„Und besser als das Wort Ehre ist das Wort Menschenwürde. Dabei verschwindet der einzelne nicht so leicht aus dem Gesichtsfeld. Weiß man doch, was für ein Gesindel sich herandrängt, die Ehre eines Volkes verteidigen zu dürfen! Und wie verschwenderisch verteilen die Satten Ehre an die welche sie sättigen, selber hungernd.“
Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, 1934
Nun ist es also raus. Der Verfassungsschutz Thüringen hat etwa zwei DIN-A-4-Seiten von mir plagiiert. Während der Pressekonferenz am 6. September 2018 verlas der thüringische Verfassungsschutz-Präsident Stefan J. Kramer munter fünf Minuten lang meinen Text als inhaltliche Begründung für die erstmalige Überprüfung der AfD in einem Bundesland – ohne auch nur einmal meinen Namen zu nennen. Für dieses Plagiat gibt es nur eine Erklärung: Der Verfassungsschutz in Thüringen bewegt sich und gerät durch diese Bewegung in den Widerspruch zwischen dem Neuen und dem Alten: Das Neue ist eine gute Analyse der AfD-Politik, das Alte der schlechte Analyseapparat der Extremismusideologie. Meine Analyse, die der VS Thüringen übernahm, erschien im September unter dem Titel „Björn Höckes faschistischer Fluss. Der völkische Machiavellismus des AfD-Politikers“ auf Seite 1 und 7 der Graswurzelrevolution Nr. 431, die dem Verfassungsschutz als „extremistisch“ gilt, weil sie für eine gewaltfreie und herrschaftslose Gesellschaft eintritt.
Die Gleichsetzung von Hitler und Gandhi durch die Extremismusideologie
Die Graswurzelrevolution ist ein Magazin im Geiste Mahatma Gandhis, es tritt ein für Ungehorsam und Gewaltfreiheit und für einen Begriff von Würde, welcher mit Wahrhaftigkeit („Satyagraha“) verbunden ist – und damit gilt es in der Logik des Verfassungsschutzes als „extremistisch“. Stefan J. Kramer, ehemals Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland und heutiger Präsident des Verfassungsschutzamtes in Thüringen, muss diesen Widerspruch lösen, der mit dem Plagiat deutlich geworden ist. Er muss sich aus der Extremismusideologie, die Mahathma Gandhi und Adolf Hitler formal in gleicher Weise als „extremistisch“ sieht, verabschieden. Dieser Formalismus ist machttechnisch konzipiert, nicht inhaltlich. Dieser Formalismus zeigt sich in der erschreckend unmündigen Frage von Boris Palmer: „Wem trauen sie mehr: Dem Präsidenten des Verfassungsschutzes oder ‚Antifa Zeckenbiss?‘“
Traue dich, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, kann man Palmer hier nur antworten. Mündige Wahrhaftigkeit statt Untertanenmentalität. Was es zu schützen gilt, sind menschliche Würde und Menschenrechte. Denn die Würdelosigkeit zeigt sich heute so deutlich wie schon lange nicht mehr. Donald Trump ist die Inkarnation der Würdelosigkeit. Aber auch im Fall Maaßen zeigt sich diese Würdelosigkeit. Hier zeigt sich ein Machiavellismus, den ich als konträres Gegenstück zum Begriff der Würde im Sinne der Wahrhaftigkeit sehe. Und um diesen Machiavellismus ging es auch im vom VS plagiierten Text.
Der folgende Text von mir wurde von Kramer in der Pressekonferenz vorgelesen:
„Höcke erklärte am 17. Juni 2018 den Volksaufstand 1953 in der DDR zum Vorbild und posierte dabei auf einem Bild vor Steine schmeißenden Demonstranten, mit dem zu einer Kundgebung am 17. Juni 2018 geworben wurde. Hier erklärte Höcke, dass die Zeit des Redens vorbei sei, er gab der Polizei ‚fünf Minuten‘ Zeit, die weit entfernte Gegenkundgebung aufzulösen und unterbrach seine Rede.
Ein Pulk der AfD setzte sich bedrohlich in Richtung Gegenkundgebung in Bewegung. Diese packte die Sachen, Höcke ging wieder ans Mikro und sagte, manchmal müsse man das Recht in die eigenen Hände nehmen, die Polizei sei von ihren Führern verlassen worden, man müsse sie darin unterstützen, das Recht umzusetzen.
