Fünf Jahre nach der Ermordung des antifaschistischen Rappers Pávlos Fýssas, am 17. September 2013, nähert sich der Prozess gegen 69 Mitglieder der Neonaziorganisation Chrysí Avgí (Goldene Morgenröte) seinem Ende. Nach der Anhörung von 129 Belastungszeug*innen und 16 Zeug*innen der Nebenklage, der Auswertung des umfangreichen Beweismaterials und der Telefonverbindungsdaten der Angeklagten, verfügt das Gericht über umfassende Kenntnisse, zu den mehr als 100 Naziangriffen, die die Anklageschrift beinhaltet. Offen bleibt, ob der politische Wille besteht Chrysí Avgí als kriminelle Vereinigung zu verbieten.
Die Ermordung von Pávlos Fýssas war der Wendepunkt für die bis zu diesem Zeitpunkt Straffreiheit genießende Neonaziorganisation. Der öffentliche Aufschrei zehntausender Griech*innen und die Tatsache, dass es in dieser Nacht erstmals gelang ein Mitglied von Chrysí Avgí Minuten nach einem Mord direkt am Tatort zu verhaften, beendete schlagartig die offene staatliche Duldung oder gar Förderung des Straßenterrors der so genannten Sturmbataillone der Neonazipartei. Es führte darüber hinaus zu Panik in der Führungsriege der Organisation, die versuchte sich vom Mörder Giorgos Roupakiás und seiner Tat zu distanzieren, und die bestritt, dass dieser gemeinsam und in Absprache mit dem örtlichen „Sturmbataillon“ gehandelt habe.
In der Sonntagsausgabe der Efimerída ton Syntaktón vom 15./16. September 2018 erläutern die beiden Anwältinnen der Familie Fýssas, Chrýsa Papadopoúlou und Elefthería Tombatzóglou, was den Mord betreffend vor Gericht bewiesen werden konnte und dass alle Überfälle der „Sturmbataillone“ nach dem gleichen Muster abliefen.
Papadopoúlou: „Wir haben nach den Aussagen der Freund*innen von Pávlos und der beiden Studentinnen, die Augenzeuginnen waren, sich ihrer schwierigen Aufgabe gewachsen zeigten, keine Angst hatten, sondern Mut bewiesen und die angeklagten Mitglieder von Chrysí Avgí identifizierten, die sie wiedererkannten, ein klares Bild davon, was an diesem Abend geschah. Besonders die Studentinnen beschrieben analytisch genau die verschiedenen Angriffswellen des Sturmbataillons aus Níkaia (Stadtteil von Piräus), derer sich Pávlos erwehren musste. Erst im Nachhinein kamen die entsprechenden Dokumente der Prozessakten hinzu, so nach der Aufhebung des Telefongeheimnisses, die telefonischen Absprachen der Angeklagten, welche die Aussagen der Zeug*innen bestätigten und bekräftigten.“
Durch die Aufhebung des Telefongeheimnisses konnte die Abfolge der Anrufe so wie die daran Beteiligten nachgewiesen werden. Es beginnt mit Anrufen eines Mitglieds des „Bataillons“ Níkaia, Ioánnis Ángos, der von Pávlos Freunden als einer der Gäste der Cafeteria Korálli identifiziert wurde, in der auch sie saßen, und der laut ihrer Aussagen „ständig am Telefon hing“. Tatsächlich rief Ángos mehrere Mitglieder des „Bataillons“ an und schließlich um 23 Uhr 19 den „Sicherheitschef“ Ioánnis Kazantzóglou, den für alle Aktionen der Truppe Verantwortlichen. Kazantzóglou wiederum informiert umgehend seinen „Standortführer“ Geórgios Patélis, dieser in der Folge Ioánnis Lagós aus der Parteiführung.
„Und direkt nachdem dieses Gespräch beendet ist, schickt Patélis eine SMS ab, mit der er die Mitglieder des Sturmbataillons Níkaia anweist, sofort am Parteibüro zu erscheinen. Die Abfolge der Telefonate deckt genauestens die hierarchische Struktur der Organisation auf und zeigt wie die Angriffe ausgeführt werden.“
In diesem Zusammenhang erinnert Papadopoúlou an ein im Verfahren vorgeführtes Video, in der „Standortführer“ Patélis einen anderen Angriff organisiert, bei dem sich die Mitglieder von Chrysí Avgí laut ihres Originaltons darauf vorbereiten, „alles zu schlachten, was sich bewegt“. Im Video sagt Patélis: „Wenn ich das ok von Lagós erhalte, bekommt ihr sofort eine SMS.“ Der Ausschnitt bestätigt die Art der Ausführung der Angriffe auf der Basis klarer Hierarchien und absoluter Disziplin.
