Der 41-jährige Krankenpfleger Niels Högel ist bereits wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Nun ist er seit Ende Oktober 2018 in Oldenburg angeklagt, in den Jahren 2000 bis 2005 zuerst am Klinikum Oldenburg, dann in Delmenhorst 100 Menschen ermordet zu haben. Wegen der zahlreichen NebenklägerInnen und dem großen öffentlichen Interesse tagt das Gericht in den Oldenburger Weser-Ems-Hallen. Manchmal hört man nun Aussagen, dass „ausgerechnet“ im Krankenhaus, wo die Menschen doch geheilt werden sollen, „so etwas“ passiert. Wäre die richtige Frage „Wo sonst könnte so etwas passieren?“ (GWR-Red.)
Niels Högel ist nicht der erste „Todespfleger“; aber er ist der spektakulärste Fall, der bisher öffentlich verhandelt wird.
Warum tut jemand so etwas?
Oft haben die entdeckten TäterInnen „Mitleid“ als Motiv genannt, aber auch Stress oder Langeweile. Vielleicht sind ihre Motive individuell, aber sind die sozialen Situationen, die ihre Taten ermöglichen, nicht ähnlich? Können andererseits nicht auch in ganz unterschiedlichen sozialen Situationen ähnliche Handlungen entstehen? Was also haben die Situationen gemeinsam? Welche Glaubwürdigkeit hat überhaupt, was sie ihre Beweggründe nennen? Die benannten Motive müssen ja gesellschaftlich akzeptabel sein, einem Gericht etwa einleuchten und „mildernde Umstände“ begründen. Mit dem eigenen Selbstbild vereinbar müssen die Motive sein.
Gewalt wird, zumal erfolgreich, gegen Schwache eingesetzt, „schwach“ bedeutet im Fall des Krankenhauses nicht nur physische und soziale Angreifbarkeit, sondern auch: Opfer der Definitionsgewalt von ÄrztInnen und PflegerInnen.Die soziale Situation wird überwiegend von ihnen definiert. Dominanz über das Opfer muss nicht aktiv hergestellt werden, sie ist eine institutionelle und materielle Tatsache, die Intervention wird gefordert, da sind keine Hemmungen zu überwinden, die Rechtfertigungen auch für Zwangshandlungen liegen bereit. Der Übergang zur Gewalt ist im vorliegenden Fall des Krankenpflegers gut beobachtbar: Seine Leidenschaft, Aufgabe und „ausgewiesene Kompetenz“ bestand in der Wiederbelebung, der Rettung in letzter Minute, das demonstrierte er mit Leidenschaft. Solche Situationen lernte er selbst herzustellen, durch Medikamente, die die PatientInnen, etwa durch Vorhofflimmern, in lebensbedrohliche Situationen brachten, so dass er sie retten konnte. Es ging dann aber manchmal schief, und er bemerkte, dass es ohne Konsequenzen blieb, wenn jemand starb. Er konnte die Schwerkranken also bearbeiten, um seine Fähigkeiten zu demonstrieren und sie leben machen; wenn das misslang, zeigte sich nur einmal mehr, wie gefährlich nah der Tod war und wie glücklich er in den anderen Fällen agiert hatte. Die Dunkelziffer weiterer Taten ist hoch, es könnten allein bei Niels Högel bis zu 322 gewesen sein, denn die meisten Opfer des Krankenpflegers wurden nicht erdbestattet, sondern verbrannt, so dass kein Nachweis möglich ist, dass er auch sie durch Injektionen getötet hat. Das Medikament Ajmalin beispielsweise lässt sich nach einem Tag nicht mehr nachweisen, wenn ein Patient nicht sofort, sondern erst später an den Folgen der Injektion verstirbt. Er war also an der Grenze zum „perfekten Mord“!
