Dezentral und kreativ

Wie sich die Seebrücken-Bewegung dem Sterben im Mittelmeer entgegenstellen will

| Stephan

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Foto: Jan O - via flickr, (CC BY 2.0), https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode

Wenn Hamed von seiner Flucht erzählt, wird er ernst. „Flüchtling zu sein ist nichts, was man sich aussucht“, erklärt er. „Menschen, die alles verloren haben, brauchen eine zweite Chance.“

Hamed und sein Bruder Ahmed sind vor zweieinhalb Jahren aus Syrien geflüchtet. Die Beiden mussten insgesamt 7.000 Euro an Schlepper bezahlen, um auf einem völlig überfüllten und maroden Boot über die Ägäis nach Griechenland zu reisen und sich von dort über die Balkanroute nach Deutschland durchzuschlagen. Weil er die Strapazen aus eigenem Erleben kennt, weiß der 28-Jährige, wie wichtig die Seenotrettung im Mittelmeer ist: „Mehr Helfer bedeutet weniger Tote.“

Bastelarbeit: Seebrücke-Demonstrantinnen mit Rettungsbooten – Foto: Bernd Drücke

Seit Jahresbeginn sind nach Angaben der Hilfsorganisation Sea-Watch im Mittelmeer bis Oktober knapp 1800 Menschen ums Leben gekommen. Die EU kooperiert derweil mit autoritären Regimen, um Migrant*innen schon lange vor einer möglichen Überfahrt zu stoppen. Die Zustände in den Flüchtlingslagern an der europäischen Peripherie sind im Wortsinne erbärmlich: Sie sind schmutzig und überfüllt – aus Libyen wird sogar von „KZ-ähnlichen Verhältnissen“, von Folter und Vergewaltigung berichtet. Und die westliche Außen- und Wirtschaftspolitik sorgt laufend für neue Fluchtanlässe. Das alles ist natürlich nicht neu. Doch im Sommer kam es zur Eskalation: Der neue italienische Innenminister Matteo Salvini verwehrte dem Seenotrettungsschiff „Lifeline“ mit 234 geretteten Menschen den Zugang zu italienischen Häfen. Obwohl mehrere Städte und Länder angeboten hatten, die Menschen aufzunehmen, musste die „Lifeline“ tagelang auf hoher See ausharren, bis sich schließlich Malta bereiterklärte, einen Hafen zu öffnen. Die verschärfte Kriminalisierung privater Seenotrettung rief die Zivilgesellschaft auf den Plan: Aktivist*innen aus der Geflüchtetenhilfe riefen zur Schaffung sicherer Häfen auf – die Seebrücke war geboren.

Aus einer Chatgruppe unter Berliner Kulturschaffenden und Politaktivist*innen wurde schnell eine Massenbewegung. Das hat auch mit geschickter Öffentlichkeitsarbeit zu tun: Bei einem ersten Treffen am 27. Juni 2018 einigte man sich auf den Namen Seebrücke und die Farbe Orange – gewissermaßen eine eigene „Corporate Identity“. Eine satirische Aktion des Peng-Kollektivs zu einer vermeintlichen „Initiative Seebrücke des Bundes“ sorgte dann mit Unterstützung von Schauspieler Jan Josef Liefers und Moderator Jan Böhmermann für bundesweite Aufmerksamkeit. Zudem suchte Seebrücke von Anfang Kontakt zu etablierten Akteur*innen der Zivilgesellschaft, und zwar nicht nur aus der Geflüchtetenhilfe. Zu den Unterstützer*innen der Bewegung gehören heute so unterschiedliche Organisationen wie der Chaos Computer Club, die Interventionistische Linke, das Eine Welt Netz NRW und der gemeinnützige Verein Mensch Mensch Mensch, der für das Impressum der Seebrücken-Homepage verantwortlich zeichnet. Diese Faktoren trugen zweifellos dazu bei, dass die Seebrücken-Bewegung im Sommer so rasche Verbreitung fand. Aufgrund der dezentralen Struktur der Bewegung sind genaue Angaben schwierig; doch geht man davon aus, dass sich seit Juli etwa 150.000 Menschen in 150 Städten an Aktionen der Seebrücke beteiligt haben.