Im selben Monat erklärte Höcke beim Kyffhäusertreffen, dass nun die Zeit des Wolfes sei. Wenn eine AfD-Demo behindert werde, würde der Polizei fortan fünf Minuten Zeit gegeben, danach werde die Demo beendet und tausend Patrioten würden im Rücken der Gegendemonstranten auftauchen. Schon zuvor hatte Höcke die Bundespolizei aufgefordert ihren Vorgesetzten nicht mehr zu folgen, mit der Drohung, dass sie nach der Machtübernahme ‚des Volkes‘ zur Rechenschaft gezogen werden würden. […]
Der AfD-Landesvorsitzende in Thüringen und Kopf des national-völkischen ‚Flügels‘ in der Partei ‚Alternative für Deutschland‘, Björn Höcke, hat im Juli 2018 ein Buch mit dem Titel ‚Nie zweimal in denselben Fluss‘ im Manuscriptum-Verlag herausgegeben. Es handelt sich um ein rund dreihundert-seitiges Interview, mit dem der ‚wahre Höcke‘ präsentiert werden soll, weil die Medien ihn immer nur ausschnittweise und skandalisierend wiedergeben würden. […] In seinem Buch geht Höcke in eigenen Kapiteln auf die ‚Volksopposition‘ (zu der er auch ‚remonstrierende‘ Beamte zählt) und die Renovation (sprich ‚Revolution‘) ein. Diese Kapitel sind geprägt durch ein explizit machiavellistisches Politikverständnis, welches völkisch gefüllt wird. […]
Der Geschichtslehrer Höcke geht mit Machiavelli und Polybius von einem Verfassungskreislauf aus. Die Herrschaftsformen würden über ihre Verfallsformen zu neuen Herrschaftsformen führen: Alleinherrschaft […] Aktuell befinden wir uns nach Höcke „im letzten Degenerationsstadium“ der Demokratie, in der Ochlokratie (225ff.). Nach dieser Logik geht Höcke beim neuen System von einer Alleinherrschaft (Präsidialdemokratie mit Notstandsgesetzen? Diktatur?) aus. Auf die Frage, ob ein Volk sich selber aus dem Sumpf ziehen könne, antwortet Höcke mit Machiavelli: Nur ein ‚uomo virtuoso‘ könne ‚als alleiniger Inhaber der Staatsmacht ein zerrüttetes Gemeinwesen wieder in Ordnung bringen‘ (286).
Höcke strebt die Ersetzung der sogenannten ‚Neuen Weltordnung‘ (NWO) durch eine Aufteilung in kulturidentischen Großräumen an. Höcke will seine Version eines verkürzten Antikapitalismus mit einer geostrategischen Großraumpolitik verwirklichen und stützt sich dabei ausdrücklich auf Carl Schmitts ‚Interventionsverbot raumfremder Mächte‘ von 1939 (283).
Dieses sei zu ergänzen um das ‚Investitionsverbot raumfremden Kapitals‘ und das ‚Migrationsverbot raumfremder Bevölkerungen‘. Bereits 2016, während der Etablierung des ‚Herkules-Kreises‘, hatte Höcke dieses dreifache Großraum-Verbot gefordert, es findet sich aber schon länger in der neonazistischen Szene, zum Beispiel bei der NVP Österreich. Innerhalb des europäischen Großraums wäre Deutschland das Kraftzentrum, von dem die Direktive zur Zurückdrängung des Islams bis zum Bosporus ausginge, forderte Höcke 2018. Ist der Islam erst wieder auf „seinen“ Raum zurückgedrängt, hofft Höcke auf eine solide Zusammenarbeit mit dem islamischen Großraum. Aufgrund der engen Zusammenarbeit muslimischer Kräfte und Mächte mit dem Kaiserreich und dem Dritten Reich habe Deutschland im Orient einen guten Ruf, dies wäre ein guter ‚Modus vivendi‘.“
Was Kramer nicht vorgelesen hat und was auch den Rahmen der Pressekonferenz gesprengt hätte, waren meine Ausführungen zum Machiavellismus.
Der Machiavellismus ist ein Würde-Surrogat. Anstelle der Würde setzt er die „Virtù“, eine Form von männlicher „Ehre“, „Ehre“ des Volkes, die mit Gewalt, Grausamkeit, Betrug und Lüge arbeiten darf, ja muss, wenn es der Macht dienlich ist. Höcke bezieht sich explizit auf diese „Virtù“ Machiavellis.
„Virtù“ ersetzt Würde, die Virtualität der rechten, sich ständig selbstbestätigenden Blasen ersetzt Wahrhaftigkeit im Sinne Gandhis. Das männliche Machtgefühl der „Virtù“ verhindert eine würdevolle Selbstkritik, verhindert den emanzipatorischen Ausbruch aus der Gefangenschaft der Virtualität.
Faschistoide Blogs versuchen nun, Stefan J. Kramer zu diskreditieren, weil er ein „linksextremistisches“ Blatt, einen „Linksextremisten“ zitierte. Es geht darum, von den Inhalten, der Wahrhaftigkeit des Artikels abzulenken. Es wird erst gar nicht versucht, die Inhalte zu widerlegen. Sie sollen verdeckt werden von Äußerlichkeiten: Der Artikel kann nicht gut sein, der Autor hat lange Haare. Umso mehr ich diskreditiert werde, umso mehr fällt dies auf Kramer zurück, umso wahrscheinlicher wird es, dass Höcke nicht vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Was diese Blogs nicht verstehen: Viele Menschen folgen gar nicht deren machiavellistischen „Werten“, viele Menschen leben außerhalb der spießbürgerlichen zirkulären Virtualität und bedienen sich stattdessen würdevoll ihres eigenen Verstandes.
Ich hoffe, dass Kramer seinen Widerspruch löst, in dem er sich von der dunklen Seite der Macht, vom machttechnischen Machiavellismus der Extremismusideologie, entfernt. Die Lage ist ernst und erfordert von uns allen menschliche Würde im Sinne der Wahrhaftigkeit Gandhis.
Wir dürfen nicht nach Anerkennung heischen von Menschen und Institutionen, deren Anerkennung wir eigentlich gar nicht wollen.
Ich hätte meinen Artikel auch woanders schreiben können für viel Geld und formale Anerkennung. Wenn ich in der Graswurzelrevolution schreibe, erhalte ich kein Honorar. Aber Würde.
Andreas Kemper
Anmerkung: Zum Thema siehe auch das Editorial von Bernd Drücke, in dieser GWR 432, Seite 2