Der Beginn aller Schrecken ist Rettung
Aber warum? Im Fall spektakulärer Gewalt werden meist zwei Perspektiven angeboten: Die individualpsychologische, die in Charaktermerkmalen und biographischen Besonderheiten der Täterpersönlichkeit „Ursachen“ erkennen will, oder eine „Ableitung“ aus gesellschaftlichen Groß-Strukturen. Auch bei Schul-Amokläufern oder jihadistischen Attentätern werden entweder der „pathologische“ Einzelne oder die verursachenden Einflüsse (Computerspiele, der Islam …) herangezogen. Solche Erklärungen bieten meist nur halbwahre Annäherungen, oft sind sie ganz irrig, weil zu grob oder auf falschen Informationen und journalistischen „Schnellschüssen“ beruhend. Und solche „Ableitungen“ schützen dann letztlich verursachende Strukturen. So auch im Fall des Krankenpflegers. Vielleicht wird er nun, nach der Entdeckung der Taten, auch pathologisiert, zu jemandem gemacht, der er damals gerade nicht war?! Oder waren es doch benennbare Strukturen? Wenn man allerdings „im Netz“ nach Besonderheiten von „Station 211“ sucht, findet man Berichte über eine von Nazis und Aliens betriebene und besuchte Station 211 in der Antarktis.
Vielversprechend aufklärerisch beginnt der Text „Fehler im System“ von Guido Sprügel in der Jungle World 45/2018: „Welche Rolle die Arbeitsbedingungen in den Kliniken in dem Fall gespielt haben könnten, wurde medial kaum thematisiert“. Nachdem Sprügels Artikel sich weitgehend mit Personalmangel und Fallpauschalen beschäftigt hat, dies allerdings pauschal und nicht etwa am Beispiel der genannten Kliniken, stellt er fest:
„In Högels Fall dürften die schlechten Arbeitsbedingungen an den Krankenhäusern eher eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Allem Anschein nach litt der Pfleger unter einer psychischen Störung und hätte auch in einem anderen Umfeld gemordet.“ Wirklich? Oder ist das eine der ganz wenigen Sicherheiten, die wir haben: Er hätte eben nicht in jedem anderen Umfeld auch gemordet!
So sagt Karl H. Beine, der sich lange Jahre mit PatientInnentötungen beschäftigt hat, auf eine Frage der NWZ: Wie werden die Täter zu Tätern?
„Sie werden im Krankenhaus zu Tätern. Ich bin überzeugt davon, dass kein Täter straffällig geworden wäre, hätte er nicht im Krankenhaus gearbeitet.“ (NWZ vom 12.2.2015). Dagegen Jungle World: „Schlupflöcher, die es Menschen wie Niels Högel erlauben, Verbrechen zu begehen, wird es wahrscheinlich immer geben.“ Aber was wissen wir denn über „ Menschen wie Niels Högel“, ist das irgendeine deutlich abgegrenzte Kategorie? Wohl kaum!
Und wird irgendwo erkennbar mit Fallpauschalen und Personalmangel erklärt, warum er getötet hat? Allenfalls negativ:
„Auch eine Vier-Augen-Leichenschau wird nicht zweifelsfrei feststellen können, ob es ein Fremdverschulden gab. Eine aktive, demokratische Gesprächskultur ist im Alltag weitaus effektiver als Whistleblowing. Es geht ja um das Aufdecken individueller und nicht institutioneller Fehler“, kommentiert Peter Hoffmann, einer der Vorsitzenden des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ).“
Es wird also im Gegensatz zum Versprechen in der Einleitung des Textes immer wieder betont, es gäbe keine institutionellen Fehler, deshalb sei auch verschärfte Kontrolle durch Beobachtung der Sterbeziffern, qualifizierte Leichenschau, ein anonymes Fehlermeldesystem (wie es in Niedersachsen eingeführt wurde) oder eine besondere Krankenhausapotheke, die den Medikamentenverbrauch kontrolliert, nicht sinnvoll. Der bisher krasseste Fall von Anti-Leninismus in der Jungle World (gut, dass Jürgen Elsässer das nicht mehr erleben muss!) wird erreicht durch die Erläuterung: „Der Ansatz von Qualitätssicherung sollte Vertrauen und nicht Kontrolle sein. Durch Zeit für Gespräche unter den Kollegen können Missstände viel eher besprochen werden. Doch diese Zeit haben wir kaum mehr.“
Zweifellos gibt es viele gute Gründe, gegen die Diktatur der Betriebswirte in den Kliniken und Arztpraxen zu sein, auch im Interesse der PatientInnen gegen Stress, mangelnde Weiterbildung, Zeitdruck, schlechte Bezahlung, Überstunden einzutreten (wir kommen darauf zurück!), es hat aber nur einen zweifelhaften Erklärungswert für PatientInnentötungen – wie der Artikel zugeben muss. Vor allem gibt es seit langem Untersuchungen über Gewalt in Kliniken und Pflegeheimen, die tatsächlich geeignet sind, idyllische Vorstellungen über das Gesundheitswesen in Frage zu stellen. Eine Untersuchung des Deutschen Instituts für Angewandte Pflegeforschung 2017 hat erneut bestätigt, „dass Gewalterfahrungen gegenüber Patienten, Bewohnern und Pflegebedürftigen, aber auch gegenüber Pflegenden ganz offensichtlich zum Pflegealltag“ gehören, die befragten PflegeschülerInnen gaben viel häufiger als erfahrene Pflegekräfte solche Erfahrungen zu Protokoll:
„Während 29,1% der 258 befragten Pflegefachpersonen angeben, dass sie ‚eher häufig‘ bis ‚sehr häufig‘ erleben, dass Pflegemaßnahmen gegen den Willen von Patienten oder Pflegebedürftigen durchgeführt werden, sind es bei den 69 befragten Schülern 46,4%, die die Frage so beantworten.