Hamed ist in der Münsteraner Gruppe aktiv; eine deutsche Freundin hat ihn auf die Bewegung aufmerksam gemacht. „Es ist wichtig zu zeigen, wie schwierig die Situation auf dem Meer ist“, findet er. Dieser Gedanke vereint hier alle: Egal ob Moslem, Christin oder Atheist, ganz unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung – das Sterben im Mittelmeer soll endlich aufhören. Derzeit sind es in der Regel zehn bis fünfzehn Leute, meist Studentinnen und Studenten, welche die regelmäßigen Seebrücken-Treffen besuchen. Unterschiedliche politische Ansichten sind in der Praxis kaum ein Problem: Entscheidungen werden konsensorientiert und nach ausführlicher Diskussion getroffen. Alle Aktiven legen großen Wert auf parteipolitische Neutralität, und keine einzelne beteiligte Gruppierung hat eine Führungsrolle. Tatsächlich stoßen einige beteiligte Gruppen eher nach Bedarf hinzu und bleiben wieder fort, sobald eine Aktion abgeschlossen ist.

Auch das übergreifende Seebrücken-Bündnis betont Flexibilität und Autonomie. „Teil der Seebrücke wird man, indem man sich einbringt“, heißt es bei den Aktivist*innen. Dazu gehört auch, dass lokale Gruppen oder einzelne Akteure volle Handlungsfreiheit genießen. Die bundesweite Seebrücke übernimmt lediglich Koordinationsaufgaben. Diese lokale Autonomie ermöglichte eine Vielzahl phantasievoller Aktionen. So machte die Münsteraner Gruppe im Sommer mit dem massenhaften Falten von symbolischen Papierschiffchen auf sich aufmerksam (vgl. GWR 431), während in anderen Städten neue Formen von Demonstrationen erprobt wurden: „Cornern gegen Horst [Seehofer]“ in Leipzig, eine „Nachttanzdemo für Menschenrechte“ in Gießen und „Flashmobs 1405+ X“ in Blomberg, Detmold und Osnabrück, um an die bis dahin 1405 im Jahr 2018 im Mittelmeer ertrunkenen Menschen zu erinnern. In Mannheim wurden bei einer Informationsveranstaltung Spaghetti gekocht, in Kassel ging man „Radeln in Orange“ und in Regensburg wurde ein Trauermarsch veranstaltet. Filme zu Flucht und Migration wie der Dokumentarfilm über das Seenotrettungsschiff „Iuventa“ der NGO „Jugend rettet“ wurden in dutzenden Städten gezeigt. Aktivist*innen von Seebrücke besuchten einige Stadtratssitzungen, um die jeweilige lokale Politik auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen und für Ideen wie die „solidarische Stadt“ zu gewinnen, bei der Sozialleistungen von Staatsbürgerschaft und Aufenthaltsstatus entkoppelt werden. Schließlich wurden auf den vielen Demonstrationen starke Zeichen gegen den Rechtsruck gesetzt und wertvolle Spendengelder gesammelt, die der Seenotrettung beziehungsweise der Verteidigung kriminalisierter Seenotretter zugute kommen.

Und Verteidigung tut not: Die Arbeit der Seenotrettung wird insbesondere von der italienischen Regierung immer brutaler behindert. Schiffe werden beschlagnahmt oder wie „Lifeline“ und „Aquarius“ von rettenden Häfen ferngehalten. Andere werden gleich ganz am Auslaufen gehindert. Diese Blockade der zivilen Seenotrettung hat die Todesrate an der Südgrenze der EU auf ein Rekordniveau getrieben – derzeit stirbt eine von fünf Personen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren. Die Blockadehaltung der italienischen Regierung hat nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration inzwischen dazu geführt, dass statt Italien nunmehr Spanien zum neuen Hauptziel illegalisierter Migration wurde.