Papadopoúlou: „In der Nacht des Mordes wird unter genauer Einhaltung der Hierarchie die Parteimaschinerie von Chrysí Avgí aktiviert, damit sich die Mitglieder vor dem Büro in Níkaia treffen, um organisiert und gemeinsam zum Überfall zur Cafeteria Korálli aufzubrechen.“ Der Nazi-Konvoi, bestehend aus Autos und Motorrädern, der sich Richtung Korálli bewegt, ist auf den Bändern der Sicherheitskameras verschiedener Geschäfte zu sehen. Darunter auch der Wagen des Mörders Roupakiás, der nach eigener Aussage gemeinsam mit den anderen am Parteibüro in Níkaia losfuhr. Die Verteidigung der Parteiführung hatte zu Beginn des Verfahrens behauptet, Roupakiás sei nicht von ihr informiert worden, eigentlich kenne ihn auch niemand, und er sei auf eigene Faust vor Ort gewesen. Eine Behauptung der die Telefonverbindungsdaten widersprechen, laut derer Roupakiás in der Vorbereitungsphase des Angriffs mehrmals mit anderen des „Bataillons“ und „Sicherheitschef“ Kazantzóglou telefonierte. „Hier ist ein ganz wichtiger Punkt der Aussage der beiden Studentinnen. Als Roupakiás an der Stelle ankommt wo der Überfall bereits läuft, öffnet sich für ihn der Kreis der angreifenden Chrysí Avgí-Mitglieder, die Pávlos umzingelt haben, und geben ihm Raum um Pávlos anzugehen und zuzustechen.“
Während vor und nach der Tat die Handys der beteiligten Neonazis heiß laufen, gibt es dazwischen eine Zeitspanne von sechs bis sieben Minuten – kurz vor und kurz nach Mitternacht – in der absolute Stille herrscht und niemand von ihnen telefoniert. Es ist die Zeitspanne des Überfalls und des Mordes. Direkt nach dem Verbrechen beginnen die Telefonate erneut und auch nun ist die genaue Abfolge bekannt. Es beginnt mit einem Anruf Roupakiás, der zwar verhaftet ist, aber sein Handy behalten darf, und Patélis informiert, der die Nachricht an Lagós weiterleitet, der wiederum Parteichef Nikos Michaloliákos informiert.
Papadopoúlou: „Lagós wurde vom ‚Standortführer‘ Patéli informiert, was er auch in einem Video zugibt. Es ist ganz klar, dass er danach den ‚Führer‘ anruft, hauptsächlich wegen der Verhaftung Roupakiás. Denn die ist überaus wichtig. Es ist nach all den Naziangriffen das erste Mal, dass wir eine Verhaftung des Täters auf frischer Tat haben, und noch dazu nachdem Pávlos, ihn kurz vor seinem letzten Atemzug, identifiziert hat. Hätte es diese Verhaftung nicht gegeben, wären wir nicht an das Handy von Kazantzóglou gekommen, nicht an die SMS von Patéli, und könnten uns jetzt das Märchen anhören, ‚der hat ihn wegen Fußball umgebracht‘.“
Auch die Verteidigung von Parteiführer Michaloliákos rückt inzwischen davon ab, er habe erst am nächsten Tag vom Mord erfahren und in der Nacht mit Lagós über andere Themen gesprochen. Eindeutig heißt es nun: „Na ja, sollte er als Parteichef etwa nicht informiert werden?“ Zumindest laufen die Anrufe ab diesem Moment in die andere Richtung, da die Befehle von Michaloliáko über Lagós und Patélis an Roupakiás vermittelt werden und Chrysí Avgí ab nun versucht den Mord zu verdunkeln.
Tombatzóglou: „Durch die Aufhebung des Telefongeheimnisses wissen wir, dass, als die Polizei am Tag nach dem Mord beginnt Mitglieder von Chrysí Avgí als Zeugen ins Präsidium vorzuladen, eine formlose Konferenz von Parteiführer Michaloliákos und anderen Führungskadern der Partei stattfindet und Anweisungen nach unten gegeben werden, wer und ob man Roupakiás kennt und ob den Vorladungen Folge geleistet werden soll. Kader vor Ort in Piräus versuchen auf Befehl von Lagós Messer, Knüppel und alles was laut Gesetz als Waffe gilt, aus dem Parteibüro zu entfernen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Beamtin der örtlichen Polizeiwache in Piräus, Venetía Pópori, Chrysí Avgí informiert, dass eine polizeiliche Durchsuchung des Parteibüros in Piräus stattfinden werde. Die Beamtin, die im Übrigen eine der 69 Angeklagten im Prozess ist, befindet sich aus welchem Grund auch immer nach wie vor im Dienst.“
Der harte Kern der Kader aus Níkaia galt der Parteispitze immer als Musterbeispiel ihrer Sturmbataillone, da sie auf Befehl der Parteiführung in ganz Griechenland agierten und ihr Erscheinen in Provinzstädten mit Randale und Angriffen auf Andersdenkende verbunden war, was die Chrysí Avgí-Parlamentarier in höchsten Tönen lobten. Im Fall des Mordes an Pávlos versuchten sie nun alles abzustreiten. „Dass die Angreifer Mitglieder von Chrysí Avgí waren, dass die Augenzeug*innen wirklich vor Ort waren, sie bestritten noch das Offensichtliche. Eine Anwältin verstieg sich dazu das Mordopfer Pávlos als ‚angebliches Opfer‘ zu bezeichnen und ein anderer Anwalt versuchte die Umzingelung von Pávlos durch seine Angreifer als einen Schutzring seiner Freund*innen darzustellen. Nach all den im Prozess erbrachten Beweisen, ist die Verteidigung der Nazis inzwischen gezwungen das Verbrechen zuzugeben. Sie versucht jedoch weiterhin Roupakiás als Einzeltäter darzustellen, während alle anderen Mitglieder von Chrysí Avgí nur geschlagen, getreten, geflucht und gedroht hätten.“
Es wird versucht den Mord aus den sonstigen Verbrechen der Organisation herauszulösen. Das Gericht sollte jedoch inzwischen wissen, dass der Mord an Pávlos die gleichen Charakteristika wie alle organisierten Verbrechen der Partei aufweisen, betont Tombatzóglou: „Sie finden abends von geschlossen agierenden Gruppen statt, die vielzähliger als ihre Opfer sind. Immer werden die Opfer überrascht und immer sind sie unbewaffnet, eine Tatsache, die in allen Fällen ausschließt, dass es sich um ‚Auseinandersetzungen‘ handelt. Immer sind die Sturmbataillone von Chrysí Avgí bewaffnet, immer tauchen sie geschlossen auf und ziehen sich geschlossen zurück, in den meisten Fällen ist ein Rückzugssignal zu hören, wie auch die meisten Angriffe innerhalb einer bestimmten Zeitspanne beendet werden. Und im Zusammenhang mit Aussagen anderer Zeugen, wie der des Chrysí Avgí-Aussteigers Ilías Stávrou, ergibt sich, dass es den Befehl gibt einen möglichst großen Schaden in möglichst geringer Zeit anzurichten. Stávrou sagte aus, wenn der Befehl ‚zerschlagen‘ lautet, müssen sie innerhalb einer Minute zerstören was geht, lautet der Befehl ‚morden‘, müssen sie versuchen innerhalb einer Minute zu morden.“
Anwältin Elefthería Tombatzóglou kann darüber aus eigener schmerzhafter Erfahrung berichten. Beim Überfall eines Chrysí Avgí-Sturmbataillons auf den von Anarchist*innen betriebenen „Freien sozialen Raum Favéla“ am 25. Februar 2018 wurden sie und vier weitere Anwesende schwer am Kopf verletzt. „Ich habe das, was mehr als 50 Menschen vor Gericht ausgesagt haben, selbst erlebt. Und ich konnte die aus den Prozessakten bekannte Art de Vorgehens von Chrysí Avgí, wiedererkennen. Das war es, was mir die Kaltblütigkeit gab daran zu denken, dass in wenigen Minuten, solange diese Überfälle eben dauern, der Befehl zum Abzug kommen würde. Und ich sagte mir, dann wirst du überleben.“
Am 17. und 18. September 2018 demonstrierten zehntausende Antifaschist*innen in vielen griechischen Städten im Gedenken an den fünften Todestag von Pávlos Fýssas. In Athen, Thessaloníki, Pátras und Agrínio kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften.
Ralf Dreis, Athen
Weitere Artikel zum Thema in der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos gibt es hier.