Auch bei der Frage nach Erfahrungen aus dem Alltag nach Gewalt gegen Patienten/Pflegebedürftige durch Pflegende wird von den Schülern mit 17,4% (‚sehr häufig‘ und ‚eher häufig‘) zu 9,2% ein fast doppelt so hoher Wert erreicht“ (was mit Gewöhnung erklärt werden kann, offensichtlich wird „Gewalt“ nach der Ausbildung eher normalisiert). Pflegekräfte werden hier nicht etwa beschuldigt, sie sind selbst oft Opfer. „Gewalt“ ist auch keineswegs linear auf Tötung zu verlängern, es geht oft um Alltagssituationen, Konflikte, notwendige Konfrontationen manchmal. „Gewalt“ muss als Interaktion begriffen werden und kann weder aus dem Wesen des Individuums noch Makrostrukturen der Krankenverwaltung bruchlos abgeleitet werden.
Es scheint mir aber wichtig, ein realistisches Bild der schwierigen Situationen zu zeichnen. Und es geht darum, ein „Klima“ oder eine „Atmosphäre“ zu verstehen, die in Abteilungen des Medizinbetriebs herrschen können. Dazu gehört beispielsweise auch, wie ÄrztInnen und Pflegekräfte über PatientInnen reden, wenn sie glauben unter sich zu sein; vor einigen Jahren gab es mehrere Berichte, dass bei Operationen die Narkose nicht verhindert hatte, dass die PatientInnen hörten, wie über sie gesprochen wurde: Sie waren entsetzt. „In unserem Beruf ist es grundsätzlich außerhalb des Vorstellbaren, dass ein Kollege sich gegen das Patientenwohl richtet. Es widerspricht jeglichem medizinischen Grundverständnis“, sagt Hoffmann der Jungle World, und genau dieses Nicht-Vorstellen-Können (oder -Wollen?) ist vielleicht das Hauptproblem! Ist das nicht die Ideologie, das notwendige falsche Bewusstsein des Medizinbetriebs, das Selbstkritik blockiert?
Wie soll etwas verhindert werden, was schon definitionsgemäß ausgeschlossen ist? Muss man nicht – allen Selbstbeschreibungen und „Leitbildern“ (hier wäre Zeit, über neo-liberale Orientierungen zu sprechen! Über die „flachen Hierarchien“ haben wir auch nichts gelesen!) zum Trotz von den tatsächlichen Problemen ausgehen? Einige dieser Probleme werden sicherlich verschärft durch die Rationalisierungswelle, die ständige „Optimierungs“-Sucht und alles, was damit – siehe oben – zusammenhängt, aber gleichzeitig wurden in den letzten Jahrzehnten auch die möglichen Zwangsmaßnahmen gegen PatientInnen eher zurückgedrängt (vgl. „Pflege-Charta“), manchmal bis zu bürokratischen Exzessen, wenn etwa ein Amtsrichter entscheiden muss, ob ein Bett gegen das Herausfallen einer PatientIn gesichert werden darf oder ob das Freiheitsberaubung ist – sogar wenn die Patientin sich das wünscht. PatientInnenrechte wurden gestärkt, es ist nur die Frage, ob diese Rechte auch in Anspruch genommen werden (können).Aber das Machtgefälle zwischen dem Personal der Anstalten (und deren „Corporate Identity“, die so hübsche Selbstbeschreibungen bereithalten!) und dem Elend der PatientInnen bleibt enorm und wird durch Taten wie die von Högel grell beleuchtet.