DFG-VK-Video zur Seebrücke-Demo in Kassel, via Youtube

 

In dieser Situation setzt die Europäische Union verstärkt auf Zusammenarbeit mit autoritären Staaten. Schon seit einiger Zeit fängt die EU-finanzierte libysche Küstenwache Flüchtende sogar in internationalen Gewässern ab und sperrt sie in Internierungslager. Neuerdings ist auch der Weg über Marokko nach Spanien gefährlicher geworden: Die marokkanische Marine eröffnete im September das Feuer auf ein Flüchtlingsboot, wobei eine junge Frau ums Leben kam. Auch die Türkei setzt an der syrischen Grenze regelmäßig Schusswaffen ein – und wird von der EU mit zweistelligen Millionenbeträgen unterstützt. Seit dem Jahr 2000 sind nach einer Schätzung von Pro Asyl an den europäischen Außengrenzen über 35.000 Menschen ums Leben gekommen. Alle Versprechen der Politik, das Sterben zu beenden, erwiesen sich als Schall und Rauch. Und alles Gerede über Fluchtursachen bleibt Verschleierungstaktik, solange etwa subventionierte Agrarprodukte aus Europa die afrikanischen Märkte überfluten; es drückt allenfalls den bleibenden Kontrollanspruch der früheren Kolonialmächte aus. Ohne eine starke Bewegung von unten wird sich an all dem nichts ändern. Kann die Seebrücke dazu einen Beitrag leisten?

Nichts ist einfacher, als eine Bewegung wie Seebrücke etwa wegen ihres „Reformismus“ schlecht zu reden. Wenn sich Menschen massenhaft in Bewegung setzen, gibt es aber Wichtigeres als langwierige theoretische Diskussionen. Es mag ja sein, dass sich viele der Beteiligten Illusionen über den menschenfreundlichen Auftrag deutscher oder europäischer Politik machen – was wirklich zählt, ist zunächst einmal ihr Einsatz auf der Straße. Die Politisierung folgt in der Regel eben der Aktion und nicht andersherum. „Move your ass and your mind will follow“, wie es so schön heißt. Auch die schlauesten Ideologiekritiker*innen haben einmal klein angefangen. So sieht es auch Jonas von der Seebrücke Münster: „Seebrücke hat mit etwas Unmittelbarem und von vielen Nachvollziehbarem angefangen: Die Empörung angesichts des Sterbens im Mittelmeer und der Verhinderung von Seenotrettung. Auf die Straße gehen, um ‚Seenotrettung ist kein Verbrechen!‘ zu rufen, ist fast peinlich, wenn man eigentlich ‚Stoppt den rassistischen Genozid!‘ (Balibar) rufen müsste. Und doch geht es bei Seebrücke von Anfang an um viel mehr. Denn wir fordern nicht nur die Ermöglichung von Seenotrettung, sondern die Schaffung von sicheren Fluchtwegen und die Einrichtung solidarischer Städte. Es geht also um einen radikal anderen Umgang mit Migration und damit, denkt man es zu Ende, um deutlich andere Gesellschaftsverhältnisse. Deshalb hat Seebrücke ein riesiges Potential, Menschen nicht nur auf die Straße zu bringen, sondern auch zu einer im Namen des Lebens der M

Foto: Till Westermayer – via flickr (CC BY-SA 2.0)

enschen, der realen Gleichheit und Freiheit notwendigen Gesellschaftskritik beizutragen.“ Manch eine/r mag auch den Fokus auf Symbolpolitik bemängeln: Pappschiffchen und Flashmobs ändern nichts an realen Machtverhältnissen und mögen in gewisser Hinsicht, wie die Rapperin Sookee gegenüber der taz bemerkte, „hippiesker Scheiß aus den 80er Jahren“ sein. Doch sollte man die Bedeutung einer guten Öffentlichkeitsarbeit nicht unterschätzen, wie Sookee im gleichen Gespräch betonte: „Mein Foto mit einer Rettungsweste wird Seehofer nicht umstimmen. Aber es geht ja auch darum, diesen Leuten klarzumachen, dass sie nicht die Hegemonie bilden.“ In Zeiten von Trump, AfD und ständiger Hetze gegen Geflüchtete ist eine Bewegung wie Seebrücke ein wichtiger erster Schritt aus der Defensive. Skeptiker*innen seien an Bertolt Brecht erinnert: Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Stephan

Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier