrund der Niederlage Griechenlands im Griechisch-Türkischen Krieg und der 1923 zwischen beiden Staaten vertraglich vereinbarten Zwangsumsiedlung der jeweiligen andersnationalen Minderheiten strömten 1923 rund 117.000 griechische Flüchtlinge in die Stadt. JüdInnen waren immer noch in vielen Bereichen des geschäftlichen Lebens etabliert. „Viele Griechen reagierten darauf mit Unmut.“ (7)
In den folgenden Jahren wurde die jüdische Gemeinde mit nur noch 17 % Bevölkerungsanteil zur Minderheit. Griechenland schaffte 1924 den Schabbat als Ruhetag ab. Die Regierung erließ verschiedene Gesetze, welche die jüdischen BürgerInnen diskriminierte. Von 1924 bis 1932 boykottierten sie deswegen aus Protest alle Parlamentswahlen. Die feindselige Atmosphäre führte 1931 zu einem Pogrom. Von 1908 bis 1940 verließen schrittweise etwa 40.000 JüdInnen Saloniki (8).
Während des Zweiten Weltkrieges kämpften 1940 ca. 13.000 jüdische Soldaten auf Seiten Griechenlands gegen die italienischen Truppen, die von Albanien aus angriffen (9). Aus Saloniki waren es 4000 (10). Die deutsche Wehrmacht marschierte am 9. April 1941 in Saloniki ein, wenige Tage später in Athen. Der nordöstliche Teil Griechenlands blieb von Deutschland besetzt, ein kleinerer Teil von Bulgarien, der Rest von Italien. Bereits seit 1938 hatten deutsche Diplomaten und der deutsche Konsul von Saloniki umfassende Informationen über die jüdische Gemeinde an die SS in Berlin weitergegeben (11).
Direkt nach dem Einmarsch in Saloniki wurden alle jüdischen Zeitungen verboten, jüdische Häuser und Firmen enteignet, die Gemeindebüros geplündert und die Mitglieder des Gemeinderates festgenommen. Griechische AntisemitInnen beeilten sich, „Juden unerwünscht!“-Plakate an Geschäfte zu kleben (12). Die Ausplünderung Griechenlands durch die deutsche Besatzungsmacht hatte vom Winter 1941 bis zum Sommer 1942 eine große Hungersnot mit überproportional hohen Opfern bei den Juden zur Folge.
„Freiheitsplatz“
Am 11. Juli 1942 bestellte die deutsche Besatzungsmacht alle jüdischen Männer von 18 bis 45 Jahren auf den großen Freiheitsplatz ein, um sie für Zwangsarbeit zu registrieren. Vor den Augen vieler zuschauender GriechInnen wurden über 8.000 bei sengender Hitze den ganzen Tag gezwungen, demütigende Übungen zu machen und bedroht. Von der griechisch-christlichen Bevölkerung erfolgte daraufhin keine Reaktion (13). Sie waren „einer zumindest feindseligen Gleichgültigkeit vieler ihrer Mitbürger ausgeliefert“ (14). Bereits vorher, im März 1942, fanden Großdemonstrationen der StudentInnen und später in Thessaloniki Demonstrationen mit bis zu 150.000 TeilnehmerInnen gegen die drohende Zwangsarbeit christlicher ZivilistInnen in Deutschland statt, ohne ein Wort über die Deportationen der JüdInnen zu verlieren (15).
Der Freiheitsplatz ist heute ein großer Parkplatz. An seinem Rande sehe ich, eingehegt durch eine hohe Hecke, eine Bronzeskulptur mit Gedenktafeln. Es ist eine siebenarmige Menorah, dessen Flammen menschliche Figuren verschlingen. Sie steht seit 2007 hier und wird von den vorbeilaufenden Menschen wenig beachtet. Sie wurde am 22. Januar 2018 von der faschistischen Partei Chrysi Avgi beschmiert (16).
Der Friedhof
Der großflächig in die Innenstadt hineinreichende jüdische Friedhof mit 350.000 Gräbern war einigen GriechInnen schon vor der deutschen Besatzung ein Dorn im Auge, weil er einer Bebauung im Wege stand. Im Dezember 1942 begannen christlich-griechische ArbeiterInnen der Stadtverwaltung „mit übertriebenem Eifer“ (17) den Friedhof zu zerstören, zu plündern und die Grabplatten als Baumaterial und Wegeplatten zu verwenden. Selbst drei Jahre nach dem Abzug der Nazis ging die Schändung weiter (18). Noch heute werden die hebräischen Grabinschriften auf den Wegen tausendfach mit Füßen getreten.
Ich bin auf dem Weg zum ehemaligen Friedhof, dem weitläufigen Gelände der größten Universität Griechenlands. Die Universitätsleitung hatte sich jahrzehntelang strikt geweigert, dort ein Mahnmal errichten zu lassen. Auf der Suche nach dem erst 2014 gebauten Gedenkort, laufe ich auf dem Gelände herum und frage etliche StudentInnen nach dem Weg – niemand weiß von seiner Existenz. Endlich angekommen, sehe ich einen großen, bewusst schräg gestellten siebenarmigen jüdischen Leuchter, der mich an ein schwankendes Schiff auf stürmischer See erinnert. Davor einige gerettete Grabplatten und Gedenktafeln. Die Nachfahren der wenigen Überlebenden mussten die Errichtung dieses Mahnmals aus eigener Tasche bezahlen. Auf dem Gelände liegen noch vereinzelt Bruchstücke der Grabsteine herum, verunziert mit Blechbüchsen und Müll der dort lagernden StudentInnen. Die Rechtsradikalen kennen dieses Denkmal sehr wohl. Es ist 2018 mehrmals beschmiert worden.
Deportationen
Mit der Ankunft von Dieter Wisliceny und Alois Brunner, Eichmanns rechter Hand, in Saloniki am 2. Februar 1943 wurde die letzte Phase der Vernichtung der sefardischen JüdInnen eingeleitet. Sie hatten ab jetzt einen gelben Stern zu tragen, wurden aus ihren Häusern vertrieben und in speziellen Ghettos eingesperrt.
Der zur Kollaboration gezwungene Großrabbiner Koretz unterrichtete am 14. März 1943 die jüdische Gemeinde von ihrer bevorstehenden Abreise nach Polen, um dort angeblich eine neue jüdische Stadt zu gründen. Um gut vorbereitet „in das neue Leben“ zu starten, fanden vorher noch schnell 400 Hochzeiten statt (19).
Die jüdische Bevölkerung wurde ab dem 15. März 1943 schubweise in Viehwaggons getrieben und bis nach Ausschwitz gebracht. Es fanden fünf Monate lang insgesamt 19 Transporte mit jeweils bis zu 4.500 Menschen statt (20). Der allergröße Teil wurde sofort in den Gaskammern ermordet. Einige wurden als ZwangsarbeiterInnen Monate später getötet. Von den 46.000 deportierten JüdInnen aus Saloniki überlebten nur 1.800 (21).
Wer wusste was?
Noch bevor die JüdInnen abtransportiert wurden, zogen in ihre Wohnungen GriechInnen ein und plünderten ihren Besitz. Ein deutliches Zeichen, dass auch sie nicht mit ihrer Wiederkehr rechneten. Es bleibt die Frage, ob die jüdischen EinwohnerInnen von Saloniki wissen oder vermuten konnten, in welch tödlicher Gefahr sie schwebten. Sie waren von Informationen durch Massenmedien größtenteils abgeschnitten, denn Radiogeräte mussten abgegeben werden. 80 Prozent der JüdInnen waren arm, sprachen Ladino und etwas Griechisch, aber kaum andere Sprachen (22). Als im November 1942 in der BBC über die ersten Massenmorde in Polen berichtet wurde, sind es nur noch wenige Wochen bis zum Beginn der Deportationen. Vielen Menschen überstieg es ihr Vorstellungsvermögen, dass ein industriell betriebener Massenmord in Gaskammern bevorstehen könnte.
Konkrete Informationen hatten nur Wenige. Die griechischen Lokführer bekamen mit, unter welchen erbärmlichen Umständen die Fahrt stattfand und dass täglich Tote aus den Waggons herausgezogen wurden (23). Hilfe für die JüdInnen gab es in Saloniki nur vereinzelt. Rika Benveniste schreibt: „Die öffentliche Meinung gewöhnte sich an die anormale Normalität‘ der Besatzung und nahm auch das Unglück, das nebenan an die Türen klopfte, ohne Anteilnahme hin“ (24). Unter der Herrschaft der Deutschen hatten Viele zu leiden. Mark Mazower schreibt: „Bis zur Befreiung Ende 1944 wurden mehr als 1000 Dörfer zerstört. Eine Millionen Griechen hatten mit ansehen müssen, wie die Deutschen ihre Häuser plünderten, niederbrannten, die Ernte vernichteten, die Kirchen ausraubten. Mehr als 20.000 Zivilisten wurden von Wehrmachtssoldaten getötet oder verwundet, erschossen, erhängt oder zusammengeschlagen“ (25).
An dem militärischen Widerstand beteiligten sich in ganz Griechenland etwa eintausend jüdische PartisanInnen (26). Die EAM (Ethnikó Apeleftherotikó Métopo) war eine nationale Befreiungsorganisation. Die rassistische Dimension der Auslöschung der JüdInnen wurde von ihr nicht wahrgenommen (27). Als jüdische PartisanInnen aus Saloniki auf dem Weg zu ihren Einheiten hörten, dass ihre Familien bereits in Ghettos untergebracht und bald deportiert werden sollten, verließen viele im letzten Moment ihre Gruppe und eilten zu ihren Familien, um den Alten, Kranken und Kindern beizustehen. Es war ihnen durchaus bewusst, dass damit auch sie ins Verderben gehen würden (28).
In anderen Teilen Griechenlands konnten die verfolgten JüdInnen auf bedeutend mehr Unterstützung hoffen als in Saloniki. Hunderten wurde bei der Flucht geholfen oder vor den BesatzerInnen versteckt. Auf der Insel Zakynthos konnten alle 237 JüdInnen gerettet werden. Auch die Überlebensrate in Athen war relativ hoch. Die italienischen BesatzerInnen waren an einer Verfolgung von JüdInnen wenig interessiert. Als die deutschen Truppen Saloniki am 30. Oktober 1944 verließen, zogen mit ihnen schätzungsweise 12.000 griechische KollaborateurInnen ab (29).
Die wenigen überlebenden JüdInnen mussten zum Teil in Displaced Persons-Camps in Deutschland unter schwierigen Bedingungen verharren, bis sie nach Hause konnten. Dort waren ihre Häuser von Christen belegt. „Die von der Schoah nicht direkt betroffenen Griechen wollen jedoch nicht glauben, was den Überlebenden der Schoah in Auschwitz und andernorts geschehen war, die von einem anderen Stern gekommen zu sein schienen (…). Saloniki war von seinen Juden entleert. Von den wenigen, die zurückkamen, zog ein großer Teil weiter, weil sie die Einsamkeit in ihrer Stadt ohne ihre Verwandten nicht ertragen konnten“, berichtete Erhard Roy Wiehn (30). Die kleine jüdische Gemeinde hat heute noch eine einzige Synagoge.
Deutsche Verstrickungen bis heute
Einer der Hauptakteure bei der Ausraubung, Drangsalierung und Deportation der JüdInnen von 1942 bis 1944 war Max Merten, der Chef der Wehrmachtsverwaltung. Er erpresste horrende Lösegelder, mit der er Monate vor den Deportationen hinterlistig ein Freikaufen von mörderischer Zwangsarbeit tausender JüdInnen in Aussicht stellte, obwohl klar war, dass alle ermordet werden sollten. Das gesamte Hab und Gut der entrechteten JüdInnen ging durch seine Hände an das Deutsche Reich und seine griechischen KollaborateurInnen.
Eberhard Rondholz machte auf das bemerkenswerte Leben Mertens nach 1945 aufmerksam (31): Er wurde Mitglied und Funktionär der neutralistisch ausgerichteten Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), die sich mit ihren prominenten Mitgliedern Gustav Heinemann und Johannes Rau 1956 in die SPD auflöste. Als er bei einem Griechenlandbesuch im Jahre 1957 festgenommen wurde, geriet sein Wirken in den Blickwinkel einer größeren Öffentlichkeit. Merten wurde zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, aber nach 30 Monaten nach Deutschland abgeschoben, weil die Bundesregierung Druck auf Griechenland ausübte und in Griechenland selbst viele PolitikerInnen befürchteten, das er ihre Rolle als Kollaborateure der Nazis offenlegen würde. Druckmittel der Deutschen war ein in der Schwebe befindliches Finanzabkommen mit Griechenland. Mertens Anwalt, der diesen Deal mit einstielte war Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident der BRD. In Deutschland wurde Merten nach 11 Tagen freigelassen, das Verfahren wegen Verjährung eingestellt und ihm eine Rente gezahlt.
Die Peinlichkeiten in dieser Sache gehen bis in die heutige Zeit weiter: Bevor der ehemalige GVPler Johannes Rau im Jahr 2001 Thessaloniki einen Besuch abstatte, besuchte er lieber vorher den Gedenkort im weit entfernten Kalavrita. Er unterließ es, einen Kranz am Holocaustdenkmal niederzulegen oder ein offizielles Wort zur Schoah in Saloniki zu verlieren (32) und brüskierte damit die jüdische Gemeinde. Und das alles, obwohl Rau bisher etliche jüdische und israelische Auszeichnungen erhalten hat und dreißig mal offiziell in Israel zu Besuch war. Offensichtlich war es ihm unangenehm, weil er hier womöglich auf das verheerende Wirken seines ehemaligen Parteigenossen Merten angesprochen werden würde.
Sozialdemokratisches Trauerspiel
Fünfzehn Jahre später setzt sich das sozialdemokratische Trauerspiel fort, als 2016 Außenminister Steinmeier in Thessaloniki bei einem Besuch der einzigen dort noch stehenden Synagoge „die deutschen Hände, die nach 1945 zum Einsatz kommen können“ hervorhebt. 1943 mussten die 46.000 deportierten JüdInnen ihre Fahrkarte nach Auschwitz vorher selbst bezahlen. „Auf die deutschen Einnahmen aus den Todesfahrten (89 Millionen Euro) und die Berliner Weigerung, diese Schulden zurückzuzahlen, ging der deutsche Außenminister am 4. Dezember mit keinem Wort ein. Die von der Jüdischen Gemeinde geforderte Erstattung rassistischer Lösegelder‘ im Wert von weiteren Millionen Euro ließ Steinmeier ebenfalls unerwähnt. Die Empörung prominenter griechischer Juden gilt dem offenkundigen Versuch der Berliner Außenpolitik, die Rechtsansprüche der NS-Opfer mit moralischen Bekenntnissen und unverbindlichen Zuwendungen zu unterlaufen“ (33).
Kurze Zeit später sprach Steinmeier von „dem Wunder der Versöhnung“, von dem die wenigen überlebenden, an den Rand gedrängten griechischen JüdInnen inmitten einer schweren Wirtschaftskrise herzlich wenig hatten. Die besondere zusätzliche Dimension des Holocausts wurde bei der Debatte über finanzielle griechische Rechtsansprüche unter den Teppich gekehrt.
Ausblick
Heute besichtige ich das kleine jüdische Museum, das die jüdische Gemeinde seit 1997 betreibt. Es ist gut besucht, eine französische Schulklasse bringt Leben hinein. Abends während der langen Fahrt im überfüllten Bus komme ich mit neugierigen SchülerInnen und StudentInnen ins Gespräch, die mir höflich einen Sitzplatz anbieten. Sie erzählen mir, dass sie das Thema im Unterricht durchgenommen und das jüdische Museum besucht haben. Dies finde ich sehr lobenswert, muss aber auch daran denken, dass Rena Molho in ihrem Buch den Holocaust-Unterricht an den griechischen Schulen als oft klischeehafte Schwarz-Weiß-Malerei (reiche JüdInnen, edle griechische RetterInnen) bezeichnete und die Existenz von griechischen KollaborateurInnen verschweigt (34).