Idyllisch nenne ich auch folgende Beschreibung:
„Peter Hoffmann hat die Zeit vor Einführung der Fallpauschalen noch erlebt. Damals hatten Führungskräfte noch genug Zeit, um sich um die Sorgen und Nöte der Mitarbeiter zu kümmern.“
Haben sie es denn auch getan, als sie die Zeit hatten? Ist nicht die Haupttendenz des „Neo-Liberalismus“ die ungeheure Vervielfältigung der „Führungskräfte“!? Sind „Führungskräfte“ denn „die Guten?“ Oder hatte Högel das Zeug zur Führungskraft?
Singularität oder „der Terror als hohe Kunst betrachtet“
Es war nicht zuletzt Profilierungssucht, die ihn veranlasste als „Champion der Wiederbelebung“ anzutreten, er spritzte lebensbedrohliche Medikamente – und „rettete“ die Patienten dann. Manche PatientInnen ließ er mehrmals kollabieren um sie zu reanimieren. „Im September 2001 wurden in einer einzigen Nachtschicht von H. fünf Patienten 14-mal reanimiert.“ (Zeit, 8.11.2018). Dass das häufiger nicht gelang, große Mengen bestimmter Medikamente verbraucht wurden, Todesfälle sich häuften, wenn Niels Högel Dienst hatte, konnte nicht verborgen bleiben, er wurde in eine andere Abteilung versetzt, wo es daraufhin wiederum häufigere Reanimationen gab als zuvor. Högel wurde also durchaus beobachtet, hatte einen Ruf als „Reanimations-Rambo“, aber das alles war eher Anlass für zynische Scherze oder ungute Gefühle, mit dem „Pechvogel“ zusammen zu arbeiten. So konnte er eine unbekannte Zahl von Menschen töten. Erst nach seiner Entdeckung wurde in Delmenhorst das Offensichtliche durch die Polizei statistisch ausgewertet: Der Vergleich der Sterbefälle auf der Intensivstation in Delmenhorst mit den Dienstzeiten von Niels Högel und dem Verbrauch des Herzmittels Gilurytmal (er benutzte auch andere!) zeigten den Zusammenhang:
„2003 und 2004 war die Sterberate auf der Station etwa doppelt so hoch wie in den Jahren zuvor. Der Verbrauch des Medikaments Gilurytmal schnellte von 2002 bis 2004 auf mehr als das Siebenfache hoch. Im ersten Halbjahr 2005 passierten 73 Prozent der Todesfälle auf der Intensivstation während der Dienstzeit von Niels Högel oder unmittelbar danach“ (NWZ).
Nach dem Ende seiner Dienstzeit sank die Sterblichkeit sofort wieder auf das Niveau des Jahres vor seiner Beschäftigung dort.
Warum hat niemand ihn gehindert?
Dass PatientInnen sich beklagt hatten, es sei ihnen nach einer Spritze sehr schlecht gegangen oder sie wollten nicht von Niels Högel behandelt werden, wird in solchen Organisationen gern dem „querulatorischen“ Patienten zugeschrieben, der sich da etwas einbildet. Wer Arbeitsverhältnisse kennt, kann sich vorstellen, wie auf solche Beschwerden reagiert wird, etwa: „Soweit kommt es noch, dass die PatientInnen entscheiden, von wem sie die Spritze bekommen!“ Stellen wir uns einmal vor, der Pfleger hätte damals ausgesehen, wie er heute vor Gericht aussieht. Ist es nicht eigenartig, dass es plötzlich so viele Fotos gibt, die ihn wenig sympathisch aussehen lassen? Nach allen Beschreibungen war das vor 18 Jahren aber ganz anders! Oder: Er wäre schwarz, Araber oder ein Einzelgänger. Wäre Högel Außenseiter gewesen und unbeliebt, hätte sicherlich jemand die Polizei informiert oder es hätte Ausschluss-Verfahren gegeben. Er war aber beliebt, ein unkomplizierter, sportlicher, sympathischer Lockenkopf, gut gelaunt, echt locker, zudem fachlich ein Virtuose der Wiederbelebung, genoss die Achtung von Ärzten und PflegerInnen, trat sehr selbstbewusst auf, kurz: Er hatte Erfolg.
„Er war bei den Kollegen so geschätzt, dass er eine Halskette gebastelt bekam aus Braunülen, aus Venenkathetern, als Anerkennung dafür, dass er der Reanimationschampion in der Liga war.“
In der Hierarchie war Högel gut verortet, Herr über Leben und Tod zu sein, seine tatsächliche Erfahrung. Erleichtert wurden seine Taten durch weitere spezifische Situationsmerkmale, etwa die abgeschirmte Örtlichkeit der Intensivstation, wo er besonders nachts unbeobachtet war. Was er tat, war in der sozialen Situation alles andere als fremd: Es geht hier um Leben und Tod, gefürchtete Komplikationen, Herzstillstand, Wiederbelebung. Medikamente und Spritzen sind Tatwerkzeuge, die alltäglicher gar nicht sein könnten.
Schwer zu beantworten ist nach den bisherigen Aussagen, wie sein Verhältnis zu den PatientInnen war. Es ist bekannt, dass auch in der häuslichen Pflege und in Altenheimen Misshandlungen nicht selten sind, oft das Ergebnis von Machtkämpfen zwischen den Pflegekräften, die ihren geforderten Altruismus ausgenutzt sehen und fordernden PatientInnen. Konfrontationen und Misstrauen können sich hier allerdings über längere Zeiten aufbauen, mir scheint bei Högel solch eine Dynamik nicht zu existieren. Eher dürfte die Ent-Personalisierung der PatientInnen eine Rolle spielen; diese sind austauschbare „Fälle“, schon in normalen Krankenhäusern gerne durch die Zimmernummer hinreichend charakterisiert, früher gerne auch „die Leber aus der 13“. Abstraktionsprozesse kennzeichnen den Klinik-Alltag und machen vieles erträglicher; „Professionalisierung“ bedeutet nicht zuletzt das, eine Ent-Identifizierung.
„Er arbeitete umsichtig und gewissenhaft“
Als die Verdachtsmomente 2001 unabweisbar wurden, lobte das Klinikum Oldenburg ihn weg, mit einem Aufhebungsvertrag. Im Zeugnis stand: „Er arbeitete umsichtig und gewissenhaft. […] In kritischen Situationen handelte er überlegt und sachlich richtig.“ Eine ausgezeichnete Sendung des Deutschlandfunks hat diese heute zynisch klingende Passage als Titel gewählt; vielleicht ist sie aber nicht nur entlarvend, sondern hilft zu verstehen, was da geschah? Konnte in dem Zeugnis etwas anderes stehen, wenn man nicht zur Polizei gehen wollte? Zum automatischen Schreiben gehört natürlich auch die Aussage, die „übertragenen Aufgaben“ habe er zur „vollsten Zufriedenheit“ erledigt; er sei auf Grund „seiner Einsatzbereitschaft und seines kooperativen Verhaltens […] im Mitarbeiterkreis und bei Vorgesetzten beliebt und geschätzt“ gewesen. Man wünscht ihm für den weiteren Lebensweg…
In einem NWZ-Interview sagt der Geschäftsführer des Klinikums Oldenburg, Tenzer: „Grundsätzlich hat natürlich das Arbeitszeugnis nichts mit seinen mutmaßlichen Taten zu tun. Wir haben damals ein normales Arbeitszeugnis ausgestellt für ihn, etwas anderes durften wir auch gar nicht ausstellen. Es gibt sehr harte Regeln in Deutschland, in denen höchstrichterlich entschieden ist, was in Arbeitszeugnissen stehen darf. Wir hatten hier im Haus keine hieb- und stichfesten Beweise gegen Herrn H., und Vermutungen sind in Arbeitszeugnissen nicht statthaft.“ In seinem Fall ist das sicherlich Selbst-Entschuldigung, es ist aber auch wahr! Man könnte auch sagen, die Informationen des Zeugnisses sind von jeder Realität gelöst, bilden eine Fake Reality, mit der aber alle gut leben und die sogar das Interesse an Lob, Wertschätzung, Respekt und wie die Zauberformeln lauten, befriedigt. Selbstbetrug en gros et en detail! Wer solche Zeugnisse kennt, weiß wie oft solche Formulierungen benutzt werden, auch wenn die Wahrheit eine andere ist, man will ja keinen Skandal. Im Zweifelsfall kommt sonst das Schreiben eines Anwalts, und die ArbeitgeberInnen einigen sich mit diesem auf eine bessere Note, um öffentliches Aufsehen und Kosten zu vermeiden. Die Verrechtlichung von Arbeitsbeziehungen kann sogar so weit gehen, dass ein frei formuliertes Lob unerwünscht ist: Ein Chef will ausdrücken, dass die Beschäftigte weit über die bürokratische Routine hinaus fähig, kenntnisreich und engagiert ist und berichtet im Zeugnis detailliert. Das Ergebnis: er wird um ein Zeugnis gebeten, das die üblichen, abgegriffenen Formeln verwendet, alles andere könnte den Argwohn künftiger ArbeitgeberInnen hervorrufen und auch den Zeugnis-Geber als „unprofessionell“ erscheinen lassen. Die „Kriterien“ sind nicht erfüllt; eine Vergleichbarkeit nicht gegeben … So funktioniert Bürokratie!
Wie in jeder Organisation also auch im Krankenhaus
Organisationen suchen Fehler auch eher außerhalb, Krankenhäuser also beim Patienten. Diese waren eben multimorbide. Das eigene Verhalten wird in „Leitbildern“ geschönt. Wenn Heilung gelingt, ist das der Erfolg der Ärzte und PflegerInnen, wo sie misslingt, war nichts zu machen. In Rechnung stellen muss man auch die Selbst-Bindung durch die frühere Festlegung, Niels H. sei ein guter Kollege, ein fähiger und lobenswerter Pfleger. Solche Urteile werden nur ungern und selten später korrigiert, und dann mit der Schuldzuweisung „Wie perfide wurden wir getäuscht!“; die (Selbst-) Täuschung ist aber Teil der Strukturen. Seit Jahren beschäftigt sich Karl H. Beine, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie in Hamm und Professor an der Uni Witten/Herdecke, mit PatientInnentötungen.
Klinik-Morde sind also nichts Seltenes?
Beine: „Es ist wahrscheinlich so, dass es mehr als die neun aufgeklärten Tötungsserien im deutschsprachigen Raum und die knapp 40 weltweit bekannt gewordenen Taten gibt, die ich seit 1976 verfolgt habe. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich höher als bei Tötungsdelikten im Allgemeinen. Da kommen auf einen entdeckten Mord zwei bis drei unentdeckte. In den Kliniken ist sie wahrscheinlich schon deshalb höher, weil es – zynisch formuliert – keinen idealeren Tatort gibt. In Krankenhäusern wird auch unter natürlichen Umständen gestorben. Und die Handlungen der Täter sehen bei oberflächlicher Betrachtung erst mal aus wie normale medizinische Verrichtungen.“ (NWZ-Interview mit dem Psychiater Prof. Dr. Beine am 12.02.2015; ich teile allerdings nicht seine Erklärung, dass es immer Minderwertigkeitskomplexe sind, die den TäterInnen gemeinsam sind. Mir scheint das eine der geradezu medizinischen Diagnosen: Wenn Täter feststehen, findet man auch ein Minderwertigkeitsgefühl. So wie bildgebende Verfahren bei Knie- oder Rückenschmerzen dann eine „organische“ Beeinträchtigung zeigen. Die Frage ist auch, bei welchem Menschen/Täter kein Minderwertigkeitsgefühl, keine Selbstzweifel zu finden sind, wenn man lange genug sucht und die „Überkompensation“ in Rechnung stellt).