Nachdem sich jahrzehntelang nur nichtgriechische WissenschaftlerInnen an den Unis mit dem Holocaust der griechischen JüdInnen befasst hatten und es keine wissenschaftlichen Tagungen hierzu gab, ist vor drei Jahren der erste Lehrstuhl für jüdische Geschichte an der Aristoteles-Universität eingerichtet worden – an dem Ort, wo mit der Zerstörung des jüdischen Friedhofs der „Gedächtnismord“ (35) 1942 seinen Ausgang nahm. In wenigen Wochen erscheint der von jüngeren Deutschen produzierte Dokumentarfilm „Salonika – A City with Amnesia“ und wird hoffentlich für Aufmerksamkeit und Diskussionen sorgen (36).
In diesem Jahr wurde nach langer Vorbereitung der Grundstein für ein von der BRD mitfinanziertes Holocaustmuseum in Saloniki gelegt. Es soll ein repräsentativer Lernort werden, wenn er voraussichtlich im Jahr 2020 für etwa zehn Millionen Euro fertiggestellt worden ist. Evánghelos Hekímoglu, der als Kurator des Jüdischen Museums eine Ausstellung erarbeitet hatte, betonte: „Seitdem klar ist, dass ich für das jüdische Holocaustmuseum arbeite, meiden mich griechische Kollegen“ (37).
Auch heute noch ist die Frage offen, ob die Gesellschaft in Zukunft stark genug sein wird, um Antisemitismus und Nationalismus in die Schranken zu weisen.
Horst Blume
(1) Rede von Giánnis Boutáris zum Holocaust-Gedenktag 2018: https://diablog.eu/allgemein/giannis-boutaris-rede-thessaloniki-holocaust-gedenktag-2018/
(2) Siehe: https://derstandard.at/2000080122837/Erste-Festnahmen-in-Thessaloniki-nach-Angriff-auf-Buergermeister
(3) Siehe: "Jüdische Allgemeine" vom 15.2.2018 "Im Windschatten politischer Machtspiele"
(4) Jewish Museum of Thessaloniki "The Book. A Short History Of The 2300-Year Jewish Presence in Thessaloniki", 2017, S. 39
(5) Fritz Bauer Institut (Hg.): "Einspruch und Abwehr", hier: Maria Margaroni "Der griechische Antisemitismus", S. 267
(6) Siehe Anmerkung 5, S. 262
(7) Rebecca Fromer "Das Haus am Meer", 2001, S. 9
(8) Rena Molho, Vilma Hastaoglou-Martinidis "Jüdische Orte in Thessaloniki: Ein historischer Rundgang", 2016, S. 43
(9) Erhard Roy Wiehn "Juden in Thessaloniki", 2018, S. 25
(10) Siehe Anmerkung 7, S. 11
(11) Mark Mazower "Griechenland unter Hitler", 2016, S. 281
(12) Siehe Anmerkung 4, S. 59
(13) Rika Benveniste "Die Überlebenden. Widerstand, Deportation, Rückkehr", 2016, S. 71
(14) Rena Molho "Der Holocaust der griechischen Juden", 2016, S. 90
(15) Siehe Anm. 13, S. 95
(16) "Ekathimerini", 23. 1. 2018
(17) Siehe Anm. 14, S. 28
(18) Siehe Anm. 13, S. 106
(19) Ebd., S. 409
(20) Siehe Anm. 7. S. 100
(21) Siehe Anm. 14, S. 69
(22) Siehe Anm. 9, S. 28
(23) Siehe Anm. 11, S. 291
(24) Siehe Anm. 13, S. 55
(25) Siehe Anm. 11, S. 199
(26) Siehe Anm. 13, S. 43
(27) Ebd., S. 55
(28) Ebd., S. 53
(29) Ebd., S. 364
(30) Siehe Anm. 9, S. 36
(31) Eberhard Rondholz "Eine längst vergessene Geschichte", Konkret Nr. 8, 2000
(32) Siehe Anm. 9, Seite 43
(33) Siehe https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7162/
(34) Siehe Anm. 14, S. 132
(35) Rena Molho zitiert in Eberhard Rondholz "Alles vergessen, alles erledigt?", S. 4
(36) Siehe: www.salonika-film.com/
(37) taz vom 23.12.2016