Beine weiter: „Es ist kein Zufall, dass die späteren Täter einen Beruf ergreifen, in dem sie es mit Patienten, Hilflosen, Schutzbefohlenen zu tun haben. Gesundheitsberufe sind mit einem sehr hohen Sozialprestige ausgestattet. Wenn jemand den Beruf aber ergreift, damit er sich im Glanze des Sozialprestiges sonnen kann, damit er davon profitieren kann für sein eigenes Ego, damit es ihm besser geht, dann kann er in einem solchen Bereich nur Schiffbruch erleiden. Weil die Patienten nicht durchgängig so nett und dankbar sind wie erhofft.“ Leider stimmt nicht, dass solche Personen nur „Schiffbruch“ erleiden können. Eher im Gegenteil, ihre Erfolgsaussichten sind groß! Und was für einen Ärztemangel würde es ergeben, wenn der Ego-Trip erfolgreich zu bekämpfen wäre?! Es gibt zahlreiche Regeln sozialer Beziehungen, die Täter geradezu schützen, wie Beine „eigentlich“ selbst feststellen muss: „Bei den Fällen, die ich untersucht habe, ist kein Täter jemals von einem Kollegen oder Vorgesetzten angesprochen worden. ‚Hör mal, ist was mit Dir? Das ist nicht in Ordnung, was Du machst!‘“ Das liegt nicht nur an Personalmangel oder Stress. Die Schwelle für „unkollegiales Verhalten“ ist hoch, alle Organisationen, nicht nur militärische, benötigen Solidarität, Vertrauen, und das führt schnell zu Kameraderie, die auch hinnimmt, was eigentlich schlecht ist, niemand will „das Kameradenschwein“ sein. Das führt dazu, dass im Fall des Falles „Aussage gegen Aussage“ steht und „Whistleblower“ ganz schnell zu „Denunzianten“ degradiert werden, sozial isoliert und sogar juristisch belangt, schließlich sind auch „Beweise“ oft mehrdeutig. Dementsprechend spalten sich Belegschaften in AnklägerInnen und VerteidigerInnen … Genau solche Konflikte will niemand, also ist Schweigen der absolute Normalfall. Außerdem sind es die normalen Rollenzuschreibungen, das Vertrauen in die Professionalität, die geradezu zu Hindernissen der Aufklärung werden, ganz so wie bei den Feuerwehrleuten, die Brände legen (dazu gibt es auch Untersuchungen, mehrmals im Jahr wird so etwas entdeckt, und auch wenn die Feuerwehren ebenfalls ein anderes Selbstverständnis pflegen, ist das Bewusstsein der Gefährdungen hier ausgeprägter als bei der Medizin, sicherlich weil das Sozialprestige der Feuerwehr geringer ist). Oder denken wir an Wissenschaftsbetrug, Wissenschaftler, die Daten fälschen (nicht gerade Seltenheiten!). Sie sind durch „positive Vorurteile“ meist lange geschützt.
„Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“ (Georg Büchner: Dantons Tod)
Man mag den Beteiligten zugutehalten, dass sie nicht glauben mochten, was doch so „evidenzbasiert“ zu sehen war. Dabei lieben die Beteiligten sonst, was „statistisch signifikant“ ist. Der Betriebsrat des Klinikums wandte ein, die Todesfälle in den Dienstzeiten von Niels Högel könnten Zufall sein. Schließlich ist schon mit der Einstellung ein Vertrauensvorschuss verbunden, und niemand will sich die falsche Personalentscheidung vorhalten lassen.
Im Falle Högels ist übrigens wahrscheinlich, dass er den Beruf nicht etwa wegen „pathologischer“ Hintergründe ergriffen hat, sondern aus einerseits einer typischen Ratlosigkeit der Berufswahl gegenüber (in seiner Heimatstadt Wilhelmshaven dürfte 1994 die Auswahl recht beschränkt gewesen sein) und der positiv erlebten Familientradition andererseits: Schon sein Vater ist Krankenpfleger, ebenso eine Großmutter, beide helfend, zugewandt, anerkannt, von dem Sinn ihres Berufs überzeugt, wo findet man das noch? Es geht mir keineswegs darum, die Frage nach der Persönlichkeit des Täters abzuwehren, natürlich müssen besondere Situationen und Motive ihn zu diesen Ausnahme-Taten bewegt haben. Aber welche? Und sind sie nicht sehr tief in den Strukturen und den sozialen Situationen der Kliniken (und auch anderenorts!) geradezu angelegt, und nicht so sehr in der Einzelbiographie? Er arbeitet auch in Wilhelmshaven als Krankenpfleger und als Rettungsassistent, soweit wir bisher wissen, engagiert und ohne Verdachtsmomente. Wegen seines „Potentials“ rät sein Chef dem ehrgeizigen jungen Mann, sich an eine größere Klinik zu bewerben, es wird die herzchirurgische Intensivstation am Klinikum Oldenburg, wo der Ehrgeiz des Pflegers und der Ehrgeiz einer neu aufgebauten Renommier-Abteilung sich ergänzten. Hier ist dann etwas passiert, das sich sicher aus ineinandergreifenden Motiven des Einzelnen und den Strukturen des „Feldes“ erahnen lässt. Medikamentenmissbrauch (Opiate) kam schnell hinzu, diese waren ja verfügbar – auch dies ein wenig diskutiertes Problem der helfenden Berufe. Die Suchtpotentiale sind durch die Belastungen hoch – und die Suchtstoffe verfügbar. Die Mordserie beginnt ein halbes Jahr nach dem Wechsel nach Oldenburg.
Grundlage des Geschehenen ist letztlich das enorme Machtgefälle zwischen der totalen Institution Krankenhaus und hilflosen, geschwächten, isolierten PatientInnen, an Interventionen ohne Begründung gewöhnt, ganz besonders auf der Intensivstation, wo sie von Kabeln und Apparaten umgeben sind, narkotisiert, oft sogar im künstlichen Koma.
Klassenjustiz
Klassenjustiz muss man es nennen, wenn die Staatsanwaltschaft Oldenburg sich lange weigert, zu ermitteln, wenn Angehörige abgewimmelt werden oder Exhumierungen zum Nachweis der Taten abgelehnt werden. Auch hier: Der Wille zum Nicht-Wissen! Angst vor „Negativ-Presse“ haben heute alle Organisationen, die immer bemüht sind, nur ihre Botschaften als „Öffentlichkeitsarbeit“ unterzubringen und nur Erfolge zu „kommunizieren“, übrigens auch intern, das soll die Motivation der MitarbeiterInnen stärken. 2005 wurden die Morde entdeckt, der Prozess gegen KlinikmitarbeiterInnen und Geschäftsführung soll demnächst, also nach 14 Jahren, beginnen. Niels Högels Aussagen können einige Personen, aber auch ein System belasten, die ökonomisierte, betriebswirtschaftlich optimierte Intensivmedizin. Wie immer er sich einlässt, es kann als Entschuldigungs- und Verteidigungsstrategie gelten. Man darf sogar fragen, ob er sich selbst gegenüber ehrlich über seine Motive reflektieren kann. Er hat bisher gelogen oder sich selektiv erinnert, wird er nun aber aussagen? Die vielleicht wichtigste Frage nach seiner ersten Tat, die Aufschluss geben kann wie alles anfing, welchen Auslöser es gab, hat er jedenfalls auch am 21. November nicht beantworten wollen oder können.
Einen Todesfall leugnete Högel vehement, obwohl die Patientin an dem Medikament Ajmalin verstorben ist, das Högel benutzte. Er deutete an, selbstverständlich nachdem er versichert hatte, niemanden beschuldigen zu wollen, dass eine Kollegin getötet haben könnte, denn diese hatte den Ruf „sich um bestimmte Patienten zu kümmern“ (HAZ 22.11.2018). Eine Sprache, wie sie Victor Klemperers „LTI“ oder Orwells „Newspeak“ kennen! Niemand richtet sich gegen das Wohl der PatientInnen, wenn man „sich kümmert“ – und niemand wird eine Kollegin beschuldigen!
Wie immer bei solchen Taten bleibt manches unaufgeklärt und Ratlosigkeit. Aber soziale Situationen, die solche Taten fördern, lassen sich benennen und verändern; sie sind auch nicht nur in Kliniken zu finden: Autorität, Konformismus, bürokratische Unverantwortlichkeit, Karrierismus, betriebswirtschaftliche Optimierung und Schönfärberei – und mangelnde Kontrolle.
Johann Bauer
Unbedingt hören:
Ebenfalls lehrreich:
http://live.nwzonline.de/Article/874900-Krankenhaus-Morde-Warum-stoppte-niemand-Niels-H
www.spiegel.de/spiegel/oldenburg-niels-hoegel-der-jahrhundertmoerder-a-1202755.html
Weidner, F; Tucman, D.; Jacobs, P. (2017): Gewalt in der Pflege. Erfahrungen und Einschätzungen von Pflegefachpersonen und Schülern der Pflegeberufe. Herausgeber: Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (DIP), Köln. Online verfügbar unter www.dip.de/materialien
Dies ist ein Beitrag aus der monatlich erscheinenden Druckausgabe der GWR. Schnupperabos zum Kennenlernen gibt